Donnerstag, 28. März 2024

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Das Königreich im Herzen

Mehr als ein Drittel der Magyaren lebt außerhalb Ungarns, die meisten davon in den angrenzenden Nachbarländern. Eine Folge des Ersten Weltkrieges, in dem die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie zerbrach und große Landesteile des Königreichs Ungarn den neu entstandenen Nachbarstaaten zugesprochen wurden.

Von Jan-Uwe Stahr | 18.07.2009
    Lustschloss Trianon, Park von Versailles: Die Alliierten stellen dem Stephansreich die Todesurkunde aus. 4. Juni 1920: die Flaggen auf Halbmast, die Glocken im Trauerton.

    In einem Pariser Vorort verliert Ungarn 1920 zwei Drittel seines Staatsgebiets. Trianon ist nationale Tragödie, ist das Ende des historischen Ungarn. Und die Bevölkerung? Aus Ungarn werden Rumänen, werden Tschechoslowaken, Jugoslawen; aus Verwandten Ausländer, Minderheiten im anderen Land. Eine alte Geschichte? Keineswegs. Das Gerangel der Nationalitäten hält an. Die Fragen nach Herkunft und Identität sind weithin präsent.

    Willkommen zu den Gesichtern Europas. Über "Das Königreich im Herzen - Ungarisches Leben jenseits der Landesgrenzen". Eine Sendung von Jan-Uwe Stahr. Am Mikrofon ist Ursula Welter.

    Ein Kirchenhistoriker, Angehöriger der ungarischen Minderheit in Rumänien:


    "Ungar - das ist meine Identität. Patriotismus ist eine Gefühlssache. Und aufgrund meiner Gefühle sehe ich mich als Ungar."

    Und eine Slowakin, die in einer sehr ungarischen Stadt der südlichen Slowakei lebt:

    "Es macht keinen Unterschied, ob man Ungar oder Slowake ist. Wir sind alles Menschen!"

    Trianon 1920 - das ist Amputation, das ist das Ende der Donaumonarchie. Die Grenzen werden neu vermessen. Ungarn bleibt ein Drittel seiner vormaligen Fläche und weniger als die Hälfte seiner Bevölkerung. Fast jede ungarische Familie ist betroffen. Im Grunde, so schreibt Paul Lendvai, habe sich Ungarn davon bis heute nicht erholt. Und tatsächlich, die Konflikte schwelen, brechen auf, die Wirtschaftsmisere tut ihren Teil dazu, vor allem Parteien am rechten politischen Rand machen sich Geschichte zunutze.
    Die größte ungarische Minderheit lebt in Rumänien, knapp 1,5 Millionen Menschen, der Großteil in Siebenbürgen.

    Die rumänische Stadt Cluj heißt auf Ungarisch Kolozsvàr und auf Deutsch Klausenburg. Seit die, einstmals ungarische, Stadt zu Rumänien gehört, ist der Anteil der ungarischen Einwohner immer weiter geschrumpft. Nach dem Zweiten Weltkrieg flüchteten Zehntausende Ungarn ins Mutterland, statt ihrer wurden Rumänen angesiedelt. Nach dem Ende des Kommunismus gab es eine weitere große Auswanderungswelle. Mit dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union schien die Emigration der Ungarn aus Siebenbürgen gestoppt.

    Cluj liegt idyllisch eingebettet zwischen den waldigen Bergen Siebenbürgens, eine prachtvolle Altstadt in Barock- und Jugendstilarchitektur, vornehme Villenviertel, viele schicke Geschäfte, gute Restaurants und ungarische Geschichte:


    Suche nach der Geschichte - ein ungarischer Historiker im rumänischen Cluj
    Gabor Sipos steigt eine steile hölzerne Treppe hinauf. Sie führt in den Kirchturm der 1760 erbauten Reformationskirche. Oben angekommen öffnet er eine sorgfältig verriegelte kleine Tür, tritt hinein in einen dämmrigen Raum.

