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Das kleine Leben im großen

Geschichten, die traumtänzerisch mit der Wirklichkeit spielen, aber auch ganz harter Stoff um das Leben auf einer jugendpsychiatrischen Station oder hinter den Kulissen von Reichtum und Schönheit - nordamerikanische Jugendbücher sind vielfältig und kennen wenig Berührungsängste. Eine literarische Spurensuche.

Ein Hörfunkfeature von Siggi Seuß |
    " Die Geschichte eines Kindes besteht aus einem Teil Tatsachen, zwei Teilen Legende und drei Teilen Wischiwaschi."

    Was ist Dichtung? Was sind Tatsachen? Was ist Wahrheit? Der amerikanische Jugendbuchautor Jerry Spinelli gibt eine kurze und bündige Empfehlung: Wenn ihr wissen wollt, sagt Jerry Spinelli, wie es wirklich war, das Leben eines Kindes ...

    " Haltet euch gut an euren Stühlen fest und achtet darauf, achet sehr gut darauf, dass ihr Tatsachen und Wahrheiten nicht durcheinander bringt."

    Jugendbücher nordamerikanischer Schriftsteller werden heute vorgestellt. Die Geschichten sind sehr unterschiedlich, sowohl thematisch als auch in Bezug auf die Zeit, in der sie spielen. Und es sind nicht nur Geschichten, die traumtänzerisch mit der Wirklichkeit spielen, wie etwa jene von Jerry Spinelli, Kate DiCamillo, Donna Jo Napoli oder Paula Fox. Es geht auch um ganz harten Stoff, um das Leben auf einer jugendpsychiatrischen Station und um das Leben hinter den Kulissen von Reichtum und Schönheit. Die literarische Spurensuche in Nordamerika beginnt in Ottawa, August 1945.




    " Billy und ich kommen am Kleinen Kino vorbei, dann gehen wir die King Edward Avenue hoch nach Sandy Hill. Im Kleinen Kino läuft "Der Weg nach Marokko" mit meinem Lieblingssänger Bing Crosby und seinem dämlichen Freund Bob Hope. Bob Hope soll witzig sein, aber das ist er nicht. Bing singt "Moonlight becomes you" für die schöne Dorothy Lamour. Ich habe den Film schon gesehen und erzähle Billy davon. Ich erzähle ihm, was Dorothy Lamour anhatte.

    "Sie hatte nur ein halbes enges Nachthemd an, das an der Seite ganz hoch geschlitzt war, und sie hatte eine schöne große Blume im Haar", sage ich."

    Es ist, als ob man im dunklen Saal eines alten Lichtspieltheaters säße. In meiner Erinnerung an Brian Doyles Roman "Boy O'Boy" erscheinen - auf einer großen Leinwand - zuerst schemenhaft die Häuserblocks in Lower Town, dann setzt Musik ein und Bing Crosby singt "Moonlight Becomes You".

    Dann werden die Bilder konkreter.

    Heimkehrende Soldaten tanzen mit ihren Mädchen auf der Straße. Pferdekutschen poltern übers Pflaster, Straßenbahnen bimmeln. Die Fassaden der Mietshäuser bröckeln. Geschrei, Geheul und Schlagermusik dringt aus den Fenstern. Papineau Street Nummer drei. Hier wohnt der kleine Held des Romans, Martin O'Boy, elf Jahre alt, blond gelockte Haare. Sieht aus wie ein Engel, sagen die Leute. - Martin sitzt auf der Stufe vor dem Haus und hat die Arme um die Knie geschlungen. Der Junge erzählt seine Geschichte.

    " Letzte Nacht ist meine Oma gestorben.

    "Heute Nacht kommt der Tod sie holen." Das haben sie gesagt. Der Tod ist gekommen und Oma ist gestorben. Aber sie war immer noch da. Der Tod hat sie nicht gleich geholt. Es war ein großes schwarzes Auto, das sie schließlich holen kam."

