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Das Hohe C im Matrosenanzug

Das Leben eines Wiener Sängerknaben ist kein Honigschlecken: Selbstdisziplin ist oberstes Gebot, will man die ausgedehnten Konzertreisen in Europa, Asien und Amerika sowie das Schulpensum samt Chorproben unter einen Hut bringen. Das funktioniert nur dank privatem Schulwesen und präzise geplantem Internatsleben im barocken Augartenpalais mit Sportplatz und Schwimmhalle. Immerhin erwirtschaftet das Unternehmen "Wiener Sängerknaben" 80 Prozent seines Budgets selbst und reiht sich als österreichischer Imageträger gleich hinter Lipizzanern und Mozartkugeln ein.

Mit Reportagen vom Antonia Kreppel; Redakteur am Mikrophon: Thilo Kößler |
    Hinweis: Diese Ausgabe von "Gesichter Europas" ist eine Wiederholung vom 2. Juni 2007.

    Das Klagelied, dass die Musikausbildung an den Schulen auf dem letzten Loch pfeife, ist nicht mehr zu überhören. Tatsächlich scheint sich die musikalische Kompetenz vieler Kinder heute auf das Zusammenstellen von Handy-Klingeltönen zu reduzieren. Tatsächlich spielt Musik in den europäischen Bildungssystemen oft nur die zweite, wenn nicht gar die dritte Geige - und beim Thema Singen bleibt der Allgemeinheit schon lange die Stimme weg.

    Es geht auch anders, wie das Beispiel der Wiener Sängerknaben zeigt - im entgegengesetzten Extrem der musikalischen Erfolgsskala: Unter Berufung auf die 500-jährige Tradition der Wiener Hofmusik setzen sie bis heute einen musikalischen Kontrapunkt - trotz aller Krisen und Querelen haben sich die Wiener Sängerknaben den Ruf eines Musikinternats der Extraklasse bewahrt, das immer noch internationale Standards setzt. Dabei sind sie längst auch zur Handelsmarke geworden: Die Wiener Sängerknaben gelten neben Mozartkugeln und Lipizzanern als Österreichs Imageträger Nummer eins.

    Der Blick hinter die Kulissen zeigt: Der hohe Anspruch hat seinen Preis. Das Leben eines Wiener Sängerknaben ist kein Honigschlecken. Selbstdisziplin ist oberstes Gebot, wenn das normale Schulpensum mit den musikalischen Ansprüchen in Einklang gebracht werden soll.

    Ein Blick in das schmucke Barock-Palais im Augarten des zweiten Wiener Gemeindebezirks: Hier residieren die Wiener Sängerknaben, hier befinden sich der Musiktrakt, das Gymnasium, das Internat für die 100 Jungen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, hier wird geprobt und gepaukt, gelebt und manchmal wohl auch gelitten.


    (K)ein Idyll im Augarten
    Einblicke in den Alltag der Wiener Sängerknaben

    Ein Uhr; Mittagszeit. Der Speisesaal im Internatstrakt füllt sich langsam. Der Neubau ist durch eine Art Glasbrücke ist er mit dem alten Palais verbunden.
    Auf dem Geschirrwagen stehen Terrinen mit Rindersuppe. Am Buffet gibt es Huhn vom Vortag, als leckerer Salat zubereitet. Das Mittagessen ist die große Zäsur im Alltagsleben eines Sängerknaben. Denn danach sind neunzig Minuten Freizeit angesagt. Manche ziehen sich auf ihr Zimmer zurück: moderne Dreibettzimmer mit eigener Nasszelle. Vor vier Jahren wurde der Schlaftrakt renoviert. Ein kurzer Blick in das private Reich dreier Sängerknaben wird gestattet: Auf dem Sofa liegen zwei E-Gitarren, auf dem Bett eine Geige und ein Roman von George Orwell. Auch dort darf - wie überall im Haus - der habsburgisch-katholischen Tradition gemäß ein Kruzifix nicht fehlen. An der Türe hängt ein Poster mit nackten Frauenbeinen.

    Das liebste Freizeitvergnügen jedoch ist:
    " Fußball, Fußball, Fußball! "

    Zwei große Sportplätze stehen zur Verfügung. Der zwölfjährige Clemens vom Mozartchor spielt, wenn möglich, jeden Tag. Heute steht er im Tor.

    " Manchmal ist ein Match und da spielen dann die Chöre gegeneinander, aber sonst ist aber nur herumpassen oder Training. Wenn ich einen Muskelkater hab und ich kann nicht Fußballspielen, dann schau ich zu oder mach irgendwas für die Schule. "

    Einige Meter entfernt, auf dem zweiten Fußballfeld, kickt Kapellmeister Andy Icochea Icochea in perfektem Fußball-Dress, die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

    " Es wurde mir gesagt, dass heute eine kleine Turnier bei den Kindern initiiert war und ich wurde eingeladen dazu und bin hierher gekommen um zu spielen, was ich gerne mache. Der Herr Tobias hat das organisiert mit zwei anderen.

    Es konnten sich die wollten anmelden und dann haben sich erstaunlich viele gemeldet und dann kam das Tournier auch zustande. "

    Chöre in Lima und Princeton hat der Peruaner mit dem markanten Profil geleitet; den Schubertchor betreut er seit zwei Jahren.