    Die Luft ist trocken, riecht nach Eichenholz und altem Papier. Regale drängen sich dicht an dicht. Darin aufgereiht: große, in dunkelbraune Pappdeckel gebundene Hefte.

    Sipos streicht sich über den grauen Schnauzbart, verengt die Augen hinter der dicken Brille zu schmalen Schlitzen - lässt den Blick über die beschrifteten Einbände wandern, greift dann in das mittlere Regal, zieht einen Band mit der Jahreszahl 1760 heraus, blättert ihn auf: In kunstvoller Handschrift sind Nummern und Jahreszahlen aufgelistet, dahinter kurze Vermerke: ein Index der vorhandenen Dokumente - Kirchenbücher, Schriftwechsel, Urkunden.

    600 Meter Dokumente, vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, lagern in der alten ungarischen Reformationskirche, die jetzt auf rumänischem Boden steht. "Dies alles zu sichten und die Geschichte zu dokumentieren, das ist jetzt unsere Aufgabe", sagt der 58-jährige Kirchenhistoriker Sipos und stellt den Archivindex zurück in das Regal.

    Im Kommunismus war die ungarische Vergangenheit von Siebenbürgen tabu. Gelehrt und gelernt wurde die Geschichte aus rumänischer Sicht. Aus Ungarn sollten Rumänen werden. Das war das Ziel der Politik; auch an der Universität, erinnert sich Sipos. In den 70er-Jahren studierte er in Cluj Geschichte.

    "Damals war es die Politik, dass die Zimmer im Studentenwohnheim gemischt wurden. Das heißt, jeder Ungar musste einen Raum mit drei oder vier Rumänen teilen. Allerdings haben wir diese Vorschrift umgangen und wir wohnten dann doch zusammen in den Zimmern, getrennt von den Rumänen."

    Wir hatten aber ein kollegiales Verhältnis zu den rumänischen Kommilitonen, fügt Sipos hinzu. Dann schlägt er einen kleinen Stadtbummel vor. Viele junge Leute bummeln durch die Gassen, entlang der schicken Läden, Restaurants und Kneipen. Die alte Universitätsstadt ist in den vergangen Jahren zu neuem Leben erwacht, sagt Sipos. Vor allem Ausländer haben hier investiert: Italiener, Franzosen, Deutsche, Amerikaner.

    Ungarisch hört man allenthalben auf den Straßen von Cluj. Doch die Straßenschilder und auch die Beschriftungen in den Geschäften sind fast alle rumänisch. "Zweisprachige Schilder sind erst ab einem Bevölkerungsanteil von über 20 Prozent vorgeschrieben", erläutert Sipos. Doch in der Stadt, die für ihn noch immer Kolozsvár heißt, leben nur noch 19 Prozent Ungarn. Gabor Sipos bleibt stehen: Sechs übermannshohe Messingstehlen wachsen aus dem Boulevard. Daneben, im Boden eingelassen, ein Schild mit 21 Namen. Das Denkmal ist den Opfern vom 21. Dezember 1989 gewidmet, erklärt der Historiker und liest die Namen auf der Tafel vor: rumänische und ungarische.

    Gemeinsam erhoben sich die rumänischen und ungarischen Bürger von Koloszvár gegen Ceaucescu. Der Diktator ließ seine Soldaten in die Menge schießen. Wenige Tage später wurde er in Bukarest gestürzt.

    Doch schon bald nach dem Ende der Zwangsherrschaft wich die Gemeinsamkeit einem neuen Nationalismus und Chauvinismus - auf beiden Seiten. Die Ungarn forderten nun Autonomie, manche sogar die Wiederherstellung des Großungarischen Königreiches. Die Rumänen dagegen wollten der magyarischen Minderheit in ihrem Land keine Sonderrolle zugestehen. In manchen Städten kam es zu blutigen Auseinandersetzungen, in Cluj zum Glück nicht. Aber auch hier war die Stimmung vergiftet, sagt Sipos.

