Freitag, 29. März 2024

Archiv


"Das ist seit Jahren bekannt"

Der Vorsitzende der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi, verteidigt die Beschäftigung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern im öffentlichen Dienst. Die Fälle seien überprüft worden und man habe entschieden, dass gegen die Personen nichts Besonderes vorliege und sie weiterbeschäftigt werden können.

Gregor Gysi im Gespräch mit Jacqueline Boysen | 12.07.2009
    Jacqueline Boysen: Herr Gysi, in dieser Woche holte die Vergangenheit erneut diejenigen ein, die in der DDR dem MfS dienten und die nun seit immerhin 19 Jahren in Diensten der Bundesrepublik stehen - hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, die heute in diversen ostdeutschen Bundesländern, bei der Polizei und an anderen Stellen in den Landesverwaltungen und auch in Bundesbehörden, teilweise jedenfalls, arbeiten.

    Wir wollen gar nicht Ihre eigene komplizierte Überprüfungsgeschichte wieder aufrollen, aber ich möchte von Ihnen gerne wissen, wie Sie die gängigen Überprüfungsverfahren im öffentlichen Dienst beurteilen.

    Gregor Gysi: Nun, ich kann das im Einzelnen gar nicht beurteilen, weil das in den Ländern sehr unterschiedlich gelaufen ist. Ich verstehe allerdings jetzt nicht die Neuentdeckung. Das ist ja seit Jahren bekannt. Also, die Fälle wurden überprüft, und dann hat man entschieden, dass da nichts Besonderes vorliege und diejenige Person weiterbeschäftigt werden könne.

    Ich wusste von Anfang an, dass zum Beispiel die Personenschützer, die ja beim MfS angestellt waren, übernommen wurden auch für die Bundesministerinnen und Bundesminister. Deshalb wundere ich mich ein bisschen, weshalb das plötzlich im Jahre 2009 eine neue Erkenntnis sein soll.

    Natürlich kann es ja Fälle geben, wo man es nicht gewusst hat, da sieht dann die Sache anders aus. Nur - wir müssen auch irgendwann einmal einem anderen Gedanken Rechnung tragen: Wir können ja nicht dabei bleiben, dass nach einer bestimmten Zeit zum Beispiel Totschlag verjährt und anderes hört auch nach 40 Jahren nicht auf oder so.

    Boysen: Naja, das sind ja keine Dinge, die verjähren, weil sie vielleicht eine strafrechtliche Relevanz hätten. Die haben die eben gerade nicht.

    Gysi: Ja, aber die Konsequenz ist ja zum Teil schärfer, verstehen Sie? Nach einer strafrechtlichen Relevanz und einer Vorstrafe, wenn sie denn getilgt ist, kann man zum Beispiel in den öffentlichen Dienst gehen, bei anderen Sachen nicht.

    Ich möchte ja nur, dass wir es auch nicht übertreiben. Ich gehe einfach davon aus: Das sind Fälle, die überprüft worden sind und wo man der Meinung war, dass das nicht dagegen spricht, dass jemand im öffentlichen Dienst tätig ist. Und wenn das jetzt beanstandet wird, dann soll man es konkret machen, nicht allgemein, sondern dann soll man sagen: Bei der Person liegt das und jenes vor, was dagegen spricht. Und dann kann man es überprüfen.

    Boysen: Was ist eigentlich mit den inoffiziellen Mitarbeitern im Westen, die ja tatsächlich einem Straftatbestand entsprechen würden, weil sie Spionage betrieben haben?

    Gysi: Ja, ich weiß nicht, ich habe immer den Eindruck - aber Sie können mich gerne eines Besseren belehren -, dass die zuständige Behörde beim Osten sehr aktiv war und beim Westen eher inaktiv. Das Problem ist doch folgendes, ohne dass ich jetzt die Zeiten vergleiche, ich bitte, mich nicht misszuverstehen: Nach 1945 betraf es die gesamte Bevölkerung, und deshalb war die Aufarbeitung, vor allen Dingen auch in der alten Bundesrepublik, sehr zögerlich und zurückhaltend.

    Diesmal geht es ja nur um den Osten, damit nur um ein Fünftel der Bevölkerung. Und da ist es natürlich so, dass vier Fünftel sich sagen: Das ist ja nicht schlecht, diesmal können wir ja mal gründlich aufarbeiten - in der Hoffnung, dass es sie selbst nicht trifft. Nun trifft es einen kleinen Teil doch, und man wollte das nicht. Es sollte ja etwas Spezifisches für den Osten sein, nicht etwas auch für den Westen.