    " Jede Sport ist sehr gut; weil für Singen man braucht eine sehr gute körperliche Zustand, das ist klar. Auf Tournee wir spielen Fußball jeden Tag wir können. Jedes Mal wenn wir einen freien Tag haben wir spielen Fußball auf irgendeinem Feld in einem fremden Land. Das ist ganz lustig. "

    Für sportliche Aktivitäten ist das Internat der Wiener Sängerknaben bestens ausgerüstet: Kletterwand, Tischtennisplatten, ein Hartplatz für Rollerblading und Skating sowie ein Schwimmbad stehen zur Verfügung. Auch einen Computerraum gibt es, und eine Bibliothek. Der zehnjährige Eleve Dominik ist begeistert:

    " Am Montag spielen wir Fußball, am Dienstag Ball über die Schnur, am Mittwoch Hockey und am Donnerstag so eine Art Gerüstfangen. Und nach dem gehen wir schwimmen. Das Schwimmen ist von 7-8 meistens. Nur leider darf ich nicht schwimmen weil ich dann sofort heiser wird. "

    Übrigens ist laut Hausordnung "Schreien" verboten. Der Stimme muss auch die Freizeit untergeordnet werden, und die ist knapp bemessen. Nach dem Nachmittagsunterricht plus Lernzeiten bleiben nach dem Abendessen noch zweieinhalb Stunden Zeit bis zur Bettruhe um 21Uhr 30. Ein normales Teenagerleben mit Kinobesuch, Popkonzert und Disco ist so kaum möglich. Zudem darf das Internat nur mit Zustimmung oder in Begleitung eines Erziehers verlassen werden. Nur ein "langes Wochenende" gibt es pro Monat; sonst sind auch Samstags, Sonntags die Terminkalender voll mit Konzertauftritten, Pflichtterminen in der Hofburgkapelle und bei Staatsfeiern.

    Während draußen das Fußballmatch tobt, müssen Wolfgang, Oskar und Moritz in ihrer kostbaren Freizeit ein Interview geben. Alles Routine. Selbstdisziplin braucht ein Wiener Sängerknabe, meint Wolfgang mit ungerührter Miene.

    " Am Wochenende kann man sich auch nur selten ausruhen weil man dann für die Schularbeiten und die Tests üben muss nachdem wir ja insgesamt 3oder 4 Monate auf Tournee sind, müssen wir das ganze in der Hälfte der Schulzeit erledigen. Von halb acht bis sechs haben wir Schule, also ist schon anstrengend. "

    Und wie steht es mit der Liebe? An kreischende japanische Mädchen mit Autogrammwünschen hat man sich inzwischen gewöhnt. Wolfgang und Oskar sehen die Kontaktaufnahme zu Mädchen ziemlich nüchtern.

    Oskar: " Ja man kann sie halt ziemlich selten treffen, weil man hat nie Zeit. Nur an Sonntagen meistens, und meistens können die dann nicht, weil sie lernen müssen und so geht's sich nie aus. "
    Wolfgang: " Mädchen sind eigentlich in der Volksschule und ab dem Gymnasium gibt's nur noch Burschen. Aber momentan also hab ich keine Freundin, nein, nein. "

    Der zwölfjährige Moritz rutscht ein bisschen unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

    " Na ja, ich bin auch schon alt. Aber, es ist wirklich anstrengend hier. Am Wochenende müssen wir lernen, weil wir haben ja voll Schulstress. Also ich find man kann wirklich nicht gescheit Kontakt aufnehmen, so richtig. Es kommt aber später, nach der vierten. "

    Nach der vierten Klasse, will heißen nach dem Stimmbruch, wird Moritz wie die anderen auch das altehrwürdige Institut verlassen müssen und eine ganz normale Schule besuchen. Mit dem "Himmelsklang" im Dienste der Tradition ist es dann vorbei. Dann kann er sich "draußen" nach Lust und Laune ein Tattoo oder ein Piercing zulegen; sich in Computer- und Videoorgien stürzen , in Discos abtanzen, sich neue Freunde suchen; vielleicht ein ganz normaler Junge werden.


    Ob im Aufzug, im Supermarkt oder an der Tankstelle: Überall rieselt Musik aus Lautsprechern - um die aktive Musikalität ist es aber immer schlechter bestellt. Wer Musik nur konsumiert statt sie zu praktizieren, bringt sich um viele Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung, sagen Experten. Anders gesagt: Mozart macht schlau. Musik macht glücklich - befand schon Adelbert von Chamisso.

    Mozart komponierte und arbeitete für die Sängerknaben am kaiserlichen Hofe zu Wien, Anton Bruckner ebenso; Franz Schubert war selbst Sängerknabe, bis ihn der Stimmbruch ereilte - "Schubert Franz zum letzten Mal gekräht am 26. Juli 1812", notierte er in seinem Tagebuch. Josef Haydn sang bis 18 mit, dann war's auch bei ihm mit dem Sopran vorbei - bis heute markiert der Stimmbruch das definitive Ende jeder Sängerknabenkarriere im Wiener Augarten.

