Nehmen wir an, Sie treffen einen wildfremden Menschen. Im Café, in der U-Bahn, in der Fußgängerzone. Und der fragt Sie nach ihrem Wohnort, nach ihrer Beziehung, nach ihrer politischen Einstellung. "Was geht Sie das an?" würden Sie entgegnen. Sie als reale Person. Für viele virtuelle Personen, für persönliche Profile im Internet, da scheint diese Grenze nicht zu gelten. Datenschutz und Privatheit haben im Web 2.0 ausgedient.
25 Jahre zurück, Anfang der 80er Jahre: Die deutsche Bundesregierung plant eine Volkszählung. Sie hat einige persönliche Fragen an die Bürger:
Leben Sie in einer Wohnung oder in einem Haus? Besitzen Sie ein Telefon? Welchem Beruf gehen Sie nach?
Doch Millionen Bürger sehen darin einen Eingriff in ihre Privatsphäre und gründen hunderte Bürgerinitiativen gegen das Vorhaben. Mit Erfolg: Am 15. Dezember 1983 verbietet das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung, wie sie geplant war. Das Gericht formuliert das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: Jeder Bürger habe das Recht, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.
Sind Sie Single? Wo wohnen Sie? Welche Kleidergröße haben Sie?
Gegenwart, Jahr 2008: Das Recht der Informationellen Selbstbestimmung gilt nach wie vor. Jeder Mensch kann selbst entscheiden, welche Daten er wem preisgibt. Nur: Millionen Menschen wehren sich nicht mehr, ihre persönlichen Daten herauszugeben – im Gegenteil: sie machen es sogar freiwillig. Im Internet. In so genannten sozialen Netzwerken oder Online-Communities: Internetportale, bei denen sich jeder ein Profil anlegen kann, mit Foto, Charaktereigenschaften und Freundesliste. Weltweit sind schätzungsweise eine halbe Milliarde Menschen in einem solchen sozialen Netzwerk angemeldet. Facebook, eines der größten, wächst jeden Tag um 250.000 Mitglieder. Und fast alle von ihnen machen ihre Daten anderen zugänglich.
Welche Bücher lesen Sie? Was ist Ihre politische Ausrichtung? Was für eine Art Beziehung führen Sie?
Noch mal zurück. Exhibitionismus im Internet ist nicht neu: Seit es das Internet gibt, lassen sich dort persönliche Seiten anlegen. Und die haben sich gar nicht so sehr von heutigen Netzwerkprofilen unterschieden. Auf Portalen wie Lycos und Freenet oder in vielen Foren haben sich auch vor sieben Jahren schon Nutzer ein Profil angelegt und sind so auf Freundessuche gegangen. Doch heutige Profile in den Online-Communities wirken wie Datenstaubsauger. In ihnen ist alles konzentriert. Wer beim amerikanischen Freundes-Netzwerk Facebook angemeldet ist, kann Inhalte von anderen Websites anzapfen.
Welche Bücher habe ich online gekauft?
Amazon weiß das.
Welche Musik habe ich online gehört?
Last.fm weiß das.
Welche Fotos habe ich gemacht?
Flickr weiß das.
Was mache ich gerade?
Twitter weiß das.
Die Vernetzung von sozialen Netzwerken untereinander ist ein neuer Trend. Facebook hat es vorgemacht und Google zieht mit seinem Projekt Open Social nach. Es könnte bald ganz normal sein, dass das persönliche Online-Profil alle Internet-Aktivitäten veröffentlicht. Aber natürlich nur, wenn die Nutzer auch weiterhin nichts dagegen haben.
