"In den letzten Jahren ist es unmöglich geworden, eine Zeitung aufzuschlagen, ohne dass ich mich – wie es die Religiösen nennen würden – 'verletzt' fühle. Ich glaube nicht, dass ich selbstmitleidig klinge, wenn ich sage, dass ich mich verletzt fühle, wenn ein Karikaturist im kleinen demokratischen Dänemark mit Todesdrohungen leben muss, und wenn keine amerikanische Zeitung diese Karikaturen nachdruckt – weder um der Aufklärung willen noch aus Solidarität. Ich fühle mich verletzt, wenn die Zivilgesellschaft im Irak durch Gotteskrieger zerstört wird. Ich fühle mich verletzt, wenn Leute in den USA glauben, dass sie das Recht haben, zu fordern, dass ihren Kindern ein Schund namens 'inntelligent design' gelehrt werden soll. Das ist Schwachsinn! Gefährlicher, finsterer Schwachsinn! Der Papst sagt: 'AIDS mag ja schlimm sein, aber Kondome sind viel schlimmer!' Was für eine moralische Lehre ist das, und wie viele Menschen werden wegen dieses Dogmas sterben."
Christopher Hitchens ist ein Mann der erfrischend klaren Worte. Der Engländer, der in Washington lebt, hat ein Buch darüber verfasst, wie die Religion alles vergiftet. Damit liegt er im Trend: Nicht nur sein Buch stürmte in den USA die Bestseller-Listen, auch andere Atheisten fühlen sich wie Hitchens genötigt, ihre Stimme gegen religiösen Wahn zu erheben. Und anders als in Deutschland, wo sich ein Drittel der Bürger ohnehin zu keiner Religion bekennt und viele seiner Thesen wohl mit einem zustimmenden Schulterzucken abgetan werden, läuft er in den USA, wo viele Gläubige Darwin aus den Schulen verbannt sehen wollen, keine offenen Türen ein. Hitchens ist es wirklich ernst. Er will überzeugen, weil ihm religiöse Menschen im Grunde leid tun und er die Religion für eine Gefahr hält. Er wolle die Menschen ja nicht der Wunder und des Trosts berauben; aber: Wer falschen Trost anbiete, sei eben auch ein falscher Freund!
Er ruft dazu auf, den überflüssig gewordenen Glauben abzuwerfen, denn schließlich wäre ja nun inzwischen überzeugend nachgewiesen, dass die Mythen falsch und menschengemacht seien und dass die Naturwissenschaften bessere Antworten auf die Rätsel der Welt bereithalten als vermeintlich heilige Schriften. Er, Hitchens, könne den Schmerz nachfühlen, denn auch er habe sich vom Glauben, wenn auch vom säkular-marxistischen, freigemacht.
Mit Gott selbst beschäftigt sich Hitchens erstaunlich wenig, schlichtweg, weil ihm noch keiner dessen Existenz nachgewiesen hat. Eher hat er Mitleid mit ihm, wenn er sieht, was ihm von seinen Anhängern alles aufgeladen wird. Jahrtausendealte Schriften, von Menschen aufgeschrieben, verändert und interpretiert, missverstanden und benutzt. Sie mögen ja damals, als Blitz und Donner noch unlösbare Rätsel waren, hilfreich gewesen sein, die Welt erklärbar zu machen. Aber heute? Sich der faszinierenden Welt der Wissenschaft zu verschließen und auf die Erlösung zu warten sei, so Hitchens:
"Als werfe jemand von einer köstlichen und duftenden Frucht, die mühsam und liebevoll außerhalb der Saison in einem speziellen Treibhaus gezogen wurde, Fruchtfleisch und Saft weg und kaue mißmutig auf dem Kern herum."
Und seien die Erkenntnisse der modernen Hirn- und Genforschung, die faszinierenden Theorien über die Entstehung des Weltalls nicht viel aufregender und glaubwürdiger als die Geschichte von der jungfräulichen Geburt, von der Wiederauferstehung, vom Versprechen eines Himmelreichs? Naturwissenschaften, Archäologie, Zoologie, Ironie – Hitchens ist wohlgewappnet. Er arbeitet sich wohlbelesen und zumeist elegant argumentierend an seinen 4 Hauptthesen ab: Dass die Religionen die Ursprünge des Menschen und des Universums bewiesenermaßen falsch darstellten; dass sie ein Höchstmaß an Unterwürfigkeit mit einem Höchstmaß an Selbstbezogenheit verbänden; dass sie Ursache gefährlicher sexueller Repression seien und dass sie auf Wunschdenken fußten. Hitchens aber möchte freie, selbständig denkende Menschen, denen ihr eigenes Gewissen als moralischer Maßstab genügt. Aber wie sieht es mit den 10 Geboten aus, die ja in abgewandelter Form Grundlage einer jeden sozialen Ordnung sind, egal, ob sie immer respektiert werden oder nicht?
