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Das Internet physisch erfahren

Vor ein paar Jahren beschrieb der US-amerikanische Senator Ted Stevens das Internet als ein Rohrsystem, das durchaus auch mal verstopfen könne. Auch der Journalist Andrew Blum amüsierte sich damals über Stevens Fauxpas. Als er aber begann, sich die Materialität des Internets bewusst zu machen, musste er feststellen, dass der Senator durchaus Recht hatte.

Andrew Blum im Gespräch mit Jumoke Olusanmi | 06.11.2012
    - Jumoke Olusanmi hat sich mit Andrew Blum in seinem Büro in Brooklyn getroffen und ihn zunächst nach seiner Vorstellung vom Internet befragt, bevor er sich auf die Suche danach gemacht hat.

    Andrew Blum: Die optische Vorstellung, die ich vom Internet hatte, basierte auf dem im Internet weitverbreiteten Bild von einer Art glühendem "Kabelsalat", einem leuchtenden Geflecht von Netzwerken, das ein bisschen aussieht wie die Milchstraße. Die Darstellung erinnert mich auch an die berühmte Aufnahme des "Blue Marble", dem Bild von der Erde, das man von der "Apollo" aus auf dem Weg zum Mond gemacht hatte. Das Bild suggeriert für mich, dass man selbst angesichts des Internets klein ist und man sich dort nicht selbst finden kann.

    Jumoke Olusanmi: Das Bild im Internet vom Internet vermittelt den Eindruck, dass das Internet ein unfassbares und vor allem unendliches Ding sei. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, man könne überhaupt danach suchen?

    Andrew Blum: Ich ging auf die Reise, als mein Internet zu Hause kaputt ging. Der Elektriker musste kommen. Zusammen sind wir dem staubigen Kabel hinter meinem Sofa bis nach draußen zur Rückwand meines Wohnhauses gefolgt. Der Elektriker sah ein Eichhörnchen über die Kabel laufen und sagte: "Ich glaube, dein Problem ist ein Eichhörnchen, das auf deinem Internetkabel herumkaut." Ich war fassungslos. Das Internet soll bloß eine Ansammlung von Kabeln sein? Dann habe ich mich gefragt, wie weit ich dem Internetkabel wohl folgen könnte.

    Jumoke Olusanmi: Ich nehme an, dass Sie daraufhin das Internet zurate gezogen haben, um herausfinden, wo solche Kabel eigentlich hinführen?

    Andrew Blum: Wenn man anfängt danach zu googlen, wie das Internet funktioniert und wie alles zusammenhängt, stellt man schnell fest, wie wenig Literatur es eigentlich zu dem Thema gibt. Also habe ich, statt im Internet zu suchen, viel Zeit am Telefon verbracht und mit Netzwerkingenieuren gesprochen. Diese Leute habe ich gefragt, welche Orte sie persönlich für das Zentrum des Internets hielten, denn auch darüber findet man keine eindeutigen Informationen im Netz. Dabei kam raus, dass es scheinbar eine Art inoffizielle Liste der Orte gibt, die für das Internet besonders wichtig sind, denn manche Orte wurden immer wieder genannt.
    Jumoke Olusanmi: Sie haben in ihrem Buch inzwischen so eine Liste der wichtigsten Internetmonumente zusammengestellt. Was hat Sie an diesen Orten interessiert? Gab es etwas Bestimmtes, was Sie dort finden wollten?

    Andrew Blum: Wo ist das Internet? Warum ist es ausgerechnet da? Welche Farbe haben die Wände dieser Orte? Wer arbeitet dort?

    Jumoke Olusanmi: Sie wollten also wissen, was man außer dem angeknabberten Kabel vom Internet noch alles so anfassen kann. An was für Orten kommt man mit dem Internet in Berührung?

    Andrew Blum: Für mich sind die wichtigsten Internetorte jene, an denen die meisten Netzwerke aufeinandertreffen. Wenn man das Internet als ein Netzwerk von Netzwerken versteht, dann sind das die Gebäude, in denen diese Verbindungen buchstäblich zusammentreffen – kühlschrankgroße Maschinen mit blinkenden Lichtern, die in der Regel durch ein gelbes Glasfaserkabel verbunden werden. In Philadelphia oder Boston treffen 40 oder 50 solcher Netzwerke aufeinander. In Frankfurt hingegen, einem der wichtigsten Orte für das Internet, sind etwa 400 bis 500 unterschiedliche Netzwerke über mehrere Gebäude miteinander verbunden.

    Jumoke Olusanmi: Sie haben weltweit rund 30 dieser Gebäude besucht, in denen verschiedene Netzwerke aufeinandertreffen. Was haben diese Gebäude gemeinsam?

    Andrew Blum: Wenn man das Internet "betritt", riecht es immer gleich: ein ganz spezieller Geruch nach verbranntem Toast und Plastik, wie in einem neuen Auto. Dazu kommt der Ozongeruch aus den Klimaanlagen, die die Maschinen kühlen. Wegen der Klimaanlagen und Ventilatoren ist es in Internetgebäuden üblicherweise sehr kalt und vor allem laut. Ob in einem Gebäude in Los Angeles oder Frankfurt. Es ist immer das Gleiche.

    Jumoke Olusanmi: Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie Gebäude aussehen, in denen verschiedene Netzwerke miteinander verkabelt sind, hätten Sie also gar nicht so weit reisen müssen...