    Es ist eine stolze Geschichte, auf die die Wiener Sängerknaben ihr Selbstbewusstsein gründen - fast bruchlos führt sie durch die Jahrhunderte, seit Kaiser Maximilian I. anno 1498 anordnete, dass mit dem Umzug des Hofes von Innsbruck nach Wien künftig auch sechs Knaben in der kaiserlichen Hofmusikkapelle anzustellen seien. Die Hofsängerknaben überstanden Pestepidemien, Türkenkriege und die gelegentliche Ignoranz ihrer gekrönten Häupter. Doch mit dem Ende des ersten Weltkriegs wäre es fast um sie geschehen - mit dem Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie mussten auch die Hofsängerknaben ihren Dienst quittieren. Es ist der privaten Initiative eines Direktors der Burgkapelle zu verdanken - Josef Schnitt hieß er -, dass diese Tradition doch nicht unterging: Er gründete 1926 einen Verein, der sich Wiener Sängerknaben nannte - und der schaltet und waltet bis heute.

    Und muss sich dabei um die Zukunft sorgen. Lange war es um den Nachwuchs schlecht bestellt - über die Gründe wird noch zu reden sein. Nach Jahren rückläufiger Bewerberzahlen setzt das Management der Wiener Sängerknaben heute auf gezielte Nachwuchsförderung und denkt über ein europäisches Kompetenzzentrum für Gesang und Musikpädagogik nach. Seit 2001 gibt es eine Chorschule, zu der auch Mädchen zugelassen sind - allerdings ohne die geringste Chance, jemals beim berühmten Knabenchor mitsingen zu dürfen.

    Die Eleven sitzen in der vierten Klasse der eigenen Volksschule - und der jüngste Nachwuchs wird seit 1997 in einem Kindergarten gefördert, der sich ganz der gezielten musikalischen Früherziehung widmet.



    Früh übt sich
    Die Nachwuchsförderung im Kindergarten der Wiener Sängerknaben
    Neun kleine Kinder stehen im Kreis und zappeln; werfen die Arme in die Luft, schütteln die Beine, schneiden Grimassen; machen sich locker für die Musikstunde mit Luise:

    Musikpädagogin Luise Gündel ist ein Temperamentsbündel: mollig, verführerisch, mit viel Talent zur Komik. Mitgebracht hat sie zwei Hände und Füße aus Plastik, eine Kinderhose und einen ausgeschnittenen Mund; Spielmaterial, das sie auf vier Ecken verteilt: Im Fuß-Eck wird gestampft, im Hände-Eck geklatscht, im Hosen-Eck auf die Schenkel geklopft, im Mund-Eck mit Vokalen sing-gespielt. Dazwischen wird spazieren gegangen, alles im Rhythmus, versteht sich.

    " Die Kinder müssen sich bewegen. Sowohl die Rhythmik als auch die Spiele die wir machen, sollen einfach das Zusammenleben sowohl im Kindergarten als auch im Normalen fördern. Dass das Soziale auch geschult wird, weil wunderschön singende Kinder, die aber mit niemandem spielen wollen oder mit denen niemand spielen will, die hervorragende Musiker sind, aber sonst sozial ein Defizit vorweisen, bringt uns ja auch nix. Sehr viel Orff-Instrumentarium haben wir dabei. "

    Und so begrüßt das Stampfen das Klatschen, will heißen Hannah tanzt mit Nicki.
    Die fünfjährige Hannah mit ihrem roten Haar und den feinen Gesichtszügen spielt gern den Clown. Sie wohnt in Wien.

    " Na ja wir sind da hingereist. Meine Mutter, ich weiß nicht wo meine Mutter herkommt, aber mein Papa kommt aus Amerika. Und ich spiel die kleine Raupe Nimmersatt auf der Geige. "

    Nikolaus tanzt gelassen und lächelt unentwegt.

    " Mein Papa kommt aus Gambia und meine Mama kommt aus Österreich. "

    Hier in der "Wiege" der Wiener Sängerknaben kommen die Kinder aus allen Kontinenten. Die studierte Gesangspädagogin Luise Gündel ist in Düsseldorf geboren. Das dritte Jahr arbeitet sie nun bei den Wiener Sängerknaben.

    " Der Ruf erging, und hier bin ich nun. Also wenn mich Studienkollegen, die Kinder bekommen, langsam fragen, ja wie ist das denn, wir mögen ja gerne Musik, aber ist das da bei dir sehr streng? Da kann ich immer nur so: Glaubst du dass ich das überhaupt kann? "

    Luises volle Lippen formen lustige Vokale. Die Kleinen kuscheln sich immer wieder dicht an ihre Musiklehrerin.

    " Vor allem ist es ja doch so, dass die Hirnforschung festgestellt hat, dass Musik und Emotionalität ganz eng verknüpft ist. Ich glaub nur über eine persönliche Beziehung kann Pädagogik überhaupt erfolgen. Und wir wollen ja, dass die Kinder einfach mit einem positiven Gefühl musizieren und dass es Freude macht - ob sie Sängerknaben werden oder nicht. "

    Bernhard: " Ich mag kein Sängerknabe werden. Meine Mama hat gesagt, da fliegen wir mit dem Flugzeug weg. "

    Der vierjährige Bernhard hat Angst vor dem Fliegen.
    Hannah:" Denk einmal an die Freizeit, eine kurze Freizeit. "

    Hannah weiß Bescheid; ihr Bruder ist schon Sängerknabe. Sie allerdings darf kein "Wiener Sängermädchen" werden. Immer noch ist dieser Status den "Knaben" vorbehalten. Allerdings erfahren hier Mädchen und Buben die gleiche musikalische Grundausbildung.

