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"Das jüdische Symbol des 19. Jahrhunderts"

"La Juive", das romantisch-realistische Musikdrama von Eugène Scribe und Jacques Fromental Halévy, hatte 1835 mit der Erinnerung an die Konstanzer Pogrome im späten Mittelalter erstmals die Frage der Judenverfolgung auf die Tagesordnung der großen Opernbühne gesetzt. Exemplarisch wurden die Verfolgung und Ermordung von Juden dargestellt, mit wohldosierter Sentimentalität und wohlproportionierter dramatischer Musik versehen. Das Regie-Duo Jossi Wieler und Sergio Morabito brachte das Stück nun an der Stuttgarter Staatsoper.

Von Frieder Reininghaus |
    Wie es sich gehörte, erschienen in Halévys Grand Opéra von 1835 einige Episoden aus der realen Geschichte - der des Konstanzer Konzils 1415 - angereichert mit einer Liebesgeschichte. In diesem Fall ist es die des Reichsfürsten und Feldherrn Léopold mit Rachel aus dem Haushalt des vom Leben schwer gebeutelten Goldschmieds Eléazar - also: Liebe und Verrat über die zwischen den Angehörigen der Religionen errichteten Schranken hinweg. Gemäß der Konvention der Opernlibrettistik stammten diese beiden Figuren nicht aus der "realen" Geschichte, sondern wurden idealtypisch kompiliert.

    Zwei Söhne Eléazars wurden, so die Vorgeschichte der Oper "La Juive", auf Betreiben des Kardinals Brogni in Rom ermordet, der Edelmetallhändler selbst von dort vertrieben. Er gelangte nach Konstanz, erstarrte in Rachegelüsten und will ein Geheimnis mit in den Tod nehmen: dass seine Pflegetochter ein Kind des Kontrahenten Brogni ist. Bei einem Brand Roms rettete er den Säugling aus den Flammen. Überhaupt finden sich in diesem Werk bemerkenswerte Flammen- und Klopfzeichen.
    Halévys Oper "La Juive" ist, anders als zum Beispiel Verdis "Don Carlos" oder Offenbachs "Contes d’Hoffmann", in einer definitiven Werkgestalt überliefert. Daher schienen - trotz der teilweise auf andere Stoffe und Handlungsorte bezogenen Entwürfe von Eugène Scribe - den Künsten der Übertragung durch Regietheater-Regisseure bislang gewisse Grenzen gesetzt. Diese trachteten Jossi Wieler und Sergio Morabito in Stuttgart zu durchbrechen. Das Regie-Duo sah sich mit einem - real keineswegs gegebenen - "spezifischen Bilderverbot" konfrontiert. An der Württembergischen Staatsoper wollte es die "Flucht einer Gesellschaft in eine historisierende Ästhetik" zeigen und "den Irrtum, der in der Annahme bestand, Gräuel wie die mittelalterlichen Judenpogrome seien unwiderruflich vergangen und als solche ästhetisch konsumierbar geworden".

    Dass die Musik nur mäßigen Genuss bereitete, lässt sich nicht leugnen. Zunächst geriet das, was Sébastien Rouland dem Stuttgarter Staatsorchester entlockt, ungenau und grobschlächtig. Und was aus den Kehlen des jugendlichen Liebhabers Ferdinand von Bothmer kam, klang wenig nobel - in den Höhen wie die Klage eines angeschossenen Kapauns. Die gealterte Stimme von Chris Merritt ist mit der strapaziösen Partie des Eléazar heillos überfordert.

    Das Stuttgarter Wiederaufbereitungsteam Wieler/Morabito flüchtete sich in deutsche Provinzialität und machte die grausame Sache durch ihre Art der Übertragung auf fatale Weise konsumierbar. Vom vermeintlichen "Bilderverbot" dispensierten sich die Ausstatter Bert Neumann und Nina von Mechow großzügig: Zwischen einer Münster-Fassade und einem überrestaurierten Fachwerkhäuschen mit Butzenscheiben sah man eine von H&M beziehungsweise der Kleiderkammer des Bundesgrenzschutzes kostümierte TUI-Gesellschaft, die Eléazar und Rachel auf den Scheiterhaufen bringen will, weil diese gegen die Feiertagsruhe verstießen. Kaum beruhigt, will die Meute die beiden in den Bodensee treiben, weil sie die Feierlichkeiten anlässlich Léopolds Sieg im Kreuzzug gegen die Hussiten von den Stufen der Kathedrale aus beobachten wollten.

    Die Motive der Pogromstimmung werden so wenig deutlich wie die reale Gefahrenlage. Alles erscheint als Rollenspiel. Und diese Idee des permanenten Rollenspiels wird zuletzt auf die Spitze getrieben: Nach dem Willen Scribes und Halévys sollten Rachel und Eléazar in kochendem Wasser zugleich getauft und getötet werden. Wielers und Morabitos Neckermänner warten auf dieses Spektakel, verkleiden sich dazu allerdings als Juden und spielen Deportation. Die beiden Delinquenten werden dann aber nicht von den Ordnungskräften zu Tode gebracht - nein, dem Goldschmied gelingt es, dem Kardinal eine von diesem plötzlich gezogene Pistole aus der Hand zu winden, mit dieser erst Rachel und dann sich selbst zu erschießen. So werden aus den Opfern Täter.

    An allen drei Schichten des Historischen, um die es mit "La Juive" allemal geht, sind Wieler und Morabito ebenso gescheitert wie am eigenen Anspruch. Eine Historienoper derart der geschichtlichen Gehalte und Intentionen zu entkleiden, stattdessen in einer Kopfgeburt die potenzielle Täterschaft beziehungsweise Opferrolle aller Menschen zu entbinden, erscheint - um es mit Wagners Wotan zu sagen - "töricht, wenn nicht tückisch".