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Das Hörbuch ganz bei sich

Peter Kurzecks Roman "Ein Sommer, der bleibt" gibt es ausschließlich als Hörbuch, weil es nie geschrieben worden ist. Kurzeck hat vielmehr über das Dorf seiner Kindheit frei erzählt und das wurde dann auf CD gepresst. Nach Ansicht des Literatur-Experten Hubert Winkels ist das Werk nicht nur eine artistische Meisterleistung, es funktioniert auch als Literatur.

Moderation: Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: Das Prinzip Hörbuch funktioniert in der Regel so: Ein Verlag möchte sich nicht darauf verlassen, dass seine Bücher tatsächlich auch gelesen werden, also produziert er noch eine akustische Fassung auf CD und sucht sich dafür einen möglichst bekannten Schauspieler mit möglichst markanter Stimme, der gern noch was dazuverdient, zurzeit vorzugsweise Otto Sander, Katharina Thalbach oder Rufus Beck. Die lesen dann die Bücher eins zu eins vor, Autoren tun das in der Regel nicht, denn wer gut schreibt, kann nicht immer auch gut lesen. Wer schon mal die eine oder andere Autorenlesung miterlebt hat, weiß das. Nun gibt es in diesem Herbst im Berliner Supposé Verlag ein Hörbuch, das klingt anders:

    "Es gab seit Jahrhunderten keine Kirche im Dorf, es war ein Dorf, das man nur über Feldwege, über ein paar unverdrossene Feldwege und eine mürrische Schotterstraße erreichen konnte, eh und je. Und weil das Dorf auf einem Berg liegt, auf einem Basaltfelsen, führte auch die Landstraße, die Chaussee, nicht durch das Dorf, sondern um den Berg herum, und genauso war es dann mit der Eisenbahn, und natürlich auch mit dem Fluss, der Lahn, die in einem Tal in der Nähe vorbeifloss, die man sehen konnte vom Dorf aus, aber die sehr viel tiefer im Land ihr Flussbett hatte."

    Koldehoff: Dieses Hörbuch, aus dem wir gerade einen kurzen Ausschnitt gehört haben, gibt es nicht gedruckt, sondern nur in der Hörfassung. "Ein Sommer, der bleibt", heißt es, und geschrieben hat es der Autor Peter Kurzeck. Hubert Winkels, Literaturredakteur im Deutschlandfunk, ist "geschrieben" überhaupt richtig? Existiert dieses Werk in einer Schriftform, oder nur gesprochen?

    Hubert Winkels: Da sehen Sie schon, wie schwierig es ist, diese neue Form gebührend auszudrücken, weil man immer in die alte Terminologie fällt. Tatsächlich haben wir es mit einem Hörbuch zu tun, mit einer Scheibe, auf die ein mündliches Sprechereignis aufgezeichnet worden ist, zu dem es keine schriftliche Vorgabe gab, nicht einmal Notizen. Das heißt, ein Autor, in dem Fall Peter Kurzeck, hat frei - mit der kleinen Einschränkung eines ihn animierenden Gesprächspartners - den Roman eines Dorfes, seines Herkunftsdorfes, erzählt, fünf Stunden lang. Vier Scheiben à 75 Minuten frei gesprochen, natürlich nachher schon geschnitten, aber in einer solchen Formulierungsschönheit und -genauigkeit, dass man es nicht glauben mag, dass es nicht schriftlich vorformuliert war, aber so ist es.

    Koldehoff: Ich frage deshalb auch noch mal nach. Wenn schon nicht komplizierte Kompositionsskizzen wie etwa bei Günter Grass oder Zettelkästen wie bei anderen Autoren - die Idee muss doch wenigstens dagewesen sein! Das ist mein Thema und das ist der Bogen, den ich spannen will. Irgendwas muss er doch gehabt haben?