    " Da gibt's bei einigen Mädchen öfters Tränen; man merkt prinzipiell, dass die Mädchen wesentlich motivierter bei der Sache sind, viel mehr Freude am Ausdruck haben. "

    Nach dem Spielen und Tanzen und sind die Kinder jetzt vorbereitet für die richtige Gesangsprobe. Was eigentlich ist der Unterschied zwischen einer Knaben - und einer Mädchenstimme? Luise Gündel:

    " Es wurde ja lange behauptet, es gibt ganz große Unterschiede und man hört das sehr klar. In früheren Zeiten mag das auch manchmal gewesen sein, weil man ja wirklich nur die Stars an Knaben gehört hat. Ich glaub, das hat man auch gehört, dass manche von den Mädchen durchaus schönes Potential haben. "

    " Man kann's ja dann zwischenzeitlich mischen. Ich glaub schon dass das eine Möglichkeit wäre, das einfach zu ergänzen. Ich finde das schön. Darf ich so was überhaupt sagen? "

    Hannah singt mit zarter Hingabe, mit leicht belegter Stimme, noch nicht zum perfekten Klang geformt. Luise Gündel:

    " Ich glaub, das kommt dem späteren musizieren sehr zugute, dass sie einfach auch Stimmungen musizieren können. Wir wollen nicht nur schön gesungen, sondern wir wollen ja dadurch berührt werden, und dass die Kinder einfach dann Phantasie und Musikalität die sie ja haben, einbringen können und einfach durch die Stimme transportieren können. "



    Hinter den Toren des Augartenpalais war die Stimmung in den letzten Jahren manchmal gar nicht himmlisch: Dort ging es mitunter ziemlich unterirdisch zu. Zunächst musste 1996 ein künstlerischer Direktor gehen, der als Despot in Verruf geraten war. Die Wiener Sängerknaben gerieten in die Schlagzeilen: Hinter der heiteren Palais-Fassade herrsche Kasernendrill, hieß es, die Sängerknaben seien dressiert, sozial deformiert und mit den vielen Konzerten völlig überfordert. Vom "Chor der Gequälten" sprach das Magazin Profil. Eiligst wurde eine Nachfolgerin bestellt, die ans Eingemachte gehen wollte: das künstlerische Niveau heben, die Zahl der Konzerte reduzieren, den Stress bei den Kindern abbauen. Als sie dann aber auch noch die Strukturen des Vereins kritisierte, dessen 88 Mitglieder allesamt ehemalige Sängerknaben sind und eifersüchtig über die Einnahmen aus den vielen Konzerten wachen, war's genug: schon nach zwei Jahren warf die künstlerische Leiterin das Handtuch - ausgerechnet im 500. Jubiläumsjahr der Wiener Sängerknaben.

    Die wohl schwerste Krise ihrer Geschichte hat Spuren hinterlassen - zwar lässt sich das Management bis heute nicht gerne in die Bücher sehen. Aber es ist doch einiges geschehen seither: Die Zahl der Konzerte wurde von 400 auf 300 pro Jahr reduziert. Die vier Chöre absolvieren jeweils nur noch eine Jahrestournee. Und die Kinder haben mehr Freizeit. Das alles ist einem Deal zwischen der Bundesrepublik Österreich und den Wiener Sängerknaben zu verdanken: Der Staat bezahlt die Lehrkräfte im Internatsgymnasium. Dafür sind die Auftritte bei offiziellen Anlässen kostenlos.

    So ist der Druck immer noch enorm, der Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und Versprechen auf Allgemeinbildung manchmal schmerzhaft. Was andere Kinder in einem ganzen Schuljahr lernen sollen, müssen die Sängerknaben in sieben Monaten bewältigen. Zum Schulunterricht kommen jeden Tag zwei Stunden Chorprobe, Stimmbildung, Instrumentalunterricht - macht pro Woche gut und gerne 50 Stunden Arbeitszeit.

    Und doch wachsen vielen Kindern in diesem Umfeld Flügel - nicht jede Herausforderung ist auch eine Überforderung. Vor der Aufnahmeprüfung steht das Lampenfieber - der Lohn ist die Eintrittskarte in den musikalischen Olymp.



    Die Eintrittskarte in den musikalischen Olymp
    Das Lampenfieber vor der Aufnahmeprüfung
    Vor dem Musikzimmer drängen sich die Schüler der beiden vierten Volksschulklassen zur täglichen Chorprobe. Kapellmeister Arnold Schlechter betritt mit Schwung und erhitztem Gesicht den engen Vorraum; sofort wird es still und der aufgeregte Knabenhaufen formiert sich artig zu Zweierreihen. Von den Wänden des Musikzimmers lachen lustige Buben im Matrosengewand - das malerische Vermächtnis einer Institutslehrerin.

    " Schön dass ihr da seid. Übrigens auch schön dass ich hier bin. "

    Die "Herrschaften", wie die Buben hier gerne genannt werden, legen die Hände auf die Oberschenkel - und los geht's.

    " Und wir singen schon vor dem ersten Ton: Ach ja ... "

    Dominik, Lukas und Friedrich reißen Augen und Münder weit auf. Ab Herbst werden sie einem der vier Reisechöre - dem Schubert-, Mozart-, Haydn- oder Brucknerchor, zugeteilt. Noch sind sie nur Sängerknaben-Anwärter.

    " Jetzt sind wir nur die Eleven, wir haben schon eine Uniform, aber nicht die, die die richtigen Sängerknaben dann haben. Schon ähnlich, aber nicht ganz so. "

    Dominik kann es kaum erwarten; die schelmischen Augen hinter den Brillengläsern und das Mundwerk stehen nicht still. Die bisherige musikalische Ausbildung des zehnjährigen Wieners verlief reibungslos.