    Boysen: Lassen Sie doch mal Ihre Fantasie spielen: Hätte man denn einen Elitewechsel anders organisieren können?

    Gysi: Wenn man das gemacht hätte, hätte man sich die Oststrukturen genau angesehen, dann hätte man gesagt: Über 90 Prozent müssen wir überwinden, aber die Dinge sind ganz vernünftig, die führen wir in ganz Deutschland ein.

    Wissen Sie, warum das so wichtig gewesen wäre - nicht nur für das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, sondern für die Westdeutschen wäre das wichtig gewesen: Weil sie mit der Vereinigung die Erfahrung verbunden hätten, dass bei Kindertagesstätten, bei Schulen, bei Polykliniken ...

    Boysen: Halt, Stopp, Kindertageseinrichtungen und Schulen dienten dazu, den Staatsbürger der DDR zu erziehen.

    Gysi: Ich wusste, dass Sie gleich damit kommen, aber lassen Sie mich das trotzdem zu Ende sagen: Im Arbeitsrecht und in anderen Gebieten Strukturen einführen - im Westen aus dem Osten, und damit den Leuten im Westen das Erlebnis ermöglichen, dass sich ihre Lebensqualität durch die Übernahme von Oststrukturen mit der Herstellung der Einheit erhöht hat.

    Ja, Sie dürfen mich doch nicht für so naiv oder blöd halten. Ich meine doch damit nicht die FDJ-Appelle oder den Staatsbürgerkundeunterricht, sondern ich meine, dass es zum Beispiel eine Struktur gab, die zumindest eine soziale Ausgrenzung verhindert hat, dass es eine Struktur gab, die die Nachmittagsbetreuung für Kinder gesichert hat, wenn beide Eltern arbeiteten, dass es ein Angebot für Kindereinrichtungen gab vom nullten bis zum sechsten Lebensjahr, wo durchaus qualifizierte Kräfte sich auch ganztägig darum gekümmert haben. Also, ich meine doch nicht den Inhalt. Man kann auch den Inhalt einer Freizeitgestaltung ...

    Boysen: Der Effekt war aber, dass es antiplural zuging, und das widerspricht dem, was wir heute wollen.

    Gysi: Ja, Wettbewerb in der Schule, tolles System - 16 verschiedene Schulsysteme.

    Boysen: Die Vielfalt.

    Gysi: Ich meine, ein Minimum von Logik schadet doch auch in der Politik nicht, oder?

    Boysen: Herr Gysi, wir feiern in diesem Jahr 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre Mauerfall. Was bedeutet Ihnen das Grundgesetz?

    Gysi: Das Beste am Grundgesetz ist zunächst mal der Artikel 1. Ich glaube, es gibt keine andere Verfassung auf der Welt, die mit dem Satz anfängt "Die Würde des Menschen ist unantastbar".

    Das heißt ja nicht, dass das wirklich realisiert ist. Aber das ist ein ungeheurer Anspruch, der so zusagen zeigt, dass eine Lehre gezogen wurde aus der Zeit von 1933 bis 1945. Und das Zweite, was ich auch für besonders wichtig halte: Im Artikel 14 ist das erste Mal die Orientierung des Eigentümers auf das Allgemeinwohl, indem er sagt, Eigentum verpflichtet und soll zugleich dem Allgemeinwohl dienen. Auch das ist ja ein ganz wichtiger Umstand.

    Diese beiden Artikel sind wirklich völlig verinnerlicht in der Bevölkerung. Sie werden kaum jemanden treffen, der die beiden nicht kennt. Das heißt, dass es eine große Bedeutung hat.

    Boysen: Wie kommt es denn aber, dass doch im Osten die Hälfte der Bürger sagt, dass die Demokratie nur ganz schlecht geeignet sei, die gesellschaftlichen Probleme zu bewältigen?

    Gysi: Das liegt daran, dass die Demokratie nicht in der Lage ist, ihre sozialen Ängste abzubauen und die sozialen Probleme zu lösen. Und das hängt wieder damit zusammen - und das ist die Schwäche des Grundgesetzes -, dass die sozialen Grundrechte dort nicht verankert sind.

    Im Kern sind die sozialen Grundrechte vom Bundesverfassungsgericht über das Sozialstaatsprinzip herausgearbeitet worden. Das habe ich auch immer als Schwäche des Grundgesetzes bezeichnet. In der DDR, und das war die umgekehrte Erfahrung, gab es solche Grundrechte in der Verfassung, dafür waren die politischen sehr klein geschrieben.