    Es würde eine furchtbar traurige Geschichte sein, wenn in ihr nicht so etwas wirkte wie eine bezaubernde Kraft aus Lebensmut, Sehnsucht und Fantasie. Zwar gesteht Martin, er wisse nicht, wo sein Herz sei, zwar leidet er unsäglich unter den familiären Verhältnissen und unter schrecklichen Erfahrungen. Aber dank Brian Doyles versöhnlich-ironischem Ton der Erinnerung an eine Kindheit, die seine eigene sein könnte, schließt der Roman voller Hoffnung und Neugierde auf das Leben, das da noch kommen kann.

    "In den Comics begegnet ein obdachloser Waisenjunge namens Billy Batson einem Zauberer, der ihm ein Zauberwort verrät. Das Wort heißt SHAZAM!.
    S steht für Salomon gleich Weisheit
    H steht für Herkules gleich Kraft
    A steht für Atlas gleich Unerschütterlichkeit
    Z steht für Zeus gleich Macht und Führungsstärke
    A steht für Achilles gleich Mut
    und
    M steht für Merkur gleich Schnelligkeit.

    Der obdachlose Waisenjunge Billy Batson sagt SHAZAM! und dann kommt ein Bild, auf dem es WUMM macht, und Billy verwandelt sich in Captain Marvel. "

    Martins bester Freund heißt ebenfalls Billy Batson. Und der steckt mindestens genauso oft in Schwierigkeiten wie Martin. Wenn Billy SHAZAM! sagt, passiert natürlich nichts.

    " Es macht nicht WUMM! und er verwandelt sich nicht in Captain Marvel, aber er sagt, das Wort verleiht ihm übernatürliche Kräfte und lässt sein Gehirn anschwellen wie Captain Marvels Brust."

    Martins Seelenverfassung ist trotz gutem Freund und der schützenden Hand des Comic-Captains Marvel erschüttert. Draußen feiern die Leute das Kriegsende, bejubeln die Kapitulation der Japaner, obwohl das Radio hunderttausende von Toten nach den Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki meldet. Der Junge würde liebend gern mitfeiern und mitsingen, aber in seiner Welt rumort derweil ganz anderes. Nicht nur dass seine geliebte Oma gestorben ist. Der Vater säuft und kümmert sich wenig um die Familie. Mutter und Sohn sind in die unsäglichen Mühen der Pflege von Martins geistig behindertem Zwillingsbruder verstrickt. Zudem ist Mutter hochschwanger. Und zu allem Übel wird der Sommerchorknabe Martin auch noch mit den Begierden eines pädophilen Organisten konfrontiert.

    Brian Doyle lässt den zeitgeschichtlichen Hintergrund vor Ort bis ins Detail lebendig werden und verknüpft ihn mühelos mit der Lebenswelt und der Seelenverfassung eines Kindes.




    Für den Leser werden die Bilder dabei so lebendig, als säße man im Kinosessel eines alten Lichtspieltheaters und verfolge auf der Leinwand das kleine Leben im großen.

    " Ich stellte mir mein Herz als einen kleinen traurigen Vogel vor, der seinem Käfig entflieht, um sich auf die Suche nach einer vielversprechenderen Person zu machen, in der er leben kann. Einer Person mit einer Geschichte. Einer Person, die wusste, woher sie kam."

    Seltsam, wenn man nichts von seiner Herkunft weiß und manchmal glauben wollte, man sei vom Himmel gefallen. Der zwölfjährigen Heidi geht es so, in Sarah Weeks Roman "So B. It". Mutter ist geistig behindert, der Vater unbekannt.

    " Wenn ich die Wahl hätte, wüsste ich lieber Bescheid als im Dunkeln zu tappen, das will ich ehrlich zugeben. Aber es gibt Dinge, die weiß man eben, weil man sie weiß, und dann wiederum gibt es Dinge, die kann man nicht wissen, auch wenn man es sich noch so sehnlichst wünscht."