    " Also, man muss sehr gut singen können, und vor allen Dingen man muss auch ein Instrument spielen können, das muss man, sonst darf man kein Sängerknabe werden. Da hab ich auch etwas vorgespielt mit dem Cello, da hat er halt getestet, der Herr Schlechter, wie musikalisch die Kinder sind. Gesungen hab ich, weiß ich eigentlich gar nicht, das war ja vor 2 Jahren oder mehr. "

    " Und Schauspielen muss man natürlich auch ein Talent haben. Jetzt reisen wir erst in Österreich so und spielen an anderen Schulen vor. Nur wenn man ein richtiger Sängerknabe ist, dann ist man halt in der ganzen Welt. "

    Dominik ist erst nach der 2. Klasse in die Privatschule der Wiener Sängerknaben gewechselt. Friedrich hat schon den hauseigenen Kindergarten besucht. Mit seinen feinen Gesichtszügen kommt er dem Werbeslogan vom "singenden Engel" schon ziemlich nah. Zudem bläst er die Flöte.

    " Ich musste nur im Kindergarten etwas vorsingen und das war eigentlich leicht. Ich bin jetzt schon 6 Jahre hier und es wird immer schwieriger auch, bei jedem Jahr. Man muss auch mehr singen, drei Stunden; also 2 Stunden und 15 Minuten und das sind in der Woche 15 Schulstunden. "

    Ein- und mehrstimmige Chorlieder quer durch alle Epochen vom Gregorianischen Choral bis zur Moderne werden einstudiert; ein Schwerpunkt liegt auf internationalen und deutschsprachigen Volksliedern.

    " Die Kinder wissen, wenn sie diese Schule besuchen, welches Ziel sie erreichen wollen, d.h. dass Kinder eigentlich selten bis zur 4.Klasse kommen und eigentlich nicht dieses Ziel erreichen. Sie wissen, dass sie das unbedingt wollen. Bei manchen Fällen ist es so, dass sich die Kinder noch mehr einem Instrument widmen, und das ist dann oft sehr mit Mühe zu vereinbaren: das Intensive im Chor, auch die Solostimmbildung, neben der Einstudierung des Repertoires und dann die viele Zeit, die das erfordert.. "

    Lukas nimmt eine aufrechte Gesangshaltung ein. Er wirkt ruhig, konzentriert. Sein Vater hat sich im Internet über die Volksschule der Wiener Sängerknaben informiert und ihn dort eingeschult. Sein Instrument ist das Klavier.

    " Also mir macht's einfach Spaß und es ist schön. "Laudate" mag ich gern, von wem ist das? "

    " Das ist eigentlich auch toll, wenn man sich selbst singen hört, das klingt meistens toll, meistens, manchmal schlecht, bei mir eigentlich selten nur, aber bei manchen klingt's meistens halt nicht so gut, bei manchen. "

    " Ich mag gern schnelle Lieder, die sind meistens auch am anstrengendsten, wenn man richtig schön singen will, ja. "

    Täglich von 7Uhr50 bis 16 Uhr Schule inklusive Chorproben und Stimmbildung, davon eine Stunde und zwanzig Minuten Pause: Das ist bereits ein beachtliches Arbeitspensum. Das Trio wohnt seit Schulbeginn im Internat. Diese Art Probezeit ist Voraussetzung, wenn man Sängerknabe werden will.

    " Manche haben beim ersten Mal übernachten im Internat schon Heimweh, aber ich kein bisschen... "

    " Ich hatte beim ersten Übernachten, hab ich geweint, weil ich war das so ungewohnt. Aber seitdem hab ich noch nie geweint, nie wieder Heimweh gehabt. Das vergisst man. "

    Eine Einzelprüfung am Ende des vierten Schuljahres findet nicht statt. Kapellmeister Arnold Schlechter, obwohl nie selbst Sängerknabe, kann sich in diese schwierige Zeit der Reifeprüfung seiner Schüler gut hineinversetzen.

    " Die Kinder werden laufend beurteilt eigentlich. Manche Kinder erleben derartige Wachstumsschübe, und dann ist die Stimme auch ein bisschen geschwächt und brüchig, muss man wieder festigen. Man denkt immer: Ja die Kinder müssen so diszipliniert sein und konzentriert, und sie haben so wenig Freizeit und Privates. Aber viel schwieriger ist es, die Kinder z.B. immer wenn sie etwas singen in den Stand zu bringen, dass es so wirkt, als ob sie das das erste Mal machen würden. Und das öfter zu kriegen, das ist schwierig. Das versuch ich, das ist mein Job, hahaha. "

    Selbstbewusst, eifrig und routiniert präsentieren sich die drei ausgesuchten Eleven. Am Ende dieses Schuljahres werden sich ihre Wege trennen: Dominik kommt in den Haydn-, Lukas in den Bruckner- und Friedrich in den Schubertchor. Was sind die Berufswünsche eines angehenden Sängerknaben?

    " weiß ich eigentlich noch nicht. "

    " Mein Lehrer hat mir vorgeschlagen, Müllmann, da verdient man viel. "

    " Cellist oder Kontrabassist, und dann gibt's noch ein paar Sachen. "

    " Ich will auch nicht dass die Öffentlichkeit das erfährt. "

    " Er will boxen und Cello spielen. "

    " Und Sänger weil ich halt jetzt bei den Sängerknaben bin. "

    Eine spontane Kostprobe gefällig? Und da sollte das hohe C auch spontan drin sein.