    Das ist ja auch eine spannende Frage, und das müssen Sie auch akzeptieren, dass Menschen in unterschiedlichen Situationen sind. Und wenn ich gelernt habe als Partei - und das ist das, was ich immer meinen Mitgliedern sage -, dann muss ich wissen: Wir lassen uns auf die Alternative nie wieder ein.

    In der DDR - muss ich Ihnen sagen - wurde mir immer erklärt: Meine Freiheitsvorstellung ging nicht, weil dann könnte man die soziale Sicherheit so nicht gewährleisten. Die FDP erklärt mir heute, dass eine Freiheit eine solche soziale Sicherheit, wie ich sie mir vorstelle, nicht ermöglicht. Ich will beides nicht akzeptieren. Ich sage, ich mache es nur noch in der Einheit: Freiheit und soziale Gerechtigkeit.

    Boysen: Ihre Partei betreibt ja ausdrücklich Kapitalismuskritik. Riskieren Sie damit nicht ...

    Gysi: Nicht nur meine Partei.

    Boysen: Ja, aber die besonders. Riskieren Sie damit nicht auch, dass das Demokratiebewusstsein in den ja nicht mehr ganz neuen Bundesländern geschwächt wird, weil vielfach eine Enttäuschung da ist, die Sie so zusagen künstlich noch schüren?

    Gysi: Nein, wir schüren nicht künstlich, sondern die ist einfach da. Das Problem ist, dass wir eine politische Demokratie haben und keine Wirtschaftsdemokratie. So einfach ist es. Es gibt keine Wirtschaftsdemokratie. Und genau das muss überwunden werden. Es hat ja auch bei mir eine Zeit gedauert, bis ich das begriffen habe - dass immer bei der Wirtschaft das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Und deshalb sage ich ...

    Boysen: Das zeigt sich ja jetzt, dass da doch erstaunlich viel Spielraum ist.

    Gysi: Ja, aber doch nicht für den Mitarbeiter der Deutschen Bank. Was hat der denn da groß zu entscheiden, verstehen Sie? Das Problem ist ... So bin ich ja mit Oskar [Lafontaine] auf die Idee gekommen, dass wir zum Beispiel Belegschaftsmiteigentum fördern müssen, damit es eben wirklich eine höhere Mitbestimmung gibt. Alles andere ist nur Gesetz.

    Deshalb bin ich dafür, dass wir uns Gedanken machen, wie wir die politische Demokratie, die ich Ihnen gerne bestätige, die ist auch wichtig ... Da sag ich übrigens immer auf meinem Parteitag, als die alle daran rummeckerten, da habe ich gesagt: Na ja, wir hätten ja mal versuchen können, in der DDR einen solchen Parteitag in Opposition zur Regierung zu machen, ich weiß gar nicht genau, wie der stattgefunden hätte. Da mussten dann alle lachen, weil das völlig absurd gewesen wäre, verstehen Sie?

    Aber auf der anderen Seite sage ich: Gerade wir müssen auch kritisieren, dass wir viel zu wenig Demokratie in der Wirtschaft haben. Kurzum: Ich glaube, wir müssen unsere Gesellschaft, wir müssen unsere Demokratie entwickeln, auf der politischen Ebene dadurch, dass wir auch Volksentscheide, Volksinitiativen zulassen, das ist mir ein wichtiges Anliegen.

    Aber trotzdem sage ich noch mal: In der Politik haben wir eine Demokratie. Sie reicht mir nicht völlig aus, aber wir haben eine. Aber in der Wirtschaft müssen wir was machen. Und die Finanzkrise und die Wirtschaftskrise zeigen auch, dass wir das nicht einfach laufen lassen können wie bisher.

    Boysen: Herr Gysi, lassen Sie uns Ihre Partei anschauen. Zwei Jahre nach der Vereinigung von PDS und WASG ist diese Partei offenkundig noch nicht verschmolzen. Es gibt Grüppchen hier, die wenig gemein haben mit den Grüppchen dort. Wir haben das am Parteitag gesehen, am Ende einigt man sich auf ein Wahlprogramm - eines mit Maximalforderungen, wenn ich mir das erlauben darf zu sagen.

    Gysi: Na, da finden Sie aber keine Maximalforderungen, aber okay.

    Boysen: Nun, diese waren ja schon an der Oberkante, sagen wir es mal so. War es aus Ihrer Sicht richtig, den westdeutschen Parteimitgliedern mit Rücksicht auf die zahlenmäßig ja so kleinen Landsverbände eine überproportionale Vertretung in den Gremien der Partei zuzugestehen?

