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"Das ist ein apokalyptischer Akt"

Heiko Christians, Professor für Medienkulturgeschichte an der Uni Potsdam und Autor des Buches "Amok. Geschichte einer Ausbreitung" glaubt, dass Amokläufe durch die Präsenz in den Medien eine besondere Bühne bekommen. Für potentielle Täter könne diese Berichterstattung als Informationsveranstaltung für eine Tat gelten.

Heiko Christians im Gespräch mit Michael Köhler |
    Michael Köhler: Das Wunder ist vielleicht nicht die Krankheit, sondern die Gesundheit. Und das Wunder ist vielleicht weniger der Amoklauf selber als sein geradezu seltenes Auftreten. Ein Schüler tötete in Finnland zehn Menschen, richtete sich anschließend selber. Er hatte in einem Internetforum das Massaker angekündigt. Das wissen wir aus den Nachrichten. Wir wollen nun nicht über Verschärfung von Waffengesetzen oder Gewaltvideos reden, sondern auf die Geschichte einer Ausbreitung schauen. So haben Sie, Heiko Christians, Professor für Medienkulturgeschichte an der Uni Potsdam im Untertitel Ihr Buch "Amok" genannt, das dieses Jahr erschienen ist. Wenn der Amok herrscht, führen die Affekte Regie. Das Wort kommt aus dem Malaiischen, bezeichnet ein extremes Verhalten in blinder Wut, das den Tod in Kauf nimmt. Was ist das? Ein Zeichen für unkontrolliertes und doch zugleich planvolles Verhalten?

    Heiko Christians: Ja, das könnte man sagen. Denn die Frage ist ja, was kann man beobachten und man kann beobachten, dass die Täter sich vorstellen in Internetforen. Man kann beobachten, dass sie sich gut vorbereiten. Und man kann beobachten, jenseits von Verboten, von spezifischen Medien, dass sie so etwas sind wie multimediale Persönlichkeiten. Sie benutzen, zitieren Liedtexte auf den Internetseiten. Sie schreiben, sie filmen sich, sie spielen Computerspiele. Das ist eben nur ein Moment dieser medialen Architektur. Sie tun sehr viel und sie tun sehr normale Dinge und das Merkwürdige ist dann, dass es ab und an, und das können wir nie voraussagen, weder länderspezifisch noch charakterlich oder altersspezifisch, irgendwann kommen so viele Faktoren zusammen, dass es zu dieser Tat kommt, die eben unerwartet kommt, die schrecklich ist, die sehr viel Opfer fordert und die dann durch die Medien geht. Und dann haben wir eben diesen Effekt der Ausbreitung. Denn die Medien sind ja nicht nur dazu verpflichtet, darüber zu informieren, sondern sie müssen es auch so aufbereiten, dass jemand dranbleibt und draufbleibt auf dem Sender.

    Und diese Aufbereitung führt schon wieder dazu, dass da ein potentieller Täter davor sitzen kann und guckt sich das an, eben nicht als Informationsveranstaltung, sondern als Vorlage, als Entwurf für eine Tat, die eben eins ganz sicher ist, und das belegen ja die Berichterstattungen, die dann so sich massieren, sie ist spektakulär. Und das reicht eben manchmal Jungmännern, würde Michael Rutschky sagen, ein Soziologe, den ich sehr schätze, es reicht Jungmännern, um ihre vielleicht vermurkste Biografie noch einmal in einem Punkt so zu intensivieren, dass sie mit dem Ergebnis, und das ist dann so ein apokalyptischer Akt, der dann im Internet angekündigt wird, dass sie mit dem Ergebnis doch noch zufrieden sind. Nur wir können es natürlich nicht sein.

    Köhler: Herr Christians, Sie sind Professor für Medienkulturgeschichte. Bücher sind auch Medien. Und die Literaturgeschichte von Heinrich von Kleists "Kolhaas" bis zu Richard Wagners "Walküren" kennt den Amoklauf, der übrigens kein ruhiger Gang ist, sondern rasende Amazonen, mordende Weiber kennen wir schon in antiken Dramen.

    Christians: So ist es.

    Köhler: Die begegnen einem dauernd. Haben wir den Amok als eine Form von Gerichtstag vergessen, verlernt, verdrängt, kulturell gebannt? Oder gibt es nicht andere Kulturen, in denen er noch präsent ist?

    Christians: Man muss ja sagen, dass wir Gott sei Dank oder auch weniger begrüßenswert so etwas wie einer Weltgesellschaft zustreben. Die Unterschiede werden offensichtlich auch in den Rechtskulturen und was wir für Rechtsnormen und Rechtsverhältnisse einklagen, von Burma oder von Myanmar bis nach ich weiß nicht wohin. Das gleicht sich schon einigermaßen an. Aber wie Sie völlig richtig sagen, dieses Bild vom Gerichtstag ist offensichtlich immer noch als Option in bestimmten Lebenslagen, in bestimmten Milieus, in bestimmten medialen Kontexten relevant, wird praktiziert. Er dringt zunehmend eben auch nach Westeuropa oder ins sogenannte Abendland ein.

    Köhler: Er hat seit zehn Jahren Konjunktur.

    Christians: Er hat Konjunktur.

    Köhler: Wenn ich an die Schulmassaker denke von Amerika bis Erfurt.

    Christians: Ja, das ist richtig. Es gibt so eine Art Konjunktur. Es gibt natürlich auch eine Konjunktur der Berichterstattung und der Rubrizierung von Taten, von Mehrfachmorden, die besonders spektakulär sind unter dieser malaiischen Chiffre Amok.

    Köhler: Ich will mich nicht darüber erheben und geschweige denn lustig machen, und doch hat der Amoklauf auch in Finnland ein theatralisches Moment, weil aus einem Niemand ein Jemand wird?

    Christians: Ja natürlich. Gerade in Gesellschaften, die einen langen Zeitraum durchliefen, um sich zu demokratisieren, um bestimmte Grundsätze von Gleichheit, Gleichstellung, Egalität umzusetzen, in dem Augenblick ist ja der Bedarf und der Anlauf, sich darauf hervorzuheben, hervorzutun, bedarf einer Anstrengung einer Brutalität, einer Aktion, die wir erst mal gar nicht rational verarbeiten können. Und natürlich hat es was Lächerliches, wenn jemand, den wir bis gestern nicht kannten, der sich auch nicht hervorgetan hat durch Dinge, die uns vielleicht in diesem aufgeklärten Kontext, in dem wir dankbarer Weise seit einigen Jahrhunderten leben, besonders beeindruckt hätte, der sich dann hervortut auf diese Weise und einmal auf die große Bühne will, die in dem Fall die Medien sind. Das hat natürlich etwas Tragisches und zugleich etwas Lächerliches.

    Köhler: Große Bühne und Gerichtstag Amok. Zur Geschichte einer Ausbreitung, Heike Christians war das.


    Heiko Christians: Amok: Geschichte einer Ausbreitung, Aisthesis Verlag, 19,80 Euro