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Das Innenleben des Paul Schreber

Paul Schreber war Sohn von Moritz Schreber, Erfinder der Schrebergärten. Er entwickelte ein schreckliches Gerät aus der Folterkammer deutscher Körperbildung: den sogenannten Geradhalter. Wie im 19. Jahrhundert über den steilen Rücken deutsche Haltung eingeübt werden sollte, erzählt Klaas Huizings "In Schrebers Garten".

Von Werner Köhne | 12.05.2008
    Die wahrnehmbaren Körperwelten bildeten in Deutschland immer schon einen Horizont verhärteten Lebens, einer stählernen Vergangenheit, die sich in die Gegenwart drängte und diese verhinderte: als Entwurf, als entwickelte Lust und freies "Sich Gehen lassen". Jugendliche heute mögen es lustig finden, wenn sie in Filmen aus den 1950er Jahren Szenen sehen, in denen sich deutsche Männer entkleiden: schnell, zackig, geschieht das, verrenkt oder im Stil von Tante Charly: die Überführung einer verletzlichen Ich-Äußerung in einen militärisch-komischen Akt. In seinen kollektiven Ausmaßen nahm der dergestalt zugerichtete Körper entscheidend teil an den Katastrophen deutscher Geschichte.

    Gerade das 19. Jahrhundert hat diesen Verhärtungen und Militarisierungen vorgearbeitet, aber womöglich auch einer Dramaturgie, die sich aus dem erklärten, manchmal gar skurrilen Gegensatz zur virilen teutonischen Kantigkeit nährt. Man lese dazu Arno Schmidts Karl May Porträt "Sithara oder der Weg dorthin": eine Rückführung der Aktivitäten von Old Shatterhand in die feuchtweichen Wunschwelten des Femininen und Analen. Der vor 40 Jahren ausgegebene Slogan der Rockgruppe The Kinks "Boys will be girls and girls will be boys" traf deshalb in Deutschland besonders auf temporäre Gegenliebe, aber auch auf unverhüllten Hass.

    Klaas Huizing erzählt uns zu dieser emotionalen Hardware der Deutschen eine Geschichte, und er bedient sich dabei eines berühmten Falls aus der Psychiatrie, der schließlich auch das Interesse des Doktor Siegmund Freud weckte. Es geht um Paul Schreber, den Sohn von Moritz Schreber, des Erfinders der Schrebergärten und - weitaus weniger bekannt - eines schrecklichen Geräts aus der Folterkammer deutscher Körperbildung, des sogenannten Geradhalters. Über den steilen Rücken sollte deutsche Haltung eingeübt werden. Der kleine Paul wächst zusammen mit seinen Geschwistern in einem Haushalt auf, der ganz auf die Zielvorgaben des schrecklichen Orthopäden abgerichtet scheint. Mutter, Kinder und der Patron versammeln sich zu Versuchszwecken in der Klinik:

    "Einen Geradhalter legte der Vater auf den Tisch, den anderen hielt er mit der einen Hand vor sich und demonstrierte mit der anderen die Funktion der neu entwickelten Drehklemme (…). Auf eine Zeichen rückten Gustav und Ann Sophie ihre Stühle näher an die Tischkante heran, bis die obere Schiene des Geradhalters beider Brust berührte. Paul veränderte zweimal seinen Stehplatz, um Ann Sophie besser beobachten zu können. Sie hielt die Augen geschlossen. Der Vater prüfte kurz den Sitz der Geradhalter, nickte Papier und Bleistift, den er gerne Crayon nannte, vor beide hin und diktierte ihnen mit geschlossenen Augen und hinter den Rücken verschränkten Händen: 'Am 15. Oktober 1850 wurde der neu entwickelte Geradhalter von Dr. Schreber auf seine Tauglichkeit hin geprüft Punkt. Es gab keinen Grund zu Beanstandungen. Auch die Patienten sind des Lobes voll Punkt'."

    Klaas Huizing pointiert geradezu lustvoll diese Zurichtungen des Körpers. Einen der Kinder, Gustav, den älteren Bruder, treiben sie später in den Selbstmord, die Schwester Ann Sophie in die allmähliche Erstarrung.

    Anders reagiert Paul. Fanatisch bemüht um die postödipale Anerkennung des Vaters setzt sich nach und nach ein aufrührerisches Begehren in ihm fest und verwirrt seine Vita. Äußerlich zunächst gut funktionierend als durchtrainierter Student, Justiziar und zuletzt als Senatspräsident in Sachsen landet er in der Psychiatrie, als der Spagat zwischen Innen und Außen nicht mehr gelingt - für Paul tun sich Gegenwelten auf, die als Negationen der durch den Vater erlittenen virilen Gewalt zu betrachten sind. Er entdeckt die Frau – nicht nur die andere, die er bewundert, vielmehr die Frau in sich.

    "Seine Gastgeberin schenkte ihm ein kurzes, silbriges Lachen. Er versuchte, eine plötzliche Erregung abzuschütteln, wäre am liebsten hineingesunken in dieses Lachen. Ich möchte mich gerne in diesem blonden Innenleben ein wenig ausruhen! Welche Schätze liegen darin verborgen."

    Und ein wenig später sinniert er wunschgeleitet noch ungehemmter:

    "Diese Frau ist mir ungewohnt. Wie sie vieles schweigend beobachtet! Wie ihre Augen sich an mir festsaugen und durch die Poren meiner Haut mein Innerstes durchleuchten! Wie angenehm muss es sein, diese Frau zu sein !"

    Paul, der berühmte Fall, setzt in seiner derangierten Welt zur Offensive an. Er verfasst ein philosophisches Dekret, in dem seine Obsessionen zu einem Modell neuer Lebensführung verdichtet werden. Darüber mag man schmunzeln, wie seine Ärzte in der Nervenklinik.

    Klaas Huizing breitet das tragisch komische Geschehen vor uns aus, indem er die Fäden des Romans aus distanziert auktorialer Außen- und einfühlsamer Binnenperspektive - nicht immer glücklich - verknüpft. Aber zuletzt obsiegen bei der Lektüre nicht so sehr Witz und Esprit des Erzählers, als vielmehr die Art, wie uns dieser Paul Schreber in die paradiesischen Gärten einer neuen Selbstwahrnehmung führt, wenn dieses Eden auch nur im engen Korsett einer Nervenklinik lebbar wird. Was schert es ihn, dass die Pfleger und Ärzte bei seiner Verweiblichung nur mitspielen. Paul Schreber wird zum glücklichen Menschen:
    "Draußen schwieg die Welt, die Verrückten lärmten nicht, als er, Paula Schreber, begleitet von zärtlichen Gesten und beinahe ausgelassenen Juchzern, wie eine Braut gekleidet wurde. Und eine leise durchnervte Musik, die an Chopin erinnerte, erklang. Und er spürte, wie in seinem Innern ein großer Sog sich seiner bemächtigte, wie sein Glied endlich ganz nach innen eingezogen wurde, wie in seiner Mitte eine Höhle entstand, die darauf wartete, bewohnt zu werden. Und wie ein schüchternes Mädchen zog sie, Paula Schreber, ihr Nachthemd über die Knie und ließ es geschehen."

    Klaas Huizing: In Schrebers Garten
    Knaus Verlag, München