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"Das ist keine Einheit, das ist ein Take-over"

Die deutsche Einheit ist nach Ansicht des Schriftstellers Thomas Brussig eher eine Übernahme gewesen. "Die deutsche Einheit war, dass sich im Westen fast nichts geändert hat und im Osten fast alles", sagte Brussig. Beim Thema Rechtsradikalismus sei Ursachenforschung nicht immer angebracht. Vielmehr müssten die Innenminister dafür sorgen, dass die Polizei bei entsprechenden Vorfällen nicht wegschaut.

Moderation: Friedbert Meurer |
    Friedbert Meurer: Genau eine Woche ist es noch hin bis zum Tag der Einheit. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee hat gestern den Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit vorgelegt. Jährlich muss die Bundesregierung Bericht erstatten und Tiefensee zog eine gemischte Bilanz:

    "Die neuen Bundesländer befinden sich auf einem stabilen Wachstumspfad und dennoch gibt es noch eine Fülle von großen, schwerwiegenden Problemen."

    Meurer: Verkehrsminister Tiefensee. - Was auf den 100 Seiten zusammengefasst ist, das fassen die meisten Berichterstatter kurz zusammen in zwei Punkten. Erstens: im Osten gibt es zwar Wachstum, aber immer noch zu wenig. Und zweitens: es gibt zu viel Extremismus auf der rechten Seite und dieser zweite Punkt verstärke Punkt eins. Rechtsextreme schrecken Investoren ab.

    Das klingt alles nicht sehr erheiternd. Einer, der über die DDR, die Wendezeit, die Aufbaujahre scherzen und lachen kann, zumindest literarisch und filmisch, das ist Thomas Brussig, Schriftsteller Jahrgang 1965 aus dem Ostteil Berlins und mit Romanen bekannt geworden wie "Helden wie wir", "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" oder zuletzt "Wie es leuchtet". Schönen guten Morgen Herr Brussig!

    Thomas Brussig: Schönen guten Morgen.

    Meurer: Ist das das Bild, das der Westen sich typischerweise vom Osten macht: wirtschaftlich zurückgeblieben, rechtsradikal, düster?

    Brussig: Ja. - Sie haben mich gefragt, ob das das Bild ist, das sich der Westen typischerweise vom Osten macht, und da sage ich ja. Das ist das Bild, das sich der Westen typischerweise vom Osten macht. Natürlich ist das ein bisschen anders oder da gehört noch etwas mehr dazu, aber ich glaube, dass entscheidend ist, dass die Unzufriedenheit des Westens über den Osten auch daher rührt, dass das alles so mit Zahlen und mit Geld gemessen wird. Wie viel Geld wird da reingesteckt und dann immer noch wirtschaftlich so zurückgeblieben! Wenn man mit den Parametern da rangeht, dann kann sich da nur Unzufriedenheit ergeben.

    Die Sache mit dem Rechtsradikalismus, das ist wirklich schlimm, denn da wo die Rechtsradikalen das Sagen haben, da wo sie ausländerfreie Zonen schaffen, da ist tatsächlich das Grundgesetz außer Kraft gesetzt. Da ist die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland noch gar nicht angekommen und das ist tatsächlich ein großes Problem.

    Meurer: Haben Sie eine Idee, was man da machen kann?

    Brussig: Es ist ja nicht so, dass die Ostdeutschen ausländerfeindlich sind, dass sie grundsätzlich ausländerfeindlich sind. Da gibt es immer wieder Dinge. Die tun dem gebildeten westdeutschen kosmopolitischen Großstädter schon mal einen Stich ins Herz. So einen Spruch über die Polacken gibt es immer mal. Aber diese, sage ich mal, verbalen Dinge über Ausländer, die nicht gut klingen, die hat man eigentlich nur so lange, wie es keine Ausländer gibt. Wenn dann Ausländer im Ort sind, finden dann plötzlich 90 Prozent der Menschen, das sind ja ganz wertvolle Mitglieder der Kommune. Die haben dann überhaupt kein Problem und schämen sich vielleicht auch für die eigenen Vorurteile. Das Problem sind die zehn Prozent, bei denen dann diese verfestigten Einstellungen sind.

    Wenn Sie nach Lösungen fragen? Ich finde, wenn ich da so Dinge höre ... Ich war selber auch mal Gast auf einer Hochzeit. Da hat eine Balkan-Band gespielt. Da dachten dann im Dorf die Rechtsradikalen, das wäre eine Türkenhochzeit. Es war ein deutsches Hochzeitspaar, aber auch wenn es ein türkisches Hochzeitspaar war. Die haben dann die Hochzeit überfallen und wir haben viermal die Polizei anrufen müssen, ehe sie gekommen ist. Und ich höre eben immer wieder, dass die Polizei bei solchen Vorfällen zu spät kommt, wegschaut und sich da falsch verhält. Das sind Sachen, die können ohne weiteres auch von oben eingestielt werden. Wenn der Innenminister seinen Leuten mal sagen würde, Leute, so geht es nicht, dann würde sich da auch was ändern.

    Meurer: Nun sagen ja einige, das liegt an der DDR-Zeit, an der Erziehung, am abgeschotteten Dasein, und andere meinen, es läge an der Arbeitslosigkeit.

