"Das Kapital Band 1 umfasst in der deutschen Ausgabe 25 Kapitel, oder, die Vorworte abgerechnet, 750 Seiten Text, oder 1 Mio. 957 200 Zeichen einschließlich Leerzeichen. Wir haben 100 Minuten Zeit, das heißt 4 Minuten pro Kapitel, oder wir lesen 7 1/2 Seiten pro Minute oder 544 Zeichen pro Sekunde."
Zeit ist Geld, sagt man. Das "Kapital, Band 1" zu studieren dauert 1500 Arbeitsstunden oder 90 komplette Aufführungen von Wagners "Ring" am Stück. Das sind nur ein paar der äußeren Daten, die Thomas Kuczynski, früher Wirtschaftshistoriker in der DDR, heute Marx-Herausgeber, im neuen Stück von Rimini Protokoll erläutert. Die inneren behandeln bekanntlich die Gesetze der kapitalistischen Produktion, etwa den Tauschwert von Waren. Im Kapitel über "totale oder entfaltete Wertform" wird die Frage abgehandelt, ob 20 Ellen Leinwand 1 Gehrock oder 1 Gehrock "wert" sind.
Doch das ist auch noch nicht der Kern des Stücks. Den gibt es ohnehin nicht bei Helgard Haug und Daniel Wetzel, den Protagonisten eines neuen Dokumentartheaters, das nicht mit Schauspielern, sondern mit "Experten des Alltags" arbeitet. Ihre Stücke sind selbst ein komplexes Tauschgeschäft: Wirkliche Menschen stehen auf der Bühne für ihre Geschichte ein. Der Mehrwert ist Erkenntnisgewinn, im besten Falle Kunst. Früher waren das die abgewickelten Angestellten einer belgischen Fluglinie in "Sabenation", oder ein abgeschossener CDU-Bürgermeisterkandidat aus Mannheim in der Schillerjahr-Produktion "Wallenstein", die auch zum letzten Berliner Theatertreffen eingeladen war. Und auch wenn die dramatische Qualität eines 750-seitigen wissenschaftlichen Textes nachweislich gering ist: Das Rimini-Protokoll-Prinzip funktioniert auch mit und um Marx wieder erstaunlich gut.
Da ist der lettische Filmemacher, der berichtet, wie er als Kind schon mal fast zur Ware geworden wäre: nach dem Krieg, im Tausch gegen Brot, Butter und Milch. Da ist der Autor, der die abenteuerliche Geschichte von "Mr 1300 Prozent", dem Anlagebetrüger Jürgen Harksen aus Hamburg erzählt, Flucht nach Südafrika und mehrere Jahre Gefängnis inclusive. Harksen wird so zum "Dissidenten der Kapitalbewegung" geadelt, doch es ist eine Gloriole des Scheiterns, wie sie auch Ex-Gewerkschafter und Ex-Spieler Ralph Warnholz aus Düsseldorf trägt; er hat mit seinem Kapital auch fast sich selbst vernichtet. Jochen Noth, Ex-KBWler, Ex-Maoist, heute Unternehmensberater mit Schwerpunkt China, hat schon 1968 in Berlin Geld verbrannt. Als er die Politperformance im Jahr 2006 wiederholt, regt sich, wie ein Film zeigt, kein Mensch mehr darüber auf.
"Scheitern am Kapital" wäre also auch ein schön zweideutiger Titel des Stücks und seiner Biographien, oder: "Jeder Mensch ist käuflich". Denn vorgeführt wird nichts anderes als die Anpassungsleistung des Einzelnen an die Gesetze des Kapitalismus, wie immer kritisch oder glückhaft oder gebrochen sie jeweils statt findet.
Zusammen gehalten wird das vertrackte 'Leben als Spiel' von einer Bühne, die eine mit Büchern vollgestellte Wohnzimmerwand im Panoramaformat zeigt, inclusive Spielautomaten, Fernseher, Sekundärliteratur und -zig Exemplaren von Bd. 23 der Darmstädter "blauen" Gesamtausgabe, der später zum Mitlesen an die Zuschauer verteilt wird. Und von Christian Spremberg, dem blinden Call Center Agent, der mit einigen Pretiosen aus seiner 20.000 Stück umfassenden Plattensammlung das Stück um eine unerhörte akustische Dimension erweitert, um den Klang des Geldes.
" Schallplatten sind normalerweise rund, diese hier ist es nicht, die ist quadratisch, praktisch, gut, womit wir bei der Werbung sind. Das ist eine Tonpostkarte, hier vorne dürften Sie jetzt auch schon ein paar Autos erkennen, und wenn man sie abspielt, hört sich das so an:" (Musik)"
Mit "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" haben Rimini-Protokoll ihrem eigenen Theaterkosmos von "Bestattung" bis "Herztransplantation" wieder eine ebenso rührende wie existentielle Dimension hinzugefügt. Sie haben ganz beiläufig die fast vergessene Bibel des Sozialismus wiederbelebt. Sie haben der derzeit ja schwer im Trend liegenden Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit, Geld, Wohlstand, Globalisierung auf der Bühne neuen, guten Stoff geliefert. Und sie haben wieder einmal deutlich gemacht, was das Wesen des Theaters ausmacht: sein menschliches Kapital.