"Soll man denn wirklich glauben, dass Moses’ Nachfolger, bevor sie zum Berg Sinai kamen, Ehebruch, Mord, Diebstahl und Meineid für lässliche Vergehen hielten? Dass ihnen gesagt wurde: 'He, wir haben ein paar neue Ideen für euch!' Nein, ich glaube, dass unsere Vorfahren klüger waren; sonst hätten sie es nicht so weit gebracht. Sie brauchen keinem Kind die goldene Regel beibringen. Sie brauchen ihm nicht sagen: 'Wenn du diese Regel nicht befolgst, wirst du für immer in der Hölle schmoren!' Das ist amoralisch!""
Das durchschnittliche Gewissen hält Hitchens für solide genug, die gängigen ethischen Normen des Zusammenlebens zu befolgen, "ohne dass ständig der himmlische Zorn drohend über allem schweben müßte". Dies mag man im Einzelfall bejahen, aber ist unsere moderne kapitalistische Welt in der Lage, diese "ewigen" ethischen Normen auch zu tradieren und aus sich selbst zu begründen? Hitchens stellt, ohne Not, das christliche Gebot der Nächstenliebe zur Disposition, weil es nicht befolgbar sei, da es uns unmöglich sei, den anderen so zu lieben wie uns selbst. "So what?" könnte man fragen, was ist das Problem daran? Wo wären wir, wenn wir uns immer nur von vornherein offenbar erfüllbare Ziele und Normen gesetzt hätten?
Vor allem in einer Frage möchte Hitchens nicht mißverstanden werden: Er hält die Taten fanatischer Religiöser nicht für Auswüchse! Menschen, die Tieropfer bringen, Selbstmordattentate begehen, sich zu Ostern an Kreuze nageln lassen, ihren Anspruch auf umstrittenes Land mit einer 6.000 Jahre alten Schrift beweisen wollen – all dies sei schon in den Verkündigungen angelegt. Religiöse Fanatiker eiferten in bester Tradition ihrem gemeinsamen Urvater Abraham nach, dessen Freibrief für das Blutopfer unsere gesamte Zivilisation vergifte:
""Sagt das Alte Testament etwa nicht, dass Abraham eine edle Tat vollbrachte, als er seinen Sohn als Opfer darbot, um Gott seine Loyalität zu beweisen? Er wurde dafür mit ewigem Ruhm und einem langen Leben belohnt. Seinen Sohn zu opfern, weil man Stimmen im Kopf hört – das ist keine moralische Lehre für mich!"
Letztlich geht es Hitchens immer wieder um die Frage, ob Religion in der Lage ist, vernünftige und erfüllbare moralische Gebote aufzustellen. Diese Frage verneint er vehement. Denn was seien fromme Regeln wert, wenn an anderer Stelle der gleichen Schrift ein Freibrief für Menschenhandel, Sklaverei, Zwangsehe, ethnische "Säuberungen" und Massaker ausgestellt werde? Hier, wie auch an anderer Stelle, wünscht man sich, dass der Autor stärker differenzieren würde: zwischen der Kirche im Mittelalter und heute, zwischen Islam und Christentum, zwischen europäischer und afrikanischer Religionsausübung. Die christliche Kirche misst er noch immer an den Kreuzzügen, den Islam an historischen Eroberungen.
"Viele Religionen kommen heute schmeichlerisch lächelnd mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, wie schmierige Händler auf einem Basar. Im Wettbewerb mit anderen Marktschreiern versprechen sie uns Trost, Solidarität und Läuterung. Aber wir dürfen daran erinnern, wie barbarisch sie sich aufgeführt haben, als sie noch stark waren und den Menschen ein Angebot machten, das sie nicht ablehnen konnten. Wer vergessen hat, wie das gewesen sein muss, kann sich einfach die Staaten und Gesellschaften ansehen, in denen die Geistlichkeit noch über die Macht verfügt, ihre Bedingungen zu diktieren."