    Gysi: Ob das richtig war, weiß ich gar nicht. Aber auf jeden Fall hat die WASG darum gekämpft. Und wenn man sich vereinigt, dann werden eben Bedingungen ausgehandelt. Und dadurch haben wir so bestimmte Zahlen für die Delegierten und so weiter festgelegt.

    Da kann man im Nachhinein immer sagen: Vielleicht hätte man das eine oder andere anders machen können. Nur eines sage ich Ihnen auch: Wichtig ist, dass wir die einzige Partei sind, die, wenn auch spät, eine Vereinigung organisiert haben. In den anderen Parteien gab es nur Beitritte. Wir haben jetzt eine Vereinigung gemacht, eine Vereinigung ist kompliziert.

    Aber in einem Punkt muss ich Ihnen widersprechen. Sie haben recht für die Vergangenheit, 2007 haben wir uns vereinigt, das war ein schöner Parteitag, es war eine Aufbruchstimmung, und dann ging auch vieles gegeneinander. Das stimmt.

    Aber der letzte Parteitag war wirklich anders. Dort hat meines Erachtens inhaltlich die Vereinigung stattgefunden, weil alle Folgendes begriffen haben: Wir haben doch auch Gemeinsamkeiten, es gibt ja Gründe, dass wir in einer Partei sind. Ich habe ihnen, glaube ich, sechs Gemeinsamkeiten aufgezählt - mit viel Beifall.

    Da habe ich gesagt: Gut, dann lasst uns doch einen Konsens finden. Und dann haben wir einen Konsens gefunden. Und das finde ich wichtig, weil: Jetzt haben wir eine breite Mitgliedschaft, die motiviert ist für den Wahlkampf. Und im Übrigen ist das ja auch mein Anliegen, weshalb ich Mitglied dieser Partei bin.

    Boysen: Sie haben immer gesagt, Herr Gysi, die Linke soll nicht nur Protestpartei sein. Wenn wir jetzt Ihr Wahlprogramm angucken und die Forderungen, dann muss man doch sagen, dass die recht plakativ ausgefallen sind. Fürchten Sie nicht insgeheim, dass die Bürger diesen Versprechungen, die Sie machen, nicht glauben?

    Gysi: Nun ja, die Medien leisten auch natürlich einen großen Beitrag daran, den Unglauben daran zu schüren. Wir sind gerade dabei ...

    Boysen: Nein, das sind nicht nur die Medien, wenn ich das mal sagen darf. Das kommt ja auch aus ihrer eigenen Partei.

    Gysi: Ja, na, das ist ein Ausgetretener, der das immer wieder sagt.

    Boysen: Nein, das sind durchaus noch andere.

    Gysi: Vorher ja, vorher gab es ja auch die Auseinandersetzungen - warum? Wir haben ja bestimmte Dinge korrigiert, zum Beispiel beim Start Mindestlohn zehn Euro sofort oder Sockelbetrag bei Hartz IV 500 Euro sofort - haben wir gesagt: im Laufe der nächsten Legislaturperiode. Das ist ein großer Unterschied. Übrigens sind wir in Luxemburg bei einem Mindestlohn für Facharbeiterinnen und Facharbeiter von über zwölf Euro. Und wir haben knapp unter zehn Euro für Unqualifizierte.

    Boysen: Nun können Sie die Lebensverhältnisse aber nicht überall mit allen vergleichen.

    Gysi: Ja, aber wir sollten uns vielleicht etwas eher mit Luxemburg vergleichen als mit Uganda, wenn ich das mal sagen darf. Insofern finde ich den Vergleich mit Luxemburg schon ziemlich zulässig. Aber was nicht stimmt ist, dass es sich nicht rechnet. Ich habe da jetzt lange die ganzen Berechnungen gelesen.

    Boysen: Den Vorwurf habe ich noch gar nicht erhoben. Jetzt nehmen Sie mir das Wort aus dem Mund.

    Gysi: Nein, die nächste Frage sozusagen vorweg. Wir haben das durchgerechnet und wir machen jetzt extra einen Zettel für die Bürgerinnen und Bürger, wo wir die Berechnungen reinstellen. Das Ganze ist finanzierbar. Und wissen Sie, ich muss das auch mal so deutlich sagen. Eine Koalition zusammen mit der FDP, die in der Lage sind, innerhalb einer Woche für die Privatbanken in Deutschland 480 Milliarden Euro bereitzustellen, soll mir nicht mit dem Geldargument kommen, wenn es um ALG-II-Empfänger geht, wenn es um die Lohnempfänger oder die Rentnerinnen und Rentner geht. Das wollte ich gerne sagen.

    Boysen: Wirtschaftskompetent wird ja traditionell nicht der Linken sondern eher den bürgerlichen Parteien zugemessen.

