Archiv


Das Klingsor-Paradox

Ob ein Buch auf der Frankfurter Buchmesse Sieger oder Verlierer wird, bestimmt die Höhe der Lizenzen. Wie viel war wem ein Buch im Ausland wert. 400.000 US-Dollar an Auslandsrechten erbrachte vor zwei Jahren das Klingsor-Paradox. Kein Wunder, dass Klett-Cotta jetzt mit einer Hochglanzbroschüre für den in Nazideutschland spielenden "Wissenschaftskrimi" wirbt. Autor ist ein junger Mexikaner. In Spanien erhielt Jorge Volpis Roman nicht nur den renommierten Preis Biblioteca Breve. Altmeister wie Gabriel Garcia Märquez und Carlos Fuentes sehen, laut Verlagsprospekt, in ihm bereits ihren literarischen Nachfolger. Der Kubaner Guillermo Cabrera Infante sagte über das Klingsor-Paradox, es sei der erste von einem Lateinamerikaner geschriebene, "deutsche" Roman.

Evita Bauer |
    Doch gerade dies wirft die Kritik jenseits des Atlantiks Volpi vor. Das literarische Programm des heute dreiunddreißigjährigen, mexikanischen Kulturattaches in Paris geht auf die von ihm gegründete Gruppe "Crack" zurück - so nannten sich selbstbewusst Volpi und seine schreibenden Freunde aus Kinderzeit. Volpi:

    96 veröffentlichten wir augenzwinkernd, ohne ein klares Konzept das Manifest der Gruppe "Crack". Wir waren nur gegen seichte Literatur. Der Roman sollte wieder anspruchsvoll und komplex wie zu Zeiten des Booms sein, dabei aber allen Themen offen stehen. Wir waren nicht dagegen, dass Romane in Mexiko oder Lateinamerika spielen, sondern wollten uns neuen Themen zuwenden, wie ich es mit dem "Klingsor Paradox" getan habe.

    Mit seinem sechsten Roman und der Hilfe einer prestigereichen New Yorker Agentur gelang dem jungen Diplomaten der Durchbruch als Nachwuchsautor. Das fünfhundert Seiten lange Buch zeugt von Volpis Willen, seinem literarischen Anspruch gerecht zu werden. Für ihn ist es sein gelungenstes Werk, weil sich darin "anspruchsvoll" Geschichte und Geschichten, Action und Wissenschaft verbinden und nicht mehr Mexiko, sondern Deutschland Schauplatz der Handlung ist.

    Der gelernte Jurist und Literaturwissenschaftler wendet sich im "Klingsor-Paradox" den Zahlen und der Physik zu - einer Leidenschaft aus Kindertagen, die er mit seinem Protagonisten Francis Bacon teilt. Auch wenn im Roman viel über Zufall philosophiert wird, als Autor vertraut Volpi ihm nicht. Ob bei der Wahl der Namen oder beim Titel - der Mexikaner greift gerne tief in den Zettelkasten europäischen Bildungsbürgertums: Für das Böse muss Wolfram von Eschenbachs Zauberer Klingsor und für den Helden der englische Empiriker Sir Francis Bacon Pate stehen. Auch ein Goethe Zitat darf da nicht fehlen. Volpi:

    Mir gefiel es, mit einer Anspielung auf Goethes letzte Worte den Roman anzufangen und zu schließen - auch um weiter im deutschen Kulturkreis zu bleiben. Mit Goethe, mit der Aufklärung geht das Licht an. Ich greife das im Roman auf, weil Hitler dieses Licht löschen wollte. Das Licht der abendländischen Aufklärung brachte die Demokratie hervor, wie sie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestand. Daher diese Anspielung.

    Auch wenn Goethe nicht unbedingt zur Aufklärung gezählt wird, Volpi dient er als Gütesiegel für seinen in Nazideutschland spielenden Wissenschaftskrimi. Der amerikanische Offizier und Physiker Francis Bacon stößt in den Nürnberger Prozessakten auf den Decknamen eines wichtigen Naziwissenschaftlers, Klingsor. Gemeinsam mit dem Mathematiker Links will Bacon Hitlers ehemaligen Berater beim Atomprojekt entlarven. Gehörte Klingsor zu den Vertretern der deutschen Physik oder zum Gegenlager? Die Suche der beiden Wissenschaftsdetektive führt sie vom Nazi-Nobelpreisträger Johannes Stark zu Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Max Planck, Kurt Gödel und Niels Bohr. Wie in einem Lexikon für deutsche Wissenschaftsgeschichte breitet Volpi deren Viten und Verdienste, Rrnke und Rivalitäten, Theorien und politische Überzeugungen aus. Volpi:

    Ich wollte vor allem einen Roman über die Naturwissenschaft schreiben. Während meiner Nachforschungen stieß ich innerhalb der Wissenschaftsgeschichte auf eine besonders spannende Zeit: die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, die von 1905, von der Relativitätstheorie, bis zur Entdeckung der Quantenmechanik reicht. Die Zeit zwischen den Weltkriegen ist historisch interessant und schwierig. So wurde das Buch auch zu einem Roman über Deutschland.(13:54) Danach kam die historische Recherche, um diese in Deutschland, in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts spielende Geschichte erzählen zu können.