    " Das dreigestrichene C eigentlich noch nicht, zu hoch.. "

    Ohne Klavier und Kapellmeister geht nichts. Unkontrolliertes lautes Singen ist ohnehin zu vermeiden, heißt es in der Hausordnung des altehrwürdigen Instituts.



    Dass es das Singen bringt, davon sind im Wiener Augarten-Palais alle überzeugt: die künstlerischen Vorstände, Musikpädagogen und Chorleiter verstehen die musikalische Ausbildung als Teil eines pädagogischen Gesamtkonzepts, das die Kinder in ihrer persönlichen und intellektuellen Entwicklung fördern und fordern soll - sie wollen die Kinder ermutigen, das Potential ihrer Talente auszuschöpfen.

    So dient die Arbeit mit den jungen Sängern keinesfalls dazu, einen beliebigen Einheitsklang zu erzeugen. Jeder für sich und alle zusammen arbeiten an einem kristallklaren Klangbild, das die Wiener Sängerknaben weltberühmt gemacht hat - jeder Knabenchor der Welt möchte dem Wiener Sound so nah wie möglich kommen.

    Ebenso unverwechselbar ist das Outfit. Die Wiener Sängerknaben treten stets im Matrosenanzug auf - entweder in der dunkelblauen oder in der weißen Galauniform. Das ist das Markenzeichen der Wiener Sängerknaben und geht auf die Jahre der Neugründung nach dem ersten Weltkrieg zurück. Bis 1918 wurde noch die kaiserliche Kadettenuniform mit Beamtendegen getragen. Heute ist die Pflege der Matrosenanzüge beschwerlich genug.


    Maß genommen und auf den Leib geschneidert
    Der unvermeidbare Matrosenanzug
    In der Schneiderei der Wiener Sängerknaben im Dachgeschoss des Augartenpalais ist es heiß; die Dampfbügelmaschine brummt eintönig. Christoph schwitzt. Er steht auf einem Stuhl im Matrosengewand und muss stillhalten. Um hin herum wuselt Frau Zerava, mit Schneiderkreide und Stecknadeln bewaffnet.

    Christoph:" Die Hose gehört glaub ich ein bisschen enger. "

    Zerava: " Hast du abgenommen...ein schlankes Kind, machen wir's ein bisschen enger. Die Länge ist okay? Und die Kappe? "
    " Zu klein. "
    Zerava: " Ist dir ein bisschen zu klein, setzt du sie mal bitte auf? "

    Schief darf sie nicht sitzen, die Uniformkappe. Christoph fährt mit der Handkante von der Nasenspitze nach oben: treffen die Finger die Kokarde, das runde Wappen mit dem Doppeladler, sitzt sie gerade.

    " Sie kratzt, wenn man schwitzt. "

    Seit 1918 tragen die Wiener Sängerknaben ihre auf den Leib geschneiderten Matrosengewänder; früher waren es Kadettenuniformen mit Zierdegen. Damals war der Matrosenanzug topmodisch und fast jeder Junge hatte einen im Schrank hängen.

    Dunkelblaue Stulpenhose, Bluse, gestreifte Kragen - auch Segel genannt, weißer Plastron, ein Einsatz, der in die Bluse geknöpft wird. Zwei Garnituren gibt es : Die weiße Galauniform und die blaue Version für Reisen, Matineen und die Burgkapelle. Frau Zeravas prüfendem "Passt das noch"-Blick entgeht nach zwanzig Jahren Berufserfahrung kaum etwas.

    " Soll ich's so lassen oder soll ich's um eine Spur lockerer machen. "
    Ja ein bissl lockerer bitte. .

    " Und länger auch etwas? "

    Ja ein bisschen..

    Der Matrosenanzug: Ein Markenzeichen, das so mancher Wiener Sängerknabe vielleicht gerne gegen zeitgemäßere Kleidung austauschen würde?

    " Manchmal ja, manchmal nein, es ist vor allem sehr heiß in der Uniform, vor allem im Sommer draußen, da ist es schon anstrengend, sag ich mal. "

    Und dann der kratzige Stoff! Das Material muss pflegeleicht sein und viele Konzerte aushalten. Frau Zerava, eine beherzte, aber strenge Dame mittleren Alters, hat Verständnis für diese Nöte eines Wiener Sängerknaben.

    " Hab ich wieder ein Futter hinein genäht dass es nicht so kratzt, man halt ein bisschen was ändern. "

    Sonst aber herrscht penibel Ordnung in Frau Zeravas Schneiderreich. Vierzig bis fünfzig neue Uniformen müssen pro Jahr gefertigt werden; die Kleidungstücke geflickt, Knöpfe angenäht, heruntergegangene Sohlen der Lackschuhe festgeklebt werden.

    " Des ist zum Waschen hergerichtet, das wird größer gemacht, Ärmellänge kaputt, des muss im Kasten aufbewahrt werden für ein Kind, was eine kürzere Ärmellänge hat, des wird dann halt kürzer gemacht und dann kriegt's das nächste Kind, das wieder in Ordnung ist. "

    Frau Zerava räumt die Bluse in den Schrank zu den vielen anderen Wäschestücken. Eine wahre Sparmeisterin! Ein wenig hadert sie, die es sonst nie wagen würde, sich in andere Disziplinen einzumischen, mit den unkonventionellen Einsingübungen der Kapellmeister.