Marcel Kotzur aus Berlin ist so einer, der nun wirklich nichts dagegen hat, sich zu vernetzen. Nun wirklich nicht, im Gegenteil. Marcel Kotzur ist das Musterbeispiel einer vernetzten Existenz. Marcel Kotzur ist Trueman.TV. "Ein Leben im Netz" lautet das Motto von Trueman.tv. Der Name leitet sich von einem Hollywood-Film ab, in dem der Hauptdarsteller, ohne es zu wissen, in einer künstlichen Fernsehwelt lebt. Dabei wird er von Fernsehkameras beobachtet. Marcel Kotzur hat diese Idee auf sein Projekt Trueman.TV übertragen. 24 Stunden am Tag läuft die Kamera, die ihn beobachtet, 24 Stunden am Tag können Internetnutzer live dabei sein. Tabus gibt es kaum, in manchen Situationen wird höchstens mal der Ton abgestellt oder das Geschehen rückt weit in den Hintergrund. Thomas Reintjes hat Marcel Kotzur getroffen, im Netz und real:
Es ist Tag 94 im Leben von Trueman.TV. Als ich einschalte, oder genauer: als ich die Website mit dem Videostream öffne, liegt Protagonist Marcel auf einer Matratze auf dem Boden und schläft. Es ist 9.30 Uhr morgens an diesem Donnerstag. Und es passiert nichts. Einmal dreht Marcel sich um, schläft aber weiter. Der Zähler auf der Homepage zeigt an, dass außer mir noch 50 weitere Zuschauer diese Szene ansehen. Und ich beginne mich zu fragen, warum? Kennengelernt habe ich Marcel durch Zufall. Nicht über das Internet, sondern im realen Leben, auf einer Veranstaltung in Berlin, damals im Herbst. Es ist der 48. Tag, von Trueman.TV bin ich noch fasziniert. Zum Beispiel von der Technik. 24 Stunden am Tag ein Live-Video ins Internet zu streamen, das ist kein Pappenstiel. Marcel trägt ständig einen Wust aus Kabeln und Geräten in einem Rucksack mit sich herum:
"Einen Laptop trage ich bei mir, mit einem Ersatzakku, quasi zwei. Und ansonsten ist die Kamera dran befestigt. Über eine UMTS-Verbindung streame ich live, und das fünf bis zehn Sekunden verzögert. Mehr Technik ist es eigentlich nicht."
Während die Technik meist im Rucksack verschwindet, ist die Kamera offensichtlich. Mit einem grün ummantelten Bügel hat er sie sich ans Ohr geklemmt. Wie ein drittes Auge beobachtet sie mich beim Gespräch mit Marcel. Schon ein seltsames Gefühl, beim Interview, bei meiner Arbeit, von Zuschauern im Internet beobachtet werden. Und wie ist es für Marcel?
"Es ist halt so. Ich bring einfach mal ein Beispiel: Wenn man früher einfach mal zu einer kleinen Party gegangen ist und irgendwelche Spiele spielt oder was zusammen isst, das ist nicht mehr so leicht, weil natürlich nicht mehr jeder von meinen Freunden interessiert ist, vor 200, 500 Leuten quasi irgendwas zu spielen, irgendwas zu machen. Da lade ich mich in der Regel nicht selber ein, sondern warte darauf, dass mich jemand einlädt, um die Leute selber die Entscheidung treffen zu lassen. Und das ist natürlich schon eine Einschränkung, ganz klar."
Schließlich habe er sich für die Kamera entschieden und nicht seine Freunde. Vor kurzem hat er deshalb für eine Hochzeit sein öffentliches Leben für zwei Tage aufgeben müssen. Doch Marcel scheint auch neue Freunde zu gewinnen. Zumindest Fans. Als ich ein paar Tage später noch mal bei Trueman reingucke, lädt er gerade Fans zu einer gemeinsamen Wohnungsbesichtigung ein, um eine Wohngemeinschaft mit ihnen zu gründen. Heute aber, an diesem Donnerstag, Tag 94, scheint Marcel nur zu schlafen. Als sich gegen zwöf Uhr endlich etwas tut, setzt er sich nur kurz auf, bewegt sich zum Notebook und tippt etwas. Im Chat haben die Zuschauer genug von der Langeweile:
smoking_ganja: Mach mal was Geh spazieren oder bewege dich einfach ein wenig!
obelix_hc: Sitzt der Kerl schon die ganze Zeit so da?
chemnitzer22: den haben se fest gemacht an der couch
obelix_hc: iss ja öd
Das war eigentlich die Idee von Trueman.TV. Die Zuschauer sollten mitbestimmen, was Marcel erlebt. Das aber ist nur eingeschränkt möglich. Damit die Internetverbindung über UMTS-Mobilfunk nicht abreißt, kann er Berlin kaum verlassen. Sicher, es gibt in der Hauptstadt auch genug zu erleben, doch die Zuschauer bei Laune zu halten, das setzt Marcel unter Druck.
"Das ist wirklich ein anderes Denken im Kopf. Wenn man weiß, ok, ich mache gerade was Langweiliges und das vielleicht schon über ein paar Stunden, das zehrt an den Nerven. Aber trotzdem, ich mache mir jedes Mal Gedanken darüber, wie wir das verbessern können und wir haben ein ganz großes Format vor halt, sodass wir das über das Jahr auch wirklich interessant machen können."