Zeit ist Geld, sagt man. Das "Kapital, Band 1" zu studieren dauert 1500 Arbeitsstunden oder 90 komplette Aufführungen von Wagners "Ring" am Stück. Das sind nur ein paar der äußeren Daten, die Thomas Kuczynski, früher Wirtschaftshistoriker in der DDR, heute Marx-Herausgeber, im neuen Stück von Rimini Protokoll erläutert. Die inneren behandeln bekanntlich die Gesetze der kapitalistischen Produktion, etwa den Tauschwert von Waren. Im Kapitel über "totale oder entfaltete Wertform" wird die Frage abgehandelt, ob 20 Ellen Leinwand 1 Gehrock oder 1 Gehrock "wert" sind.
Doch das ist auch noch nicht der Kern des Stücks. Den gibt es ohnehin nicht bei Helgard Haug und Daniel Wetzel, den Protagonisten eines neuen Dokumentartheaters, das nicht mit Schauspielern, sondern mit "Experten des Alltags" arbeitet. Ihre Stücke sind selbst ein komplexes Tauschgeschäft: Wirkliche Menschen stehen auf der Bühne für ihre Geschichte ein. Der Mehrwert ist Erkenntnisgewinn, im besten Falle Kunst. Früher waren das die abgewickelten Angestellten einer belgischen Fluglinie in "Sabenation", oder ein abgeschossener CDU-Bürgermeisterkandidat aus Mannheim in der Schillerjahr-Produktion "Wallenstein", die auch zum letzten Berliner Theatertreffen eingeladen war. Und auch wenn die dramatische Qualität eines 750-seitigen wissenschaftlichen Textes nachweislich gering ist: Das Rimini-Protokoll-Prinzip funktioniert auch mit und um Marx wieder erstaunlich gut.
Da ist der lettische Filmemacher, der berichtet, wie er als Kind schon mal fast zur Ware geworden wäre: nach dem Krieg, im Tausch gegen Brot, Butter und Milch. Da ist der Autor, der die abenteuerliche Geschichte von "Mr 1300 Prozent", dem Anlagebetrüger Jürgen Harksen aus Hamburg erzählt, Flucht nach Südafrika und mehrere Jahre Gefängnis inclusive. Harksen wird so zum "Dissidenten der Kapitalbewegung" geadelt, doch es ist eine Gloriole des Scheiterns, wie sie auch Ex-Gewerkschafter und Ex-Spieler Ralph Warnholz aus Düsseldorf trägt; er hat mit seinem Kapital auch fast sich selbst vernichtet. Jochen Noth, Ex-KBWler, Ex-Maoist, heute Unternehmensberater mit Schwerpunkt China, hat schon 1968 in Berlin Geld verbrannt. Als er die Politperformance im Jahr 2006 wiederholt, regt sich, wie ein Film zeigt, kein Mensch mehr darüber auf.
"Scheitern am Kapital" wäre also auch ein schön zweideutiger Titel des Stücks und seiner Biographien, oder: "Jeder Mensch ist käuflich". Denn vorgeführt wird nichts anderes als die Anpassungsleistung des Einzelnen an die Gesetze des Kapitalismus, wie immer kritisch oder glückhaft oder gebrochen sie jeweils statt findet.
Zusammen gehalten wird das vertrackte 'Leben als Spiel' von einer Bühne, die eine mit Büchern vollgestellte Wohnzimmerwand im Panoramaformat zeigt, inclusive Spielautomaten, Fernseher, Sekundärliteratur und -zig Exemplaren von Bd. 23 der Darmstädter "blauen" Gesamtausgabe, der später zum Mitlesen an die Zuschauer verteilt wird. Und von Christian Spremberg, dem blinden Call Center Agent, der mit einigen Pretiosen aus seiner 20.000 Stück umfassenden Plattensammlung das Stück um eine unerhörte akustische Dimension erweitert, um den Klang des Geldes.
" Schallplatten sind normalerweise rund, diese hier ist es nicht, die ist quadratisch, praktisch, gut, womit wir bei der Werbung sind. Das ist eine Tonpostkarte, hier vorne dürften Sie jetzt auch schon ein paar Autos erkennen, und wenn man sie abspielt, hört sich das so an:" (Musik)"
Mit "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" haben Rimini-Protokoll ihrem eigenen Theaterkosmos von "Bestattung" bis "Herztransplantation" wieder eine ebenso rührende wie existentielle Dimension hinzugefügt. Sie haben ganz beiläufig die fast vergessene Bibel des Sozialismus wiederbelebt. Sie haben der derzeit ja schwer im Trend liegenden Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit, Geld, Wohlstand, Globalisierung auf der Bühne neuen, guten Stoff geliefert. Und sie haben wieder einmal deutlich gemacht, was das Wesen des Theaters ausmacht: sein menschliches Kapital.