Zu Recht beklagt Hitchens das katholische Verbot der Familienplanung, sexuelle Verklemmtheit und Repression des Islam, die muslimische und animitische Genitalverstümmelung der Mädchen, die Beschneidung der jüdischen Jungen – allesamt Auswüchse einer zutiefst gestörten Sexualität oder Überreste eines atavistischen Menschenopfers.
Hitchens weiß auch, wo die Kritiker angreifen werden: Ausführlich lässt er den Einwand zu Worte kommen, dass es ja die säkularen Regimes des 20. Jahrhunderts waren, die die schlimmsten Verbrechen überhaupt begangen hätten. Er wischt ihn mit dem Argument vom Tisch, dass "die Wurzel und die Quelle des totalitären Antriebs im Wesentlichen ein Religiöser" sei, dass die kommunistischen Absolutisten die Religion nicht einfach abschaffen, sondern durch einen neuen Kult ersetzen wollten. Letztlich habe sich die Kirche mit Stalin und seinen Satrapen arrangiert. Auch die Faschisten seien in vielen Ländern von Katholiken begrüßt worden. Differenzierungen fallen bei Hitchens immer wieder gleichmachenden Thesen zum Opfer. Wenn er dann das totalitäre Prinzip, das Hannah Arendt nach den Erfahrungen von Faschismus und Kommunismus beschrieben hat, auch in der frühen Menschheitsgeschichte verortet, begibt er sich endgültig auf historisches Glatteis. So wird von ihm jeder Konflikt zum religiösen umgedeutet, sei er nun ethnisch, ökonomisch, sozial, historisch oder politisch begründet. Dies schwächt seine ansonsten sehr präzise Argumentation.
Ebenso geht er über den karitativen Impuls vieler Religionen hinweg, über den Drang des Menschen zur Transzendenz, über die Tröstungen, die vielen Menschen der Glaube gibt.
Dennoch ist es gut, dass es dieses Buch gibt, da es einen Standpunkt in einer Zeit herausfordert, in der sich die Religion in Teilen der Welt zur bestimmenden politischen Kraft entwickelt. Und selbst moderne Demokratien des 21. Jahrhunderts sind nicht davor gefeit, dass sich ihre Repräsentanten als von Gott gesandt verstehen und deshalb für unfehlbar halten. Hitchens verteidigt mit grimmiger Ironie die aufgeklärte Welt gegen die Allianz der Frömmler. Er will die Knie nicht beugen und verlangt von Religiösen genau so viel Respekt, wie er ihnen entgegenbringt.
Das Projekt der Aufklärung, mit großer Verve vor 300 Jahren gestartet, inzwischen aber etwas erlahmt, kann einen neuen Antrieb gut gebrauchen. Denn der "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" ist nie zu Ende.
Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. Blessing Verlag München, 352 Seiten, 17,90 Euro.
Christopher Hitchens ist ein Mann der erfrischend klaren Worte. Der Engländer, der in Washington lebt, hat ein Buch darüber verfasst, wie die Religion alles vergiftet. Damit liegt er im Trend: Nicht nur sein Buch stürmte in den USA die Bestseller-Listen, auch andere Atheisten fühlen sich wie Hitchens genötigt, ihre Stimme gegen religiösen Wahn zu erheben. Und anders als in Deutschland, wo sich ein Drittel der Bürger ohnehin zu keiner Religion bekennt und viele seiner Thesen wohl mit einem zustimmenden Schulterzucken abgetan werden, läuft er in den USA, wo viele Gläubige Darwin aus den Schulen verbannt sehen wollen, keine offenen Türen ein. Hitchens ist es wirklich ernst. Er will überzeugen, weil ihm religiöse Menschen im Grunde leid tun und er die Religion für eine Gefahr hält. Er wolle die Menschen ja nicht der Wunder und des Trosts berauben; aber: Wer falschen Trost anbiete, sei eben auch ein falscher Freund!
Er ruft dazu auf, den überflüssig gewordenen Glauben abzuwerfen, denn schließlich wäre ja nun inzwischen überzeugend nachgewiesen, dass die Mythen falsch und menschengemacht seien und dass die Naturwissenschaften bessere Antworten auf die Rätsel der Welt bereithalten als vermeintlich heilige Schriften. Er, Hitchens, könne den Schmerz nachfühlen, denn auch er habe sich vom Glauben, wenn auch vom säkular-marxistischen, freigemacht.