    Noch hat Heidi keine Wahl, aber bald wird sich das ändern. - Mutter und Tochter wären verloren, wenn sich nicht Bernadette, die Nachbarin und Heidis einzige Vertraute, fürsorglich um die beiden kümmern würde. Aber selbst Bernie kennt die Familiengeschichte nicht. Sie weiß nur: an einem 19. Februar vor zwölf Jahren stand eine völlig verängstigte junge Frau vor der Tür, mit einem Neugeborenen auf dem Arm.

    " Natürlich erinnere ich mich überhaupt nicht daran, aber Bernadette hat mir die Geschichte so oft erzählt, dass ich manchmal das Gefühl habe, ich erinnere mich doch daran. Sie sagte, ein erbärmlicheres Bild hätte sie noch nie zuvor gesehen. Dann machte sie die Tür ein bisschen weiter auf und Mama und ich spazierten in ihre Wohnung und für immer mitten in ihr Herz. So jedenfalls erzählte es Bernie."

    Wo sind wir? Erst einmal in Reno/Nevada. Später in einem lausigen Kaff an der Ostküste. Und natürlich in einem dieser sanft sentimentalen amerikanischen Märchen aus der Wirklichkeit, wo man zwischendurch (wenn's niemand sieht) losheulen könnte vor Rührung, nicht ohne einen leise nagenden Zweifel, ob da nicht etwa ein bisschen zu viel des Sentiments aufs Gemüt drückt. Schließlich setzt die Sängerin, Songwriterin und Kinderbuchautorin Sarah Weeks ihre kleine Heldin auf die Spuren der Vergangenheit und erschwert die Suche sogar noch: Mama spricht nur 23 Wörter, nennt sich selbst "So B. It" und wiederholt tagaus tagein immer wieder ein geheimnisvolles "Soof". Zudem scheut die gute Bernadette jegliche Spurensuche. Die Gegenwart ist für sie Herausforderung genug. Sie leidet unter Platzangst und hat ihre Wohnung seit Jahren nicht verlassen. Nähere Bekannte scheint es nicht zu geben.

    Heidi - die die Geschichte rückblickend erzählt - lässt die Frage "Wo komme ich her?" nicht in Ruhe. Dann findet sie - völlig unerwartet eine Kamera,

    " die ganz hinten in der verklebten unteren Schrankschublade lag, wo wir Krimskrams wie Geburtstagskerzen und Gummibänder aufbewahrten. Ich war auf der Suche nach Tesafilm und riss die Schublade so stürmisch auf, dass das ganze Ding krachend auf dem Boden landete, und da lag sie: eine schwarze Kodak-Instamatic-Kamera aus Plastik mit einer eingelegten Filmrolle. Und zwar einer benutzten.

    Meine Suche nach der Wahrheit begann ernsthaft, nachdem ich den Film hatte entwickeln lassen."

    Das Mädchen macht sich auf die Suche nach der Wahrheit, die in einem Anwesen namens Hilltop in einem Ort namens Liberty verborgen zu sein scheint. Im Greyhoundbus 4000 Meilen quer durchs Land. - Die Weltenwanderungen der jungen Heldin, ihre Fähigkeit, Fantasie, Neugierde, Courage, Witz und ein ganz spezielles Glücksspiel-Talent unter einen Hut zu bringen, bewahrt die Geschichte vor kitschigen Untertönen. Der Roman lebt von der Bewegung. Die lebendigsten Teilchen sind die Randerscheinungen, die kleinen Begebenheiten, die zufälligen Begegnungen und Beobachtungen unterwegs und die Gespräche mit unbekannten Menschen, zum Beispiel mit der Studentin Georgia, die sie im Greyhoundbus von Cheyenne nach New York kennen lernt.

    " Ich zeigte Georgia die Fotos von Hilltop und erzählte ihr alles, was ich herauszufinden hoffte, und sie gab mir nicht ein einziges Mal das Gefühl, ich sei verrückt, weil ich das alles unbedingt wissen wollte.

    "Ich wäre genau wie du", sagte sie. "Ich würde alles wissen wollen. Unbedingt."