    " Vorige Woche hab ich erst gehabt da hinten der Ärmel, alles rausgerissen und die ganze Ärmelnaht hinten offen . Kapellmeister wollen haben, dass die Kinder Stretchübungen machen, aber alles mit der Uniform, ich find des wär gescheiter ohne Uniform.. "

    Zuweilen gewinnt die korrekte Schneidermeisterin recht intime Einblicke in das Leben eines Wiener Sängerknaben; zumindest was den Inhalt seiner weitgereisten Hosentasche anbelangt.

    " Am meisten schmutzige Taschentücher, Flugtickets, Hotel-, Zimmerkarten, Schlüsselkarten, und Geld teilweise, ja , Souvenirs, Kreuzerln, Glücksbringer, alle möglichen Sachen. Manche nähen's sogar in Hosensack rein, des muss ich alles wieder hineingeben. "

    Die Matrosenuniform muss übrigens am Ende der Laufbahn der jungen Sänger zurückgegeben werden; ihren "Hut" dürfen sie als Souvenir mitnehmen.

    " Da gibt's eine Rückgabe zum Schulschluss, da wird das alles genau kontrolliert und eingesammelt. "

    Die letzte Anprobe für heute ist beendet.

    " Du darfst dir noch ein Zuckerl nehmen. "

    Als Belohnung für geduldiges Stillhalten gibt es für jeden ein " Wiener Zuckerl."

    " Und wo gehören die Papierln hin? Ich bin schon hergegangen und hab den Kindern die Zuckerln verboten, wenn ich's überall finde, die Papierln, drum frag ich immer, wo gehören die Papierln hin, in Hosensack oder in den Mistkübel? "



    Mittlerweile ist die Führungskrise bei den Wiener Sängerknaben ausgestanden, die Jahre der Orientierungslosigkeit und des Selbstfindungsprozesses im Zeichen längst überfälliger Reformen sind vorüber. Das Ergebnis war allerdings keine Palais-Revolution - der Wandel vollzog sich kontrolliert. Dafür hat das Patriarchat der ehemaligen Sängerknaben an der Vereinsspitze schon gesorgt - die letzte Männerbastion im Wiener Kunstbetrieb zeigt erstaunliche Beharrungskräfte.

    Und doch tut sich musikalisch etwas. Das klassische Repertoire ist aufgebrochen worden - nach dem Motto: es muss nicht immer das Heideröslein sein, wagen sich die Sängerknaben nach vorn und nehmen nicht nur internationales Volksgut ins Programm, sondern immer mehr auch Poppiges, Jazziges, Rockiges.

    Plötzlich wird gerappt im Augarten-Palais. Klassisches Chorkonzert, Kinderoper, Musical, Gesangs-Events im Scheinwerferlicht der Fernsehkameras: Die Wiener Sängerknaben haben's drauf und zeigen sich wandlungsfähig. Damit verbunden sind allerdings auch Fragen nach der Zukunft der Wiener Sängerknaben und nach den Grenzen zwischen Kunst, Kitsch und Kommerz. Am Ende wird wohl der Blick in die Bilanzen entscheiden.


    Vom Agnus Dei zum Goldenen Kalb
    Die Wiener Sängerknaben nehmen Kurs auf die Pop-Kultur
    Aus dem barocken Prachtbau des Augartenpalais dringen höchst unterschiedliche Klänge in den hermetisch abgeriegelten Park: In die hellen Choralgesänge des Haydnchors, der für seine Japantournee übt, mischt sich laut dröhnend ein Schlagzeug.

    Im rechten Trakt des Palais hat der Schubertchor - benannt nach dem wohl berühmtesten Sängerknaben - seinen Proberaum.

    Hüften kreisen, Hände schlagen auf die Wangen, Finger schnippen; Füße in bequemen Hausschuhen wippen auf und nieder; statt Matrosenleibchen Hardrockcafé-T-Shirts: ca. fünfundzwanzig "Chörler" singen sich um elf Uhr Vormittag ein.

    Andy Icochea Icochea wirft sein fast hüftlanges schwarzes Haar über die Schulter: der peruanische Kapellmeister tänzelt auf Strümpfen die ersten Notenpultreihen seiner Sängerknaben entlang. Durch die geöffneten Flügelfenster fällt der Blick in die gepflegte barocke Gartenanlage.

    " Wenn man es hört, es klingt ein bisschen unördentlich. Aber trotzdem, was wir erreichen und man merkt das während bei der Probe ist eine sehr hohe Niveau von Konzentration. "

    Die Chorältesten werden für eine halbstündige Pause entlassen; die Zehn- bis Dreizehnjährigen müssen weiterproben. Da bleibt Zeit für eine kurze Session mit der Punk-Rockband ein Stockwerk tiefer.
    " Wir spielen ein Lied, das ist noch nicht benannt, aber wir können's schon so halbwegs gut, okay. "

    Kevin, ganz in Schwarz mit einem Totenkopf-T-Shirt aus Bali, hat sich eine E-Gitarre umgehängt. Die schwarz gefärbten Haare sind im "Indielook" schräg nach vorne geföhnt. Aron mit einem T-Shirt der Band Green Day tobt sich am Schlagzeug aus.