    Neben Quantenmechanik, Nullsummenspielen, Relativitätstheorie und Nationalsozialismus geht es in Volpis Roman natürlich auch um die Liebe. Sein Held Bacon verfällt erst den Zahlen, dann einer schwarzen Sexsklavin und schließlich einer deutschen Spionin der Sowjets. Letzterer opfert er nicht nur seine Mission, sondern auch Mitstreiter Gustav Links, der in der Psychiatrie verschwindet. Nach vierzig Jahren, kurz vor dem Mauerfall, blickt dieser als inzwischen greiser Icherzähler auch auf Liebe und Leidenschaft zurück. Volpi:

    Obwohl der Roman Vernunft und Wissenschaft in einer schwierigen Zeit behandelt, wollte ich die Liebesbeziehungen der Romanfiguren beschreiben, vor allem die von Links, dessen bestem Freund und ihren beiden Ehefrauen. Das war besonders wichtig und spielt im Roman eine zentrale Rolle. Denn die wissenschaftlichen Kombinationsmöglichkeiten entsprechen denen der Liebe und münden hier in einem Vierecksverhältnis. Das ist natürlich viel interessanter als Bacons Liebesleben, der in diesen Dingen viel naiver und dümmer.

    Als Metapher für das Dreiecksverhältnis des Icherzählers ist das Bild von den "wissenschaftlichen Kombinationsmöglichkeiten" weit hergeholt. Im Kapitel "Die Anziehungskraft der Körper" findet die Dreiecksgeschichte ihren Höhepunkt -erotische, wie stilistisch. Einige Kostproben:

    Unsere schweißnassen, erregten Körper rissen sich in jener Weihnachtsnacht die Kleider vom Leib, als wären wir Sklaven, die endlich ihre Ketten abwarfen....Wir stürzten in unser Schlafzimmer erschöpft und nackt, krallten uns an die Laken wie an Fischernetze, in denen sich unsere Haut kraft des Heiligen Geistes verfangen hatte. ... Unsere Umarmungen waren die Urkräfte in Expansion, unser Gemurmel das Wort und unsere Müdigkeit das Ruhen am siebten Tag.

    Trotz Goethe und Wellenmechanik, der kleine, katholische Macho lässt sich nicht leugnen. Dabei lesen sich die erotischen Szenen in Volpis Roman wie die Fantasien eines Pennälers auf einem naturwissenschaftlichen Knabengymnasium. Ob laszive Lesbe oder deutsche Domina, kapriziöse Kunststudentin oder dunkelhäutige Dienerin - Verhängnis des nach Fortschritt und Wahrheit strebenden Detektivpaares ist immer die Frau. Doch über freizügigen Sexspielen vergisst der mexikanische Nachwuchsautor weder das metaliterarische noch das Spiel mit dem Leser:

    Ich wollte den Roman zum Spiel für den Leser machen. Ein Spiel im Sinne von Borges, um den Leser aktiv an der Aufdeckung des Schlusses und auch am Fortlauf des Romans zu beteiligen. Ein Roman über Wissenschaft und Ungewissheit, der die absolute Wahrheit in Frage stellt, muss auch ein unbestimmtes Ende haben. Dagegen schien es mir viel interessanter mit der Struktur des Romans zu spielen und den Leser zum Mitspieler meiner Geschichte zu machen. Er muss entscheiden, wann gelogen wird, wann nicht und wohin das Ganze führt.

    Wohin das Ganze führt bleibt im "Klingsor-Paradox" so offen wie die Frage, wer der böse Naziforscher war. Der Mix aus Drittem Reich, Wissenschaft, Sex und formalen Spielereien ist ein missglückter Versuch, deutschen Bildungsroman und lateinamerikanische Erzählkunst zusammenzuführen - ein Beispiel dafür, dass Ehrgeiz und eine gute Agentur noch lange keinen Romancier machen. Garcia Märquez & Co sollten deshalb lieber weiter einen Nachfolger suchen.