    Bevor ich Reno verließ, hatte ich geglaubt, dass die ganze Welt voller Menschen war, die genau wussten, wer sie waren, wohin sie gingen und warum sie taten, was sie eben taten. Wohin ich auch kam, sah ich solche Menschen. Sie gingen die Straße entlang, standen an der Kreuzung und wollten auf die andere Seite, warfen Briefe ein. Leute, die Bescheid wussten. "

    Was ist Dichtung? Was sind Tatsachen? Was ist Wahrheit? Wie gesagt, Jerry Spinelli würde empfehlen: "Wenn ihr wissen wollt, wie es damals wirklich war, haltet euch gut an euren Stühlen fest und achtet sehr gut darauf, dass ihr Tatsachen und Wahrheiten nicht durcheinander bringt." Bei Sarah Weeks lernen wir mit unseren Stühlen zu fliegen und entdecken die Wahrheiten hinter den Tatsachen selbst dann, wenn uns gerade ein Märchen erzählt wird.




    " Ich war erst in der Notaufnahme, gleich nachdem ich versucht habe mich umzubringen, in Applegate. In der Notaufnahme haben sich mich eine Weile total zugedröhnt, und dann haben sich mich aus der Notaufnahme rausgekickt und hierher gesteckt."

    Nach ihrem Debüt "Das Leben ist komisch" hat die ehemalige Sozialarbeiterin E.R. Frank einen zweiten Roman aus dem Blickwinkel eines Jugendlichen aus katastrophalen sozialem Milieu geschrieben: "Ich bin Amerika". Wieder zieht sich durch die Geschichte ein unverwüstlicher Faden der Hoffnung, trotz aller Tragik. Das zu erzählen, was Amerika seit seinen Kindertagen erdulden musste, passt nicht zwischen zwei Buchdeckel. Aber den mühsamen Weg aus dem Labyrinth der Schrecken nachzuzeichnen, in dem der Junge hoffnungslos verloren scheint, das macht Sinn. Die inneren Monologe Amerikas lesen sich wie die Erzählung eines fantastischen Realisten hinter dem sich ein akribischer Seelenforscher verbirgt.

    " Amerika ist ein Junge, der an vielen Ort war. Ich wette, das steht irgendwo in der Akte. Amerika ist ein Junge, der leicht verloren geht, und es lohnt nicht, ihn zu suchen."

    Ein junger Mensch weiß weder ein noch aus. Sehnt sich nach Stille, in der niemand mehr gut ist, niemand mehr schlecht. Er hat Dinge gesehen, Sachen erduldet, die sich Normalos nicht einmal vorstellen können. Er hat versucht, sein Leben wegzuwerfen. Nun sitzt er in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Klinik, geht dienstags und donnerstags eine dreiviertel Stunde zur Einzeltherapie. Er trifft wider Erwarten einen Psychologen, der zuhört, auch wenn man seinen Mund gar nicht aufmacht.

    " Ich liege flach ausgestreckt in meinem Sargbett und mir geht alles auf die Nerven. Wie Dr. B. Sachen in meinem Kopf auslöst und mich Sachen sehen lässt, die ich eigentlich nicht sehen will. Das kommt davon, wenn du mit Leuten sprichst. Das ganze Gerede macht dir Risse im Hirn und da drängen sich all diese Blitze durch."

    Es geht Frank nicht vorrangig darum, die Schwere der Last zu dokumentieren, die Amerika zu tragen hat. Bedeutsamer ist vielmehr, wie die Schriftstellerin den Weg eines völlig aus der Bahn geworfenen Jungen zurück ins Leben beschreibt: weder als politisch korrekten Marsch Richtung Normalität noch als achtfachen Pfad der Erleuchtung. Auch nicht als Erkenntnisspirale, die sich dialektisch nach oben schraubt.