    Brussig: Das auf die DDR zu schieben, ist ein bequemes Argument. Damit verschließt man die Augen davor, dass es einfach auch einheitsbedingte Verwerfungen gibt und dass eben die Einheit auch für viele Ostdeutsche ein Schock gewesen ist. Mit der Arbeitslosigkeit, das ist auch nicht richtig. Es korreliert ja nicht streng, dass da, wo hohe Arbeitslosigkeit, ist auch viel Rechtsradikalismus ist. Ich denke, das ist ein sehr komplexes Thema. Und einfach weil es für die betreffenden Ausländer sehr ungemütlich bis lebensbedrohlich ist und für manche auch wirklich tödlich endete, ist Ursachenforschung auch nicht immer angebracht. Ich finde, dass langsam sich bei der Polizei rumsprechen müsste, dass das ein ernst zu nehmendes Problem ist und man nicht mehr bei solchen Vorfällen viermal die Polizei anrufen muss, ehe sie denn dann wirklich kommt, wenn ohnehin schon alles zu spät ist.

    Meurer: Sie haben, Herr Brussig, mal vor einigen Jahren einen Aufsatz geschrieben. Der hatte den Titel "Die Lüge, die Deutsche Einheit heißt". Sind Sie immer noch der Meinung, das ist eine Lüge, die deutsche Einheit?

    Brussig: Das ist Augenwischerei. Ich habe ja damals gesagt, dass die deutsche Einheit ... Was war die deutsche Einheit? Die deutsche Einheit war, dass sich im Westen fast nichts geändert hat und im Osten fast alles. Das ist keine Einheit; das ist ein Takeover. Das sage ich einfach mal ganz wertfrei.

    Ich will jetzt hier nicht so, ... Ich klinge jetzt hier so beleidigt oder so, als ob ich den Westen attackieren will. So ist es gar nicht. Ich versuche hier einfach nur, die Dinge zu benennen und zu Sachen, die in Sonntagsreden schön klingen oder die in solchen Berichten schön klingen, einfach zu sagen: Moment mal, ganz so einfach ist es nicht.

    Meurer: Was wäre denn bewahrenswert gewesen?

    Brussig: So toll fand ich die DDR nun auch nicht und die Zeit, darüber nachzudenken, die blieb mir nicht. Es gibt Lehrer, die aus dem Osten kommen und die sagen, der Westen hat uns PISA eingebracht und dass nun Kommissionen nach Finnland fahren, um dort das DDR-Bildungswesen zu studieren. Da ist im Zuge der Einheit manches recht schnell und ungeprüft entsorgt worden. Wenn Sie mich jetzt fragen, was das alles war? Ich war auch nicht gerne Schüler in der DDR, so dass ich jetzt auch nicht ohne weiteres dieses Bildungswesen verteidigen kann. Das geht jetzt hier ein bisschen schnell hin und her. Aber die Messe ist gesungen. Die Fehler sind gemacht worden Anfang der 90er Jahre. Sie sind im Zuge der Einheit gemacht worden, und da kann man jetzt auch nicht mehr dran drehen.

    Meurer: Da wir angefangen haben mit dem düsteren Bild, das der Westen sich vom Osten macht: Herr Brussig. In Ihrem Buch "Sonnenallee" sagt an einer Stelle Ihr Held, Zitat: "Es war von vorn bis hinten zum Kotzen in der DDR, aber wir haben uns prächtig amüsiert". Über was kann man sich heute in den neuen Ländern amüsieren?

    Brussig: Ich bin ja nicht nur Berliner, und Berlin ist noch mal ein Fall für sich, sondern ich bin auch Mecklenburger. Die Hälfte des Jahres lebe ich in Mecklenburg.

    Meurer: Da ist ja ganz besonders schlimm!

    Brussig: Ja, und ich bin auch schockiert über diese Wahlergebnisse, und ich bin deshalb so schockiert, weil ich diese Stimmung überhaupt nicht wahrnehme. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in dem Dorf, in dem ich wohne, dass dort Hetzjagden auf Ausländer stattfinden würden, gebe aber auch zu, dass es dort keine Ausländer gibt. Aber es gibt eben auch keine oder ich spüre da keine ausländerfeindliche Stimmung.

    Aber Sie fragten, worüber man sich amüsieren kann. Dieser Satz ist ja auch ein Erinnerungssatz und weil die DDR nicht mehr existiert, kann man sie auch nostalgisch betrachten. Das was momentan existiert kann man nicht nostalgisch betrachten. Aber ich bin trotzdem gerne Mecklenburger. Ich fühle mich da sehr wohl, einfach weil die Menschen dort so freundlich sind. In Berlin ist immer so ein ruppiger Ton. In den vier Jahren, in denen ich jetzt in Mecklenburg bin, ist es mir ganze zweimal gelungen, wirklich mit Leuten richtig zusammenzurasseln. In Berlin passiert das jede Woche einmal.

    Meurer: Ein Plädoyer für die Mecklenburger und die Vorpommern. - Thomas Brussig, der Schriftsteller aus Berlin, bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk aus Anlass des Jahresberichts zum Stand der deutschen Einheit. Herr Brussig, herzlichen Dank und auf Wiederhören!

    Brussig: Danke auch. Tschüß!