Mit Gott selbst beschäftigt sich Hitchens erstaunlich wenig, schlichtweg, weil ihm noch keiner dessen Existenz nachgewiesen hat. Eher hat er Mitleid mit ihm, wenn er sieht, was ihm von seinen Anhängern alles aufgeladen wird. Jahrtausendealte Schriften, von Menschen aufgeschrieben, verändert und interpretiert, missverstanden und benutzt. Sie mögen ja damals, als Blitz und Donner noch unlösbare Rätsel waren, hilfreich gewesen sein, die Welt erklärbar zu machen. Aber heute? Sich der faszinierenden Welt der Wissenschaft zu verschließen und auf die Erlösung zu warten sei, so Hitchens:
"Als werfe jemand von einer köstlichen und duftenden Frucht, die mühsam und liebevoll außerhalb der Saison in einem speziellen Treibhaus gezogen wurde, Fruchtfleisch und Saft weg und kaue mißmutig auf dem Kern herum."
Und seien die Erkenntnisse der modernen Hirn- und Genforschung, die faszinierenden Theorien über die Entstehung des Weltalls nicht viel aufregender und glaubwürdiger als die Geschichte von der jungfräulichen Geburt, von der Wiederauferstehung, vom Versprechen eines Himmelreichs? Naturwissenschaften, Archäologie, Zoologie, Ironie – Hitchens ist wohlgewappnet. Er arbeitet sich wohlbelesen und zumeist elegant argumentierend an seinen 4 Hauptthesen ab: Dass die Religionen die Ursprünge des Menschen und des Universums bewiesenermaßen falsch darstellten; dass sie ein Höchstmaß an Unterwürfigkeit mit einem Höchstmaß an Selbstbezogenheit verbänden; dass sie Ursache gefährlicher sexueller Repression seien und dass sie auf Wunschdenken fußten. Hitchens aber möchte freie, selbständig denkende Menschen, denen ihr eigenes Gewissen als moralischer Maßstab genügt. Aber wie sieht es mit den 10 Geboten aus, die ja in abgewandelter Form Grundlage einer jeden sozialen Ordnung sind, egal, ob sie immer respektiert werden oder nicht?
"Soll man denn wirklich glauben, dass Moses’ Nachfolger, bevor sie zum Berg Sinai kamen, Ehebruch, Mord, Diebstahl und Meineid für lässliche Vergehen hielten? Dass ihnen gesagt wurde: 'He, wir haben ein paar neue Ideen für euch!' Nein, ich glaube, dass unsere Vorfahren klüger waren; sonst hätten sie es nicht so weit gebracht. Sie brauchen keinem Kind die goldene Regel beibringen. Sie brauchen ihm nicht sagen: 'Wenn du diese Regel nicht befolgst, wirst du für immer in der Hölle schmoren!' Das ist amoralisch!""
Das durchschnittliche Gewissen hält Hitchens für solide genug, die gängigen ethischen Normen des Zusammenlebens zu befolgen, "ohne dass ständig der himmlische Zorn drohend über allem schweben müßte". Dies mag man im Einzelfall bejahen, aber ist unsere moderne kapitalistische Welt in der Lage, diese "ewigen" ethischen Normen auch zu tradieren und aus sich selbst zu begründen? Hitchens stellt, ohne Not, das christliche Gebot der Nächstenliebe zur Disposition, weil es nicht befolgbar sei, da es uns unmöglich sei, den anderen so zu lieben wie uns selbst. "So what?" könnte man fragen, was ist das Problem daran? Wo wären wir, wenn wir uns immer nur von vornherein offenbar erfüllbare Ziele und Normen gesetzt hätten?
Vor allem in einer Frage möchte Hitchens nicht mißverstanden werden: Er hält die Taten fanatischer Religiöser nicht für Auswüchse! Menschen, die Tieropfer bringen, Selbstmordattentate begehen, sich zu Ostern an Kreuze nageln lassen, ihren Anspruch auf umstrittenes Land mit einer 6.000 Jahre alten Schrift beweisen wollen – all dies sei schon in den Verkündigungen angelegt. Religiöse Fanatiker eiferten in bester Tradition ihrem gemeinsamen Urvater Abraham nach, dessen Freibrief für das Blutopfer unsere gesamte Zivilisation vergifte:
""Sagt das Alte Testament etwa nicht, dass Abraham eine edle Tat vollbrachte, als er seinen Sohn als Opfer darbot, um Gott seine Loyalität zu beweisen? Er wurde dafür mit ewigem Ruhm und einem langen Leben belohnt. Seinen Sohn zu opfern, weil man Stimmen im Kopf hört – das ist keine moralische Lehre für mich!"