    " Einmal pro Woche circa. Ich tue meistens improvisieren. "

    Schubertchor und Punkrockband beschallen die Gänge im barocken Augartenpalais: eine Klang-Melange, die vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Weht der frische Wind aus dem fürstlichen Repräsentationsraum des künstlerischen Direktors? Dort herrscht eine nahezu göttliche Unordnung. Zwei Samurai-Schwerter ruhen auf einem Plastikhirschgeweih; ein Skalp liegt umher - Reisesouvenirs. Gerald Wirth, selbst ehemaliger Sängerknabe, wirkt locker, entspannt.

    " Ich bin hierher gekommen wie ich 9 Jahre alt war. Damals war es ja so, dass die Landesschulräte an alle Volksschulen geschrieben haben, dass alle Volksschulen mindestens 2 Kinder zu senden haben für die Vorsingtermine und ich war damals auch einer und bin angenehmerweise auch genommen worden. "

    Das war 1973. Das Augartenpalais ist nahezu sein Zuhause. Fünfzehn Jahre lang hat er dort einen Chor geleitet. Seit 2001 verantwortet der sechsfache Vater die künstlerischen Produktionen der Wiener Sängerknaben.

    Popsongs von "Earth, Wind and Fire", Madonna und Prince hat er arrangiert und auf der CD "Wiener Sängerknaben goes Pop" vermarktet; das Projekt "Wiener Lächeln" einstudiert, in dem gerappt, getanzt und sämtliche "Zauberflöten-Hits" durcheinander gewirbelt werden. Dürfen aus den "kleinen Kavalieren mit den Engelsstimmen" - wie es immer heißt - swingende poppige Lausbuben werden?

    " Ich glaube, dass die grundlegenden Sachen , das klingt jetzt vielleicht ein bisschen eigenartig, aber die grundlegenden Sachen sich seit Jahrhunderten nicht verändert haben. Für mich war dieses Projekt in erster Linie ein pädagogisches Projekt, weil man eben lernt, wie Popmusik produziert wird. Die Popmusik anzuhören - und das machen die meisten unserer Kinder natürlich -, ist für sie sehr interessant, aber sie sind sich nicht bewusst wie viel Arbeit da drinnen steckt. Aber es sind Einzelprojekte, weil die Knabenstimme als solches ist nicht ideal dafür geeignet. "

    Die Knabenstimme: Was macht ihren vielzitierten Reiz aus, der die Massen berührt? Gerald Wirth lächelt gleich bleibend freundlich.

    " Warum Sängerknaben ganz allgemein und die Wienersängerknaben im besonderen sehr beliebt sind auch in einer Welt, wo die ganz andere Musiksparten in den Vordergrund treten, ist schon diese Reinheit der Stimme und diese Klarheit der Stimme. Vor allem auch deswegen, weil die Kinder Musik machen in einem sehr hohen Niveau und gleichzeitig aber noch Kinder sind, die da auf der Bühne stehen. Und dieser scheinbare Widerspruch zwischen den kindlichem Sein auf der Bühne und dem sehr anspruchsvollen Musikmachen, das ist glaub ich das Interessante an der Knabenchormusik. "

    Der Sängerknabe als "Spiegelbild der unberührten Seele"; "Gesang vor dem Sündenfall": Da ist der doch, der altväterische Sängerknaben-Geist. Traditionelle Werte in neuem Gewand. Ein radikaler Wandel findet nicht statt. Das Repertoire zeitgenössischer Musik hält sich buchstäblich in Grenzen:

    " Das heißt, viel zeitgenössische Musik die wir aufführen ist bei uns im Haus komponierte Musik. "

    Und auch der Aufbau gemischter Chöre ist kein Thema, obwohl Mädchen zwecks Auflockerung der Knabenwelt den sängereigenen Kindergarten und die Volksschule besuchen dürfen.

    " Sobald wir's mischen gibt's die Wiener Sängerknaben als solches nicht mehr. Man verliert ein Instrument das man sehr schwer wieder erzeugen kann, wenn's man einmal aufhört. Und wir empfinden uns verpflichtet, diese Knabenchortradition, eben dieses Instrument zu erhalten für die Öffentlichkeit und für Knaben in der Zukunft diesen Weg zu gehen. "

    Andy Icochea Icochea beendet die Probe des Schubertchors kurz vor der Mittagspause mit einem Psalm - eine Mischung aus Gospel und Rock. Singt ein Junge falsch, muss er die Hand heben: Selbstanzeige sozusagen. Moritz, Oskar und Wolfgang, zwölf und dreizehn Jahre alt, tanzen und schnippen den Rhythmus mit den Fingern. Würden sie auch gerne Popsongs einspielen?

    " Das war ein Jahr vor meiner Zeit, es ist sicher lustig wieder so eine CD aufzunehmen. "

    Mit dem bunt gemischten Repertoire ihrer Chöre sind sie zufrieden.

    " In unserm Konzertrepertoire haben wir gregorianische Choräle. Dann kommt Straussmusik, dann kommt eher die Volksmusik, dann kommen ein paar ausländische Lieder. "

    " Auch "I'm singing in the rain" und "A wonderful day like today". "

    " M: Straussstücke - wir sind ja die Wiener Sängerknaben und da wollen ja alle was Wienerisches hören von uns und auf jeden Fall wir singen "Leichtes Blut". "

    Die drei Sängerknaben mit den aufgeräumten Bubengesichtern wissen, was sie ihrem Status als musikalische Botschafter Österreichs schuldig sind: Wolfgang, Moritz und Oskar, das sind echte Profis.