    Gysi: Furchtbar, ja. Aber wahr.

    Boysen: Die Grünen spezialisieren sich da ein bisschen auf ökologische Aspekte, Ihre Partei auf die sogenannten Gerechtigkeitsfragen, aber ...

    Gysi: Auch auf die sozialen Fragen, klar.

    Boysen: Aber wenn wir die Umfragen anschauen und die Ergebnisse der Europawahlen, dann muss man ja feststellen, das verfängt bisher gar nicht.

    Gysi: Ja, das sind aber zwei verschiedene Sachen. Schade, dass ich das andere nicht sagen durfte. Darf ich das doch noch sagen? Dann beantworte ich auch Ihre Frage. Also, ich will noch mal auf die Steuergerechtigkeit zurückkommen.

    Im Kern haben wir jetzt seit Jahren erlebt - übrigens im Unterschied zu den USA, Großbritannien, Frankreich und anderen Ländern - in Deutschland einen Abbau der Reallöhne, einen Abbau der Realrenten. Das heißt, wir hatten eine Umverteilung von unten nach oben, denn der Reichtum hat auch zugenommen, aber die Armut auch.

    Es gibt jetzt in Deutschland eine Form von Armut, wie wir sie vor 15 Jahren so noch gar nicht kannten. Und dafür machen wir auch Steuervorschläge, bei der Körperschaftssteuer, bei der Vermögenssteuer, bei der Einkommenssteuer und so weiter. Bei der Börsenumsatzsteuer sagen wir: Nein, wir brauchen eine umgekehrte Umverteilung.

    Wir machen auch Steuersenkungsvorschläge. Aber wir machen auch Steuererhöhungsvorschläge und sagen, weil wir eine Umverteilung wollen von oben nach unten, um mehr Steuergerechtigkeit herzustellen, sonst kriegen wir das Ganze nicht gelöst. Jetzt aber zu Ihrer Frage ...

    Boysen: Ja, dann sagen natürlich die anderen Steuerzahler ...

    Gysi: Warum soll ich mehr zahlen?

    Boysen: ... die zehn Prozent, die für über 50 Prozent der Steuereinnahmen aufkommen, warum werden wir noch mehr geschröpft?

    Gysi: Ja, wissen Sie, wenn Herr Ackermann mir erklärt, dass er mehr Steuern bezahlt als die Hartz-IV-Empfängerin, dann kann ich ihm erklären, dass das, was er an Steuern zahlt, die gar nicht zur Verfügung hat.

    Es ist ja absurd, was soll ich der Frau denn noch abnehmen? Abgesehen davon, dass wir die Mehrwertsteuer alle bezahlen müssen, nur dass ihm das egal ist, aber die Hartz-IV-Empfängerin hart trifft. Also, ehrlich gesagt, das Argument finde ich ein bisschen albern.

    Ich traue nur Politikern, die Vorschläge machen, dass sie selber mehr zahlen müssten. Und ich müsste mehr zahlen, wenn meine Vorschläge durchgehen. Und das finde ich auch angemessen. Wissen Sie auch, warum? Das hat sogar, wenn Sie so wollen, einen leicht egoistischen Grund: Ich bin nicht gerne von Armut umgeben. Und deshalb will ich einen Beitrag dazu leisten, dass die Armut abgebaut wird.

    So, jetzt aber zu der anderen Frage. Also, erstens ist es leider tatsächlich so, dass man immer denkt, die Konservativen verstünden was von Wirtschaft. Ich weiß gar nicht, wie man darauf kommt. Alle Landesbanken, die pleite sind, standen unter einer CDU-Regierung, alle. Also, eigentlich könnte man ja sagen ...

    Boysen: Es gab aber durchaus auch Aufsichtsratsposten, die von Ihrer Partei besetzt waren.

    Gysi: Na ja, einen. Der hat immer auch dagegen gestimmt. Das können wir jetzt mal weglassen. Trotzdem sage ich mal: Das ist doch interessant, dass sich so was nicht rumspricht. Stellen Sie sich mal vor, die Banken wären alle unter einer SPD-Regierung gestanden, na das hätte sich aber rumgesprochen.

    Zweitens habe ich immer meinen Leuten gesagt, wenn eine Stadt reich ist und was zu verteilen hat, werden Linke nicht besonders gewählt. Wenn eine Stadt arm und pleite ist, dann werden Linke gewählt, weil die Leute hoffen, dass wir das Zauberkunststück fertigbringen, das trotzdem alles gerecht zu machen. Und das finde ich auch ungerecht.