    "... und ich putze und schneide und raspele und verbrauche eine Menge Hirn für:
    Ich hasse dich. Arschloch. Ich hasse dich. Arschloch. Arschloch. Ich hasse dich. Ich. Hasse. Dich.
    Einen Teil meiner Gedanken verwende ich für:
    Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid.
    Ganz kurz sage ich:
    Ich bin nicht böse. Ich bin nicht so böse. Ich. Bin. Nicht. Böse. "

    Amerikas Weg zurück zu Mut und Selbstvertrauen und zur Gewissheit, nicht bösartig zu sein, gleicht dem Herumtasten im verschütteten Stollensystem der eigenen Geschichte. Ob der Junge die Oberfläche erreicht, hängt davon ab, ob er die erinnerten Orte, an denen er Geborgenheit und Güte erlebte, freischaufeln kann. Mit eigener Kraft. Mit Hilfe von Freunden. Mit Hilfe von Menschen, die zuhören, auch wenn es einem die Sprache verschlagen hat. E.R. Frank führt durch das Gewirr furchtbar enger Gänge, ohne dass man je das Gefühl hat, an der Hand genommen zu sein, geschweige denn sich auf sozialpädagogisch Terrain zu bewegen.




    Ein anderer Schauplatz: Eine Provinzstadt in Maryland. Von diesem Roman kann man zuerst einmal sagen: Vorsicht, heißes Buch! Es wimmelt nur so von schönen und erfolgreichen Menschen in Kathleen Jeffrie Johnsons Roman "Die Parallelwelt der Lügner". Waschbrettbäuche und perfekte Körper, wohin man blickt, exquisite Mode, schickes Styling, betörende Düfte, knackige Pos und - in den Worten der 15-jährigen Erzählerin Robin - "geile Titten". Sie selbst scheint in dieser Welt ein Wesen von einem anderen Stern.

    " Keiner sagt einem, was man machen soll, wenn man zu dick ist und ein hoffnungsloser Fall und die einzige Freundin, die man hat, nach Alabama zieht.

    Selbst wenn ich wirklich abnehmen würde, würde ich doch nie so aussehen wie Mutter. Ich komme nach Dad - klein und birnenförmig. Mutter ist blond und viel größer als ich, und außerdem hat sie Mordstitten. sie sich sogar liften lassen. Und obwohl sie echt alt ist - vierundfünfzig -, schafft sie es immer wieder, einen Typen zu finden. "

    Man ahnt bereits auf den ersten Seiten des Buches: Die Welt der Menschen, für deren Schönheit sich die Chromosomen anscheinend ganz besonders ins Zeug gelegt haben (wie Robin glaubt), sie ist nicht so. Hinter den Fassaden bröckelt es mitunter gewaltig. Man muss gar nicht besonders tief ins wohlhabende Milieu eindringen, um zu begreifen, dass neben der heilen Welt eine Parallelwelt der Lügner existiert, in der munter belogen und betrogen wird. Robin braucht zu dieser Erkenntnis etwas länger. Schließlich ist sie mittendrin in den Sinnkrisen, die junge Menschen mit 15 eben heimsuchen.

    " Vielleicht sind meine Brüste sogar ein ganz kleines bisschen hübsch. Ich gehe weiter. Die Luft ist warm und berührt mich überall, als würde sie mich mögen. Ob ich das Nachthemd ganz ausziehen soll? Aber dann wäre ich nackt, und wenn mich dann jemand sehen würde! Man würde mich festnehmen. Also behalte ich es an und lasse nur die Brüste frei. Vor unserer Terrasse bleibe ich stehen.

    Die Nachtluft küsst mich - Robin Fettbäckchen.

    Ich ziehe das Nachthemd wieder hoch und gehe hinein."

    Robin "Fettbäckchen" - wie sie sich selbst nennt - leidet. Sie leidet unsäglich auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten. Unglücklicherweise zählt auch Frankie aus dem Nachbarhaus zu den Schickimickis. Er hat das Zeug dazu hat, in L.A. Karriere zu machen, wenn er nur seiner Devise treu bleibt:

    " Immer dran bleiben, sonst verfällt dein Körper."