Ich finde es im Moment überhaupt nicht spannend. Marcel ist aufgestanden, hat Toast gegessen. Wie an den vergangenen drei Tagen auch. Steht im Chat. Jetzt will er einkaufen und sucht das Auto. Ist wohl nicht sein Tag, heute. Querelen im Team, das im Hintergrund arbeitet. Die Werbeeinnahmen sprudeln auch nicht wie erhofft. Im begleitenden Blog schreibt Marcel, dass er auf eine Finanzspritze von den Großeltern hofft. Eine zeitlang konnten die Fans sogar etwas spenden. Jetzt schreibt Marcel, dass er Rechnungen schon gar nicht mehr öffne. Vielleicht steigert dieser Niedergang ja sogar die Zuschauerzahlen. Im Moment aber sind es immer noch nicht mehr als 50. Und bevor ich mich von der Depression anstecken lasse, schalte auch ich nach acht Stunden Voyeurismus zwischen Couch, Küche und Supermarkt Trueman.TV ab.
Warum, wird man sich fragen - warum stellt ein Mensch freiwillig sein Leben zur Schau? Marcel Kotzur hat ein profanes Ziel. Ein Ziel, das der Art und Weise von Trueman.tv eigentlich stark widerspricht. Er will mit dem Projekt über Werbeeinnahmen Geld verdienen. Genug Geld, um sich einen Bauernhof kaufen zu können, auf dem er dann mit seinen Freunden abgeschieden leben möchte.
Trueman - eine extreme Geschichte aus dem Internet. Doch Millionen deutscher Studenten präsentieren sich ebenfalls im Netzt – sicherlich nicht so exponiert – doch bei StudiVZ liegen Biografien offen. Thomas Reintjes hat Studenten der Fachhochschulen Köln und Sankt Augustin befragt.
Student 1: "Ich muss sagen, ein Kumpel von mir hat mich mehr oder weniger dazu gedrängt, der mich quasi angemeldet hat – mehr oder weniger aus Scherz – und mein Account lag dann auch so mehrere Monate da rum, bis ich irgendwann gesagt hab, so, in einer stillen Minute, als keiner zugeguckt hat, jetzt machste es einfach mal. Und ich muss sagen, man findet schnell Gefallen daran."
Studentin 1: "Was passiert Neues? Wann sind Termine für Klausuranmeldungen? Und, ja, es ist immer nett zu sehen, was so andere Leute auch natürlich reinstellen für Fotos und so und einfach, was die Leute gemacht haben."
Student 1: "Aber wirklichen Druck muss ich sagen, ja, es gab schon Leute, die auch gesagt haben, nun mach mal, und mein Kumpel dann, und sieh zu, und so, und, ja."
Studentin 1: "Ja, wenn alle anderen darüber reden, dann kommt vielleicht schon der Gedanke auf, dass man was verpasst."
Studentin 2: "Klar, das ist einfach natürliche Neugier, die ich in mir hab, dass ich schon gerne mal bei anderen rumspioniere und gucke, was da so steht."
Student 2: "Hauptsächlich, um mit Leuten zu schreiben, die man halt sehr, sehr wenig sieht."
Studentin 1: "Größtenteils zur Kommunikation unter Kommilitonen. Was gibt es Neues an der FH, was könnte man unternehmen abends? Da gibt es so verschiedene Gruppen, da kann man reinposten, und alle lesen es, und das ist ganz cool."
Student 2: "Ich finde es gut mit den Gruppen und ich nutze die auch, vor allem halt, um zu gucken, was für Partys irgendwie gerade sind, und wo was los ist."
Studentin 1: "Mir ist es des Öfteren passiert, dass mich irgendwelche Leute angeschrieben haben, ja, mit denen ich studiere, die ich tagtäglich sehe, und die schreiben mir Nachrichten oder Pinnwandeinträge, ellenlang, und in der Uni guckt man sich noch nicht mal an."
Studentin 2: "Also, klar, gewisse Fotos sieht man im StudiVZ, wenn ich jetzt mit einer Freundin spreche, die in Aachen wohnt, dann sehe ich eben die Fotos von ihrer Party nur im StudiVZ, weil sie mir die nicht alle per Mail schicken wird."