    Ich wäre auch gerne mal Oberbürgermeister einer Stadt, die reich ist, wo ich verteilen kann - da eine gute Tat, da eine gute Tat, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Bildung, mehr Kultur, würde mir sehr liegen. Aber ich sage den Linken, dann müsst ihr in eine konservative Partei eintreten. Wenn ihr links seid, müsst ihr wissen: Euch wählen die Leute, wenn es ihnen nicht so besonders gut geht.

    Aber Sie haben recht, es funktioniert bei der Krise nicht. Ich habe von Anfang an gesagt, die muss sich gar nicht zu unseren Gunsten auswirken. Und wissen Sie auch, warum? Weil die Leute damit abstrakte Ängste verbinden. Es ist noch gar nicht richtig da, und dann hoffst du eher auf die Regierenden, dass die da irgendwas machen.

    Wissen Sie, was wir uns abgewöhnen müssen? Die Vorstellung, dass es so dauerhafte Bindungen gibt. Die Leute wechseln heute schneller, je nach Situation.

    Boysen: Davon lebt Ihre Partei aber ja, im Osten insbesondere.

    Gysi: Ja.

    Boysen: Die 24 Prozent, die so der Sockel in den neuen Bundesländern sind.

    Gysi: Als, wir haben sicherlich einen Sockel von Wählerinnen und Wählern. Der ist vielleicht sogar ein bisschen größer als bei anderen Parteien, in den neuen Bundesländern allerdings nur. Aber auch der Sockel hat abgenommen. Zum Beispiel meine Feststellung war, wenn die Wahlbeteiligung gering ist, ist sie eben auch bei uns gering. Also, die Vorstellung, dass unsere dann besonders wählen gehen und andere nicht, das war immer naiv.

    Boysen: Und was können Sie denn dagegen tun?

    Gysi: Na ja, wir müssen versuchen, zwei wirkliche Wahrheiten in den Vordergrund zu stellen. Das eine ist, ob die Union, die SPD, die FDP oder die Grünen bei der nächsten Bundestagswahl vier Prozent Stimmen mehr haben oder vier Prozent Stimmen weniger haben, ist gesellschaftspolitisch irrelevant.

    Die einzige Wahl, die interessant ist, ist unsere, egal in welche Richtung. Weil alle Parteien, die ich Ihnen gerade genannt habe, die anderen, sind sich einig, die Bundeswehr soll nach Afghanistan; sie sind sich einig, die Rente muss man um zwei Jahre kürzen; sie sind sich einig bei Hartz IV; sie sind sich einig bei Agenda 2010. Sie haben übrigens auch den Finanzjongleuren den roten Teppich ausgelegt.

    Gegenposition dazu hatten immer nur wir. Und was wir den Bürgerinnen und Bürgern klarmachen müssen ist, wenn wir verlieren zum Beispiel, mal angenommen, wir hatten das letzte mal 8,7 Prozent, ich sage es jetzt mal extrem, wir bekämen nur 6,5 Prozent. Dann sage ich Ihnen, wird dieses Land nicht nur unfriedlicher, sondern unsozialer, weil die anderen sich ja darin bestätigt sehen in Hartz IV, in Agenda 2010, in Rente erst ab 67 et cetera. Wenn wir zulegen, also unser Ziel erreichen, zehn plus x Prozent, garantiere ich Ihnen, dass die sich korrigieren. Die reagieren auf uns, weil wir noch stören in der Struktur.

    Boysen: Diese Argumentation ist eine schon ältere.

    Gysi: Na, ich habe die erst vor wenigen Wochen entdeckt, hören Sie mal zu. Ich finde das aber sehr einleuchtend.

    Boysen: In Umfragen aber schlägt sich das noch nicht nieder. Beunruhigt Sie das?

    Gysi: Doch. Wir sind bei elf Prozent und wir hatten ...

    Boysen: Zwischen neun und elf.

    Gysi: ... bei der Europawahl 7,5 Prozent, und das, finde ich, ist doch schon ein beachtlicher Anstieg. Na, was glauben Sie? Dass wir plötzlich 60 Prozent haben? So schnell geht das nun nicht. Das will ich, ehrlich gesagt, im Augenblick auch noch gar nicht. Das würde uns etwas überfordern.

    Ich bleibe bei 10 plus x, ich denke, dass wir das schaffen werden, und dafür werde ich auch kämpfen. Und wenn nicht, können Sie mich ja noch mal fragen, warum nicht.