Letztlich geht es Hitchens immer wieder um die Frage, ob Religion in der Lage ist, vernünftige und erfüllbare moralische Gebote aufzustellen. Diese Frage verneint er vehement. Denn was seien fromme Regeln wert, wenn an anderer Stelle der gleichen Schrift ein Freibrief für Menschenhandel, Sklaverei, Zwangsehe, ethnische "Säuberungen" und Massaker ausgestellt werde? Hier, wie auch an anderer Stelle, wünscht man sich, dass der Autor stärker differenzieren würde: zwischen der Kirche im Mittelalter und heute, zwischen Islam und Christentum, zwischen europäischer und afrikanischer Religionsausübung. Die christliche Kirche misst er noch immer an den Kreuzzügen, den Islam an historischen Eroberungen.
"Viele Religionen kommen heute schmeichlerisch lächelnd mit ausgebreiteten Armen auf uns zu, wie schmierige Händler auf einem Basar. Im Wettbewerb mit anderen Marktschreiern versprechen sie uns Trost, Solidarität und Läuterung. Aber wir dürfen daran erinnern, wie barbarisch sie sich aufgeführt haben, als sie noch stark waren und den Menschen ein Angebot machten, das sie nicht ablehnen konnten. Wer vergessen hat, wie das gewesen sein muss, kann sich einfach die Staaten und Gesellschaften ansehen, in denen die Geistlichkeit noch über die Macht verfügt, ihre Bedingungen zu diktieren."
Zu Recht beklagt Hitchens das katholische Verbot der Familienplanung, sexuelle Verklemmtheit und Repression des Islam, die muslimische und animitische Genitalverstümmelung der Mädchen, die Beschneidung der jüdischen Jungen – allesamt Auswüchse einer zutiefst gestörten Sexualität oder Überreste eines atavistischen Menschenopfers.
Hitchens weiß auch, wo die Kritiker angreifen werden: Ausführlich lässt er den Einwand zu Worte kommen, dass es ja die säkularen Regimes des 20. Jahrhunderts waren, die die schlimmsten Verbrechen überhaupt begangen hätten. Er wischt ihn mit dem Argument vom Tisch, dass "die Wurzel und die Quelle des totalitären Antriebs im Wesentlichen ein Religiöser" sei, dass die kommunistischen Absolutisten die Religion nicht einfach abschaffen, sondern durch einen neuen Kult ersetzen wollten. Letztlich habe sich die Kirche mit Stalin und seinen Satrapen arrangiert. Auch die Faschisten seien in vielen Ländern von Katholiken begrüßt worden. Differenzierungen fallen bei Hitchens immer wieder gleichmachenden Thesen zum Opfer. Wenn er dann das totalitäre Prinzip, das Hannah Arendt nach den Erfahrungen von Faschismus und Kommunismus beschrieben hat, auch in der frühen Menschheitsgeschichte verortet, begibt er sich endgültig auf historisches Glatteis. So wird von ihm jeder Konflikt zum religiösen umgedeutet, sei er nun ethnisch, ökonomisch, sozial, historisch oder politisch begründet. Dies schwächt seine ansonsten sehr präzise Argumentation.
Ebenso geht er über den karitativen Impuls vieler Religionen hinweg, über den Drang des Menschen zur Transzendenz, über die Tröstungen, die vielen Menschen der Glaube gibt.
Dennoch ist es gut, dass es dieses Buch gibt, da es einen Standpunkt in einer Zeit herausfordert, in der sich die Religion in Teilen der Welt zur bestimmenden politischen Kraft entwickelt. Und selbst moderne Demokratien des 21. Jahrhunderts sind nicht davor gefeit, dass sich ihre Repräsentanten als von Gott gesandt verstehen und deshalb für unfehlbar halten. Hitchens verteidigt mit grimmiger Ironie die aufgeklärte Welt gegen die Allianz der Frömmler. Er will die Knie nicht beugen und verlangt von Religiösen genau so viel Respekt, wie er ihnen entgegenbringt.
Das Projekt der Aufklärung, mit großer Verve vor 300 Jahren gestartet, inzwischen aber etwas erlahmt, kann einen neuen Antrieb gut gebrauchen. Denn der "Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" ist nie zu Ende.
Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet. Blessing Verlag München, 352 Seiten, 17,90 Euro.