Student 1: "Ich weiß von einigen Leuten, oder auch von Kommilitonen, dass die schon recht häufig da gucken und nahezu fast alles darüber machen, und ich glaube schon, dass die so eine gewisse Abhängigkeit haben, ja."
Trueman.tv
25 Jahre zurück, Anfang der 80er Jahre: Die deutsche Bundesregierung plant eine Volkszählung. Sie hat einige persönliche Fragen an die Bürger:
Leben Sie in einer Wohnung oder in einem Haus? Besitzen Sie ein Telefon? Welchem Beruf gehen Sie nach?
Doch Millionen Bürger sehen darin einen Eingriff in ihre Privatsphäre und gründen hunderte Bürgerinitiativen gegen das Vorhaben. Mit Erfolg: Am 15. Dezember 1983 verbietet das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung, wie sie geplant war. Das Gericht formuliert das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung: Jeder Bürger habe das Recht, selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner personenbezogenen Daten zu bestimmen.
Sind Sie Single? Wo wohnen Sie? Welche Kleidergröße haben Sie?
Gegenwart, Jahr 2008: Das Recht der Informationellen Selbstbestimmung gilt nach wie vor. Jeder Mensch kann selbst entscheiden, welche Daten er wem preisgibt. Nur: Millionen Menschen wehren sich nicht mehr, ihre persönlichen Daten herauszugeben – im Gegenteil: sie machen es sogar freiwillig. Im Internet. In so genannten sozialen Netzwerken oder Online-Communities: Internetportale, bei denen sich jeder ein Profil anlegen kann, mit Foto, Charaktereigenschaften und Freundesliste. Weltweit sind schätzungsweise eine halbe Milliarde Menschen in einem solchen sozialen Netzwerk angemeldet. Facebook, eines der größten, wächst jeden Tag um 250.000 Mitglieder. Und fast alle von ihnen machen ihre Daten anderen zugänglich.
Welche Bücher lesen Sie? Was ist Ihre politische Ausrichtung? Was für eine Art Beziehung führen Sie?
Noch mal zurück. Exhibitionismus im Internet ist nicht neu: Seit es das Internet gibt, lassen sich dort persönliche Seiten anlegen. Und die haben sich gar nicht so sehr von heutigen Netzwerkprofilen unterschieden. Auf Portalen wie Lycos und Freenet oder in vielen Foren haben sich auch vor sieben Jahren schon Nutzer ein Profil angelegt und sind so auf Freundessuche gegangen. Doch heutige Profile in den Online-Communities wirken wie Datenstaubsauger. In ihnen ist alles konzentriert. Wer beim amerikanischen Freundes-Netzwerk Facebook angemeldet ist, kann Inhalte von anderen Websites anzapfen.
Welche Bücher habe ich online gekauft?
Amazon weiß das.
Welche Musik habe ich online gehört?
Last.fm weiß das.
Welche Fotos habe ich gemacht?
Flickr weiß das.
Was mache ich gerade?
Twitter weiß das.
Die Vernetzung von sozialen Netzwerken untereinander ist ein neuer Trend. Facebook hat es vorgemacht und Google zieht mit seinem Projekt Open Social nach. Es könnte bald ganz normal sein, dass das persönliche Online-Profil alle Internet-Aktivitäten veröffentlicht. Aber natürlich nur, wenn die Nutzer auch weiterhin nichts dagegen haben.