    Andrew Blum: Ich war mir durchaus der Ironie bewusst und auch der gelegentlichen Albernheit meines Unterfangens: Ich reise um den halben Erdball, betrete ein Heiligtum nach dem anderen und begegne dann genau der gleichen Maschine, die ich auf der anderen Seite der Welt schon einmal gesehen habe.

    Jumoke Olusanmi: Sie sprechen von Heiligtümern. Mir ist aufgefallen, dass Sie sich in Ihrem Buch öfter religiöser Analogien bedienen. Ihre Suche nach dem physischen Internet bezeichnen Sie zum Beispiel als Pilgerreise.

    Andrew Blum: Ich bin nicht religiös. Ich verstehe meine Suche insofern als Pilgerreise, weil sie mir die Möglichkeit gibt, insgesamt achtsamer und sensibler zu werden. Wer pilgert, geht an einen bestimmten Ort, weil er glaubt, dass er dort etwas über sich selbst erfährt. So habe ich es auch empfunden. Wenn ich das Internet aufsuche, was kann ich dann über mich selbst lernen? Dafür muss ich mich von meinem Bildschirm wegbewegen, ins Flugzeug steigen und die Welt erkunden. Die Strände von England oder Portugal, an denen die wenigen interkontinentalen Unterwasserkabel ankommen, sind durchaus sehr poetische Plätze. Ich gebe zu, dass es schon etwas Mystisches hat, einen Ort aufzusuchen, um sich darüber klarzuwerden, welche Rolle Technologien in unseren Leben spielen.

    Jumoke Olusanmi: In ihrem Buch machen sie Technologien wie das Internet dafür verantwortlich, dass unsere Sehnsucht nach der Unmittelbarkeit von Erfahrungen und der Aura von Dingen vom Aussterben bedroht sind. Sie stellen fest, dass die Gebäude in denen das Internet sozusagen passiert, auf der ganzen Welt fast gleich aussehen, also scheinbar keine eigene Aura haben. War das nicht frustrierend?

    Andrew Blum: Die Orte an sich sind nicht gleich. Sie haben einen eigenen lokalen Charakter. Das macht sich vor allem bei den Menschen bemerkbar, die mir diese Orte gezeigt haben. So international die Gemeinschaft derjenigen ist, die für diese Netzwerke verantwortlich sind, so tief sind viele von ihnen mit den Orten verwurzelt, an denen sie leben und arbeiten. In einem anonymen Datenzentrum, das irgendwo auf der Welt sein könnte, erzählt mir ein Netzwerkingenieur, dass er gleich seinen Sohn vom Fußballtraining in der Nähe abholen muss, um ihn zu seinen Großeltern zu bringen, die seit 75 Jahren in der Gegend leben.

    Jumoke Olusanmi: Ihre Internetpilgerreise hat sich also für Sie gelohnt, weil Sie bestimmte Gespräche am Bildschirm gar nicht hätten führen können?

    Andrew Blum: Eine der erfreulichsten Erfahrungen für mich war, als ich das Internet aufsuchte, dass ich nicht "im" Netz war. Wenn ich mich mit Leuten über das Internet unterhielt, wenn ich mich an den Orten umsah, war ich nicht vor einem Bildschirm und das Handy lag ausgestellt in meiner Tasche. Ich war immer im unmittelbaren Austausch mit den Menschen um mich herum. Das Witzige war, dass ich die Tage, an denen ich vollkommen "offline" war, im "Inneren" des Internets verbrachte.

    Jumoke Olusanmi: Sie schreiben auch, dass unsere Vorstellung von der Welt lückenhaft ist und wir uns das nicht eingestehen wollen. Diesen Umstand bezeichnen Sie sogar als Ursünde des 21. Jahrhunderts. Was meinen Sie damit?

    Andrew Blum: Mit der Ursünde meine ich unsere Ignoranz gegenüber diesem Etwas, mit dem wir tagtäglich verbunden sind. Ich halte unsern Unwillen, einen Zusammenhang zwischen der physischen und der virtuellen Welt herzustellen, für gefährlich. In den USA reden wir im Augenblick viel von der "Cloud" – der Datenwolke. Wir lagern unsere Daten nicht mehr auf eigenen Rechnern, sondern bei irgendwelchen Konzernen. Jedes Mal, wenn wir Daten in diese Cloud übertragen, geben wir ein bisschen mehr Kontrolle ab. Wir wissen nicht, an welchem Ort sich diese Cloud befindet, wer sich darum kümmert und was mit den Daten passiert. Alles wird bequemer, aber man verliert die Verantwortung.

    Jumoke Olusanmi: Haben Sie während der Recherche zu ihrem Buch "Kabelsalat" die Sorgen entwickelt, dass das Internet in Zukunft noch mehr Bereiche unseres Lebens bestimmen wird?

    Andrew Blum: Ich war immer begeistert vom Internet. Das Web ist erst 20 Jahre alt. iPhones und Smartphones gibt es erst seit ein paar Jahren. Ich fand es sehr aufregend, diese virtuelle Welt endlich mit der physischen Welt zusammenzubringen. Es war auch toll, festzustellen, dass das Internet kein unverständliches "Cyborg-Stystem" ist – kein System abstrakter Maschinen, die irgendwann von selbst zum Leben erwachen. Das Internet wird von Menschen betrieben. Von erstaunlich wenigen Menschen. Und es hat mich in gewisser Weise sogar beruhigt, festzustellen, wie human dieses Konstrukt Internet eigentlich ist.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.