    Kathleen Jeffrie Johnson geht ungewöhnlich offen zur Sache und fördert selbst Robins heimlichste Gedanken schnörkellos zu Tage. Die innere Stimme des Mädchens kennt keine Tabus. Das ist gut so. Glaubwürdig kann nur sein, wer die Zerrissenheit seiner jungen Helden zwischen sexueller Neugier, grenzenloser Fantasie, ersten zaghaften erotischen Handgreiflichkeiten, einem Sack voller Komplexe und gelegentlichem klarem Blick in unverblümte Worte zu fassen vermag. Und schließlich ist da ja noch Tri, ein wirklich netter afroamerikanischer Junge, den Robin allerdings dummerweise just zu dem Zeitpunkt kennen lernt, als Frankie ihre Sexfantasien anstachelt.

    " Während er den Wagen wäscht, betrachte ich die Linie seines Rückens, seinen Hintern, der sich in den Shorts abzeichnet. Wenn ich abnehme, wird mein Hintern vielleicht mal für irgendwen ein Highlight. Bis jetzt hat ihn nur einer je zur Kenntnis genommen, und das ist der alte Mr Simmons im Altenheim. Er versucht mir immer in den Po zu kneifen."

    Robin übersteht ihre Exkursionen in die Parallelwelt ohne dramaturgische Zaubertricks der Autorin. Am Ende der Reise glaubt man fest daran: Es gibt ein glückliches Leben jenseits von Waschbrettbäuchen. Trotz der unvermeidlichen Präsenz perfekter Körper, trotz betörender Düfte, knackiger Pos und geiler Titten.

    Am Ende unserer kleinen Reise landen wir wieder bei Jerry Spinelli. Die Autoren der Romane, die wir heute vorstellten, haben sich offensichtlich zu eigen gemacht, was ihr geschätzter Kollege aus Pennsylvania meint, wenn er die Wahrheiten hinter den Tatsachen und Legenden sucht. Zu Herzen genommen haben sie sich aber auch, was er zu den dunklen Seiten des Lebens zu sagen hat - und das macht die Bücher dieser realistischen Traumtänzer und realistischen Traumtänzer unter den amerikanischen Jugendbuchautoren so lebensnah und so lesenswert.
    "Ich hab nicht darüber nachgedacht, wie weit ich gehen würde oder welche Beschränkungen ich mir selbst auferlegen könnte, wenn ich über das schlechte Zeug in der Welt schreibe. Manchmal weißt du, dass du nicht jedermann erfreuen kannst. Du schreibst über irgendwas Schmutziges und irgendwas Bösartiges und irgendwas Schlechtes und irgendwas Unerfreuliches - und du kannst sicher sein, dass du eine Menge Leute am Hals hast, die ein Problem damit haben. Und Leute scheinen gerade in einigen Fällen nicht zu verstehen, dass man das Helle viel besser verdeutlichen kann, wenn man es mit dem Dunklen kontrastiert. Und du musst einige Schlechtigkeiten in deine Geschichte packen, wenn du ihr einen guten Sinn geben willst. So funktioniert das. "


    Literatur

    Brian Doyle: Boy O'Boy.
    Deutsch von Sylke Hachmeister
    Verlag Friedrich Oetinger
    Hamburg 2005
    176 Seiten, Euro 9,90
    ab 12


    Sarah Weeks: So B. It. Heidis Geschichte
    Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit
    Carl Hanser Verlag
    München 2005
    224 Seiten, Euro 15,90
    ab 11


    E.R. Frank: Ich bin Amerika
    Aus dem Amerikanischen von Heike Brandt
    Beltz & Gelberg
    Weinheim 2005
    248 Seiten, Euro 14,90
    ab 14


    Kathleen Jeffrie Johnson: Die Parallelwelt der Lügner
    Aus dem Englischen von Sylke Hachmeister
    Carlsen Verlag
    Hamburg 2005
    224 Seiten, Euro 13,-
    ab 14