Marcel Kotzur aus Berlin ist so einer, der nun wirklich nichts dagegen hat, sich zu vernetzen. Nun wirklich nicht, im Gegenteil. Marcel Kotzur ist das Musterbeispiel einer vernetzten Existenz. Marcel Kotzur ist Trueman.TV. "Ein Leben im Netz" lautet das Motto von Trueman.tv. Der Name leitet sich von einem Hollywood-Film ab, in dem der Hauptdarsteller, ohne es zu wissen, in einer künstlichen Fernsehwelt lebt. Dabei wird er von Fernsehkameras beobachtet. Marcel Kotzur hat diese Idee auf sein Projekt Trueman.TV übertragen. 24 Stunden am Tag läuft die Kamera, die ihn beobachtet, 24 Stunden am Tag können Internetnutzer live dabei sein. Tabus gibt es kaum, in manchen Situationen wird höchstens mal der Ton abgestellt oder das Geschehen rückt weit in den Hintergrund. Thomas Reintjes hat Marcel Kotzur getroffen, im Netz und real:
Es ist Tag 94 im Leben von Trueman.TV. Als ich einschalte, oder genauer: als ich die Website mit dem Videostream öffne, liegt Protagonist Marcel auf einer Matratze auf dem Boden und schläft. Es ist 9.30 Uhr morgens an diesem Donnerstag. Und es passiert nichts. Einmal dreht Marcel sich um, schläft aber weiter. Der Zähler auf der Homepage zeigt an, dass außer mir noch 50 weitere Zuschauer diese Szene ansehen. Und ich beginne mich zu fragen, warum? Kennengelernt habe ich Marcel durch Zufall. Nicht über das Internet, sondern im realen Leben, auf einer Veranstaltung in Berlin, damals im Herbst. Es ist der 48. Tag, von Trueman.TV bin ich noch fasziniert. Zum Beispiel von der Technik. 24 Stunden am Tag ein Live-Video ins Internet zu streamen, das ist kein Pappenstiel. Marcel trägt ständig einen Wust aus Kabeln und Geräten in einem Rucksack mit sich herum:
"Einen Laptop trage ich bei mir, mit einem Ersatzakku, quasi zwei. Und ansonsten ist die Kamera dran befestigt. Über eine UMTS-Verbindung streame ich live, und das fünf bis zehn Sekunden verzögert. Mehr Technik ist es eigentlich nicht."
Während die Technik meist im Rucksack verschwindet, ist die Kamera offensichtlich. Mit einem grün ummantelten Bügel hat er sie sich ans Ohr geklemmt. Wie ein drittes Auge beobachtet sie mich beim Gespräch mit Marcel. Schon ein seltsames Gefühl, beim Interview, bei meiner Arbeit, von Zuschauern im Internet beobachtet werden. Und wie ist es für Marcel?
"Es ist halt so. Ich bring einfach mal ein Beispiel: Wenn man früher einfach mal zu einer kleinen Party gegangen ist und irgendwelche Spiele spielt oder was zusammen isst, das ist nicht mehr so leicht, weil natürlich nicht mehr jeder von meinen Freunden interessiert ist, vor 200, 500 Leuten quasi irgendwas zu spielen, irgendwas zu machen. Da lade ich mich in der Regel nicht selber ein, sondern warte darauf, dass mich jemand einlädt, um die Leute selber die Entscheidung treffen zu lassen. Und das ist natürlich schon eine Einschränkung, ganz klar."
Schließlich habe er sich für die Kamera entschieden und nicht seine Freunde. Vor kurzem hat er deshalb für eine Hochzeit sein öffentliches Leben für zwei Tage aufgeben müssen. Doch Marcel scheint auch neue Freunde zu gewinnen. Zumindest Fans. Als ich ein paar Tage später noch mal bei Trueman reingucke, lädt er gerade Fans zu einer gemeinsamen Wohnungsbesichtigung ein, um eine Wohngemeinschaft mit ihnen zu gründen. Heute aber, an diesem Donnerstag, Tag 94, scheint Marcel nur zu schlafen. Als sich gegen zwöf Uhr endlich etwas tut, setzt er sich nur kurz auf, bewegt sich zum Notebook und tippt etwas. Im Chat haben die Zuschauer genug von der Langeweile:
smoking_ganja: Mach mal was Geh spazieren oder bewege dich einfach ein wenig!
obelix_hc: Sitzt der Kerl schon die ganze Zeit so da?
chemnitzer22: den haben se fest gemacht an der couch
obelix_hc: iss ja öd
Das war eigentlich die Idee von Trueman.TV. Die Zuschauer sollten mitbestimmen, was Marcel erlebt. Das aber ist nur eingeschränkt möglich. Damit die Internetverbindung über UMTS-Mobilfunk nicht abreißt, kann er Berlin kaum verlassen. Sicher, es gibt in der Hauptstadt auch genug zu erleben, doch die Zuschauer bei Laune zu halten, das setzt Marcel unter Druck.
"Das ist wirklich ein anderes Denken im Kopf. Wenn man weiß, ok, ich mache gerade was Langweiliges und das vielleicht schon über ein paar Stunden, das zehrt an den Nerven. Aber trotzdem, ich mache mir jedes Mal Gedanken darüber, wie wir das verbessern können und wir haben ein ganz großes Format vor halt, sodass wir das über das Jahr auch wirklich interessant machen können."