    Boysen: Machen wir mal einen Schnitt und blicken auf das Bundesverfassungsgericht, das mit seinem Urteilsspruch zum Zustimmungsgesetz im Lissabonvertrag die Rechte des Bundestags und des Bundesrats gestärkt wissen will. Die Linke als einer der beiden Kläger hat da einen Teilerfolg erzielt. Die CSU legt nun in ihren Forderungen nach. Schließen Sie sich dem an?

    Gysi: Ja wissen Sie, die CSU ist schon eine komische Truppe, wenn ich das mal sagen darf. Jetzt entdecken sie plötzlich auch die Mängel bei den Umständen hinsichtlich des Lissabonvertrages. Aber sie hat natürlich in einem Recht: Das Bundesverfassungsgericht hat an uns appelliert, die Rechte des Bundesrates und des Bundestages zu stärken. Und das sollten wir auch tun. Wir dürfen nicht vergessen, wer die Europäische Union will. Und ich will sie. Denn die Europäische Union verhindert die Kriege des 20. und des 19. Jahrhunderts in Europa. Das ist für mich ungeheuer wichtig.

    Boysen: Das sehen ja nicht alle in Ihrer Partei so.

    Gysi: Doch, ich glaube, das sehen wirklich fast alle so.

    Boysen: Der Militarismusvorwurf ist weg?

    Gysi: Nein, das ist wieder was anderes. Das ist was anderes. Das gilt aber nicht für Innereuropa, verstehen Sie? Das gilt dafür, dass Europa interventionsfähig sein will in Asien und in Afrika. Das kritisiere ich auch. Aber erst mal schließt die EU die Kriege zwischen Frankreich und Deutschland und Belgien aus, wie wir sie im 20. und 19. Jahrhundert kannten. Das ist, glaube ich, eine wichtige Seite.

    Boysen: Schließen Sie sich den Forderungen der CSU an?

    Gysi: Ja, ich kenne ja jetzt nicht jede einzelne Forderung der CSU, aber sie hat im Kern recht zu sagen, dass wir das Maximale aus dem Urteil herausholen müssen, um so viel Mitbestimmungsmöglichkeiten wie möglich für den Bundestag und den Bundesrat zu schaffen.

    Übrigens, da geht es ja auch um die Rechte es Bundesverfassungsgerichtes. Das kommt ja sehr häufig vor in dem Urteil, auch im Vergleich zum Europäischen Gerichtshof. Und wenn wir das schaffen, dann hat die Bevölkerung eine andere Sicherheit, dass wir sie mitnehmen und ihre Interessen berücksichtigen im europäischen Einigungsprozess.

    Das kann doch nicht sein, dass die dort eine Dienstleistungsrichtlinie beschließen, die hier viele Menschen ruinieren würde, ohne dass der Bundestag überhaupt gefragt wird. So, ich finde allerdings, die CSU wie auch alle anderen im Bundestag könnten doch einmal sagen: "Danke, liebe Linke", denn dass wir das jetzt neu regeln, verdanken sie doch ein bisschen uns. Kann man doch mal sagen, oder ist das so schlimm?

    Boysen: Herr Gysi, knapp einen Monat vor den Bundestagswahlen haben wir Landtagswahlen im Saarland, in Thüringen und in Sachsen. Lassen Sie uns darauf schauen, inwieweit die Linke sich als eventueller Koalitionspartner profiliert. Warum erwartet Ihre Partei, dass sich die SPD bewegt und machen selbst keine Anstalten, auf die Sozialdemokraten zuzugehen?

    Gysi: Also in den Kommunen und den Ländern ist das ja anders. Auf der Bundesebene haben Sie recht. Aber auf der Bundesebene hat das einen ganz einfachen Grund. Wenn wir auf der Bundesebene auf die SPD zugingen und plötzlich auch sagten, na gut, wir lassen die Soldaten in Afghanistan, sagten Hartz IV ist richtig, wir machen ein bisschen mehr Schonvermögen, sagten Agenda 2010 soll so bleiben, sagten Rente ab 67 ist in Ordnung, wir nehmen vielleicht noch die Stahlarbeiter und die Kohlekumpel raus, aber ansonsten ...

    Wenn wir diesen Weg gingen auf die SPD zu, wären wir am selben Tage überflüssig. Dann brauchen uns die Leute nicht. Sie brauchen uns nur, weil wir genau das nicht mitgemacht haben und nicht mitmachen werden. Ergo muss die SPD sich wieder re-sozialdemokratisieren auf der Bundesebene.

    Auf der Landesebene, gebe ich ja zu, sieht das ein bisschen anders aus. Aber ich muss Ihnen sagen, die SPD im Saarland und in Thüringen ist für mich inhaltslos geworden. Ich kann beides verstehen. Also ich könnte verstehen, wenn die beiden SPD-Chefs in Thüringen und im Saarland sagten: Ja, die CDU liegt uns näher, weil wir wollen auch soziale Ausgrenzung in der Bildung oder wir wollen dieses oder jenes. Kann man ja sagen.