    "Es ist wirklich in dieser Zeit vorgekommen, auch in Koloszvár, dass man zum Beispiel im Bus angesprochen wurde, warum man ungarisch spricht, oder dass man aufgefordert wurde, rumänisch zu sprechen, da dies die offizielle Landessprache ist."

    Auch der neue Bürgermeister, der nach der Wende das Amt übernahm, war ein glühender rumänischer Nationalist. Er ließ das Reiterdenkmal des ungarischen König Mathias, der in Koloszvár geboren wurde und eines der wichtigsten ungarischen Symbole ist, von rumänischen Nationalflaggen umstellen. Sogar die Mülltonnen waren für den Bürgermeister von nationaler Bedeutung.

    "Stellen sie sich vor, anstatt der gelben oder grünen Mülltonnen, gab es damals eine Mülltonne in den rumänischen Nationalfarben rot, gelb, blau. Auch die Bänke hier auf dem Hauptplatz und auf der Promenade wurden in den Nationalfarben angestrichen. Die Ungarn haben sich darüber natürlich etwas lustig gemacht und zum Spaß gesagt: 'Ich setze mich gerne mit meinem Hintern auf eine solche Bank. Es würde mich viel mehr stören, wenn sie in den ungarischen Farben gestrichen wäre.'"

    Allmählich fanden auch immer mehr Rumänen die Aktionen des Bürgermeisters überzogen und lächerlich. Er wurde abgewählt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Aussicht auf den EU-Beitritt entspannte sich auch das Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen. 1996 wurde die, als gemäßigt geltende, Sammelpartei der rumänischen Ungarn Koalitionspartner in der Bukarester Regierung. Das ist jetzt - nach zwölf Jahren - wieder vorbei; ebenso wie der wirtschaftliche Aufschwung. Jetzt - so hat es den Anschein,- haben die nationalistischen Scharfmacher wieder Konjunktur. Sipos deutet auf das Graffiti an einer Hauswand: Ein Kreis mit einem Kreuz "Tod den Ungarn" steht dort auf rumänisch.

    "Auch hier entsteht wieder ein Nationalismus. In der Neonazipartei, die oft Aufmärsche organisiert, sind viele junge Leute. Man weiß nicht, ob sie sich nur zusammentun, um gemeinsam Remmidemmi zu machen, oder ob sie wirklich nationalistisch oder chauvinistisch eingestellt sind."

    Nationalistische Sticheleien gibt es auch wieder von offizieller Seite. In Cluj sollen die vielen Denkmäler der Stadt jetzt mehrsprachige Erklärungstafeln bekommen: Rumänisch, Italienisch und Französisch sind vorgesehen - Ungarisch nicht. Ein Affront gegen die vielen ungarischen Touristen, die die Stadt besuchen, auch gegen die Bürger, sagt der Historiker Gabor Sipos, die sich, wie er, mit der alten Geschichte seiner Stadt zutiefst verbunden fühlen:

    "Ich habe nur eine Identität: Ich bin Ungar. Natürlich halte ich mich an die rumänischen Gesetze und bin ein loyaler rumänischer Staatsbürger. Aber die Identität ist eine Frage des Gefühls. Patriotismus ist eine Gefühlssache. Und aufgrund meiner Gefühle sehe ich mich als Ungar."