Ich finde es im Moment überhaupt nicht spannend. Marcel ist aufgestanden, hat Toast gegessen. Wie an den vergangenen drei Tagen auch. Steht im Chat. Jetzt will er einkaufen und sucht das Auto. Ist wohl nicht sein Tag, heute. Querelen im Team, das im Hintergrund arbeitet. Die Werbeeinnahmen sprudeln auch nicht wie erhofft. Im begleitenden Blog schreibt Marcel, dass er auf eine Finanzspritze von den Großeltern hofft. Eine zeitlang konnten die Fans sogar etwas spenden. Jetzt schreibt Marcel, dass er Rechnungen schon gar nicht mehr öffne. Vielleicht steigert dieser Niedergang ja sogar die Zuschauerzahlen. Im Moment aber sind es immer noch nicht mehr als 50. Und bevor ich mich von der Depression anstecken lasse, schalte auch ich nach acht Stunden Voyeurismus zwischen Couch, Küche und Supermarkt Trueman.TV ab.
Warum, wird man sich fragen - warum stellt ein Mensch freiwillig sein Leben zur Schau? Marcel Kotzur hat ein profanes Ziel. Ein Ziel, das der Art und Weise von Trueman.tv eigentlich stark widerspricht. Er will mit dem Projekt über Werbeeinnahmen Geld verdienen. Genug Geld, um sich einen Bauernhof kaufen zu können, auf dem er dann mit seinen Freunden abgeschieden leben möchte.
Trueman - eine extreme Geschichte aus dem Internet. Doch Millionen deutscher Studenten präsentieren sich ebenfalls im Netzt – sicherlich nicht so exponiert – doch bei StudiVZ liegen Biografien offen. Thomas Reintjes hat Studenten der Fachhochschulen Köln und Sankt Augustin befragt.
Student 1: "Ich muss sagen, ein Kumpel von mir hat mich mehr oder weniger dazu gedrängt, der mich quasi angemeldet hat – mehr oder weniger aus Scherz – und mein Account lag dann auch so mehrere Monate da rum, bis ich irgendwann gesagt hab, so, in einer stillen Minute, als keiner zugeguckt hat, jetzt machste es einfach mal. Und ich muss sagen, man findet schnell Gefallen daran."
Studentin 1: "Was passiert Neues? Wann sind Termine für Klausuranmeldungen? Und, ja, es ist immer nett zu sehen, was so andere Leute auch natürlich reinstellen für Fotos und so und einfach, was die Leute gemacht haben."
Student 1: "Aber wirklichen Druck muss ich sagen, ja, es gab schon Leute, die auch gesagt haben, nun mach mal, und mein Kumpel dann, und sieh zu, und so, und, ja."
Studentin 1: "Ja, wenn alle anderen darüber reden, dann kommt vielleicht schon der Gedanke auf, dass man was verpasst."
Studentin 2: "Klar, das ist einfach natürliche Neugier, die ich in mir hab, dass ich schon gerne mal bei anderen rumspioniere und gucke, was da so steht."
Student 2: "Hauptsächlich, um mit Leuten zu schreiben, die man halt sehr, sehr wenig sieht."
Studentin 1: "Größtenteils zur Kommunikation unter Kommilitonen. Was gibt es Neues an der FH, was könnte man unternehmen abends? Da gibt es so verschiedene Gruppen, da kann man reinposten, und alle lesen es, und das ist ganz cool."
Student 2: "Ich finde es gut mit den Gruppen und ich nutze die auch, vor allem halt, um zu gucken, was für Partys irgendwie gerade sind, und wo was los ist."
Studentin 1: "Mir ist es des Öfteren passiert, dass mich irgendwelche Leute angeschrieben haben, ja, mit denen ich studiere, die ich tagtäglich sehe, und die schreiben mir Nachrichten oder Pinnwandeinträge, ellenlang, und in der Uni guckt man sich noch nicht mal an."
Studentin 2: "Also, klar, gewisse Fotos sieht man im StudiVZ, wenn ich jetzt mit einer Freundin spreche, die in Aachen wohnt, dann sehe ich eben die Fotos von ihrer Party nur im StudiVZ, weil sie mir die nicht alle per Mail schicken wird."
Student 1: "Ich weiß von einigen Leuten, oder auch von Kommilitonen, dass die schon recht häufig da gucken und nahezu fast alles darüber machen, und ich glaube schon, dass die so eine gewisse Abhängigkeit haben, ja."
Trueman.tv