    Oder umgekehrt, sie sagen: Also, wenn wir eine Koalition bilden würden, würden wir sie eher mit den Linken bilden, weil wir doch inhaltlich näher an den Positionen der Linken dran sind.

    Boysen: Die Saarländer setzten sich ja ausdrücklich von der Linken ab, die saarländischen Sozialdemokraten.

    Gysi: Ja, aber nur zum Teil. Sie sagen Folgendes: Sie sagen, wenn die Linken schwächer werden als wir, dann machen wir es mit denen. Wenn die aber stärker werden als wir, dann gehen wir zur CDU. Ich bitte Sie, das ist doch inhaltlich null.

    Also ich nehme ein Beispiel, Schulen. Das kann man so organisieren, dass man die Kinder so früh wie möglich trennt. Das will immer die Union. Ich behaupte, das ist eine soziale Ausgrenzung. Und man kann, wie wir und übrigens auch die SPD, der Meinung sein, man sollte Kinder später trennen. Ist doch eine unterschiedliche Position.

    Boysen: Das macht die CDU in Hamburg gerade vor.

    Gysi: Ja. Ist ja ganz egal. Was ich will ist, dass man sich entscheidet. Herr Matschie muss sagen, er will entweder das eine Schulsystem oder das andere. Aber zu sagen, er macht mal eine frühe Trennung und mal eine späte, je nach dem, wie das Zahlenverhältnis zwischen Linken und SPD ist, ich bitte Sie, das ist doch keine politische Haltung.

    Boysen: Mit der Person Oskar Lafontaine hat das alles überhaupt nichts zu tun Ihrer Meinung nach?

    Gysi: Also, die Person Oskar Lafontaine, der verdanken wir ja erst mal einen ganz anderen Grad der Akzeptanz in den alten Bundesländern, was ungeheuer wichtig war für unsere Partei. Er hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass WASG und PDS wirklich zusammengekommen sind, sich vereinigt haben und dass eine neue politische Kraft entsteht. Natürlich reizt er auch bestimmte Leute, das weiß ich ja.

    Boysen: Insbesondere seine ehemalige Partei.

    Gysi: Insbesondere, ja. Aber ich sage Ihnen trotzdem, eine politische Konstellation scheitert niemals an einer Einzelperson. Sie ist auch niemals durch eine Einzelperson möglich, das ist alles Larifari. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen ein Zusammengehen erfordern, dann findet es auch statt. Und wenn nicht, sind das alles Ausreden.

    Boysen: Auch Ihre Partei, Herr Gysi, wird sich ja eines Tages fragen müssen, was passiert, wenn die Vorsitzenden Lafontaine und Bisky nicht mehr auf dem Vorsitz sind. Von Ihnen kennen wir ja schon, dass es ...

    Gysi: Ich kann auch aufhören, ja.

    Boysen: ... auch Momente gibt, wo Sie aussteigen. Sie steigen dann wieder ein, bisher jedenfalls.

    Gysi: Ja, aber beim nächsten Mal ist dann, glaube ich, Schluss. Mit 80 komme ich nicht wieder zurück.

    Boysen: Das weiß man nie.

    Gysi: Das stimmt.

    Boysen: Wen aber, Herr Gysi, würden Sie sich als Nachfolger wünschen, wenn Sie sich vorstellen, Ihre Partei braucht irgendwann eine neue Spitze?

    Gysi: Wenn die Zeit dafür reif ist, werde ich Ihnen diese Fragen beantworten. Im Augenblick ist die Zeit dafür nicht reif, und schon gar nicht werde ich irgendwelche Namen nennen, denn das kann für die Person entweder aufwertend oder zerstörend sein. Das kenne ich von anderen Parteien. Deshalb beteilige ich mich nicht daran.

    Ich weiß sehr wohl, dass die Frage der nächsten Generation steht. Ich bin 61 und Sie können mir Folgendes glauben: Ich werde nicht wieder zu früh gehen wie beim letzten Mal, aber Sie können mir dabei helfen, dass ich auch nicht zu spät gehe. Das soll mir auch nicht passieren. Und dann muss ich bloß noch was finden, was man so im Alter sinnvoll macht. Das finde ich übrigens eine spannende Frage, mit der ich mich doch schon gelegentlich mal beschäftige.

    Boysen: Herr Gysi, vielen Dank.

    Gysi: Bitte schön.