    Winkels: Ja, tatsächlich ging diese Idee vom Verleger aus, Klaus Sander, der hat den kleinen Hörbuchverlag, wenn wir das Wort jetzt benutzen, der bis vor Kurzem in Köln ansässig war, jetzt nach Berlin gegangen ist und eine Reihe von 30 Hör-CDs schon gemacht hat, meistens mit Wissenschaftlern. Und das Konzept des Supposé Verlages war - deshalb muss man seine originäre Produktionsleistung wirklich betonen - meistens, Wissenschaftlern in Gesprächen Fragen zu stellen, die sie dazu führen, die sokratische Methode, das, was sie denken, ansonsten in Büchern oder in Vorlesungen niederlegen, in einem Gespräch mit jemand anderem frei zu entwickeln. Dann werden diese wenigen Fragen weggeschnitten und am Ende hat man dann eine freie Erzählung über Theorie von Jean Baudrillard, von Friedrich Kittler oder von einem Atomphysiker. Damit hat der Verlag eine lange Tradition und als der Verleger dann irgendwann mit Peter Kurzeck zu tun hatte, ist ihm aufgefallen, wie lange und wunderbar er in einem Café den gesamten Tisch unterhalten konnte mit Geschichten aus seiner eigenen Vergangenheit - dafür ist er allerdings auch als schreibender Autor bekannt -, und hatte zum ersten Mal die Idee, man könnte es ja mit einem Schriftsteller probieren, was wir bisher mit Wissenschaftlern gemacht haben, und hat sich zu mehreren Sitzungen mit ihm getroffen. Zu diesem Zeitpunkt war überhaupt nicht klar, worüber er erzählen sollte. Da Peter Kurzeck aber in ungefähr zwölf Büchern immer nur über seine eigene Lebensgeschichte erzählt hat und er will zehn Bände insgesamt nur über seine Frankfurter Zeit schreiben, hat sich nach und nach allein der Ort seiner Herkunft in den Jahren 1947, 1948 als Zentrum herausgemendelt, so dass es jetzt eine Art Schichtenprodukt ist, wo im Zeitraum von zwei Jahren ein kleines Dorf, Stauffenberg im Hessischen, beschrieben wird, und zwar das Dorf ist der Held, nicht die Figur dieses Dorfes. Und im Ende geht es sogar immer nur um einen Sommer, es ist nicht ganz klar, es könnte 1947, 1948 sein, und es endet dann auch ganz wunderbar mit dem Dreschen, also mit dem Einholen der Ernte, der Sommer geht vorbei und am Ende dieser fünf Stunden hat man das Gefühl, eigentlich Zeuge eines langen, langen Sommertages gewesen zu sein.

    Koldehoff: Jetzt sprechen wir schon nicht mehr von "Buch", jetzt sprechen wir von "Werk". Ist es ein gelungenes Werk? Funktioniert das? Gibt es tatsächlich Spannung über diese vier CDs?

    Winkels: Ja. Es ist ein ausgesprochen gelungenes Werk. Man könnte jetzt sagen, es ist wie im Zirkus, eine artistische Meisterleistung sondergleichen, dass sich jemand frei redend so erinnert, auch an die Namen des Apothekers aus dem Nachbarort und dessen Frau und dessen Hund! Es ist unglaublich, was für ein Gedächtnisarchiv Herr Kurzeck hat. Allein das wäre schon Bewunderung genug, für diese Form der artistischen Leistung, aber was jetzt dazu kommt, ist, dass er wunderbar formuliert und dass es auch als, quasi, gehörtes "Buch", als Literatur sozusagen, auch funktioniert. Es ist der Versuch, die Zeit stillzustellen, die Zeit rauszunehmen aus einer Szene, deshalb dieser hohe Sommer, dieser eine Tag als Grundgefühl, das ist ja ein altes, antikes Motiv, die Zeit des Pan, diese eine glückliche Zeit. Und dies zu vermitteln, so zu vermitteln, dass der Hörer selber in eine fast meditative, schöne, sommerliche, gleitende Zeitbewusstheit hineingerät, das gelingt zudem noch, zu allem anderen, was an dieser Produktion besonders ist. Und insofern ist es sowohl von der traditionellen künstlerischen Qualitätsfrage her besonders, aber eben auch medial und gattungsmäßig etwas völlig Neues.

    Koldehoff: Weil es nämlich ein Hörbuch ist, das wirklich mal eins ist. Peter Kurzecks Roman, Hörwerk, bei Supposé erschienen: "Ein Sommer, der bleibt". Hubert Winkels war das, vielen Dank!

    Info:

    Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit (Audio CD) 2007 supposé Berlin, ISBN 978-3-932513-85-5, LC 10439