    "Drei Raben" heißt eine in Budapest erscheinende deutschsprachige Zeitschrift für ungarische Kultur. Im März 2005 widmete sie eine ganze Ausgabe ausschließlich ungarischen Autoren jenseits der Landesgrenzen. Márta Jósza stammt aus Koloszvár, dem rumänischen Cluj, von dem wir gerade hörten. Die rumänische Zeitrechnung ist der Mitteleuropäischen Zeit eine Stunde voraus. Damit gehen die Uhren in Rumänien anders als in Ungarn:

    " In meiner Geburtsstadt ist es heutzutage zu einer modischen Form des Widerstandes geworden, nach Budapester Zeit zu leben. Das ist ein Zeit-Widerstand, einen Raum-Widerstand gibt es nicht, einen Existenz-Widerstand vielleicht. Vielleicht kommt es vor. Genauer gesagt es kommt kaum vor. Aber - ich glaube - jeder hat auch eine Uhr gemäß Bukarester Zeit. Eine solche Uhr gibt es, die Bukarester Zeit tickt sozusagen. [ ... ] Aber in Kolozsvár sagt man sich beim Glockenläuten sicher nicht: Es läutet zu Mittag, also ist es elf Uhr. Obwohl es logisch wäre (in Kolozsvár läutet es also gemäß Bukarester Zeit um elf Uhr zu Mittag, wenn man der Zeit wie ein Emigrant aus Richtung Budapest lauscht), doch zum Glück wer in Kolozsvár wohnt, ist kein Emigrant. Woher denn auch, es gibt kein Woher. Läutet es um zwölf (gemäß Budapester Zeit), dann weiß man, dass es eins ist, gemäß Bukarester Zeit. Umgekehrt gibt es keine Umrechnung. Man weiß, wieviel Uhr es ist, man verwechselt Budapest nicht mit Bukarest, oder wenn doch, dann strikt nur in eine Richtung. Man kann ja Richtung Budapest leben, wenn man will, Richtung Bukarest nur am Sankt-Nimmerleins-Tag."

    Das Verhältnis zwischen Ungarn und der Slowakei gilt als angespannt. Ungarische Nationalisten tragen ihre Parolen in die Nachbarländer, legen die Finger in die alten Wunden, die die Grenzziehung nach dem Ersten Weltkrieg geschlagen hat.
    Die Träume vom Königreich Ungarn werden mit Begriffen wie "Karpatenbecken" bedient. Was geografisch klingt, ist doch politisch gemeint. Rund 500.000 Ungarn leben in der Slowakei, in einem recht geschlossenen Gebiet, das direkt an Ungarn anschließt.


    Dunajská Streda im Süden der Slowakei: Die Mehrheit der Bewohner ist ungarischer Abstammung. Im November vergangenen Jahres trifft der örtliche Oberligaclub auf Slovan Bratislava. Es kommt zu einem brutalen Polizeieinsatz - um ein Haar zur Massenpanik. Ein Einsatz gegen gewalttätige Fußballfans, sagen die slowakischen Behörden, eine Provokation, heißt es in Ungarn. Schließlich gilt die Fußballmannschaft von Dunajská Streda als wichtiges Symbol der ungarischen Minderheit in der Slowakei.

    Störmanöver - der Fußballkrieg von Dunajská Streda
    "Unsere Bürger hier sind sehr fleißig. Nach dem Sozialismus haben wir vieles neu geschaffen", sagt Peter Pázmány und steuert seine silberne Geländelimousine durch die "Fö utca", die Hauptstraße von Dunajská Streda, beziehungsweise Dunászerdahely, wie Pázmány die kleine südslowakische Kreisstadt nennt - denn schließlich ist er ein ungarischer Slowake.

    Fast alle Schilder sind zweisprachig: slowakisch und ungarisch. Pázmány zeigt aus dem Wagenfenster: Kleine Stadthäuser mit organisch geschwungenen, eleganten Fassaden und kleinen Läden säumen die Straße.

    Alles von Mákovetz, sagt er und lächelt. Imre Mákovetz, der Stararchitekt aus dem Nachbarland Ungarn ,hat das neue Stadtzentrum entworfen. Und Peter Pázmány hat es bauen lassen; dorthin, wo zuvor gesichtslose Plattenbauten standen. 14 Jahre lang war er hier Bürgermeister, hat aus der kleinen Agrar- und Lebensmittelindustriestadt nach der Wende ein kulturelles Zentrum des Ungarntums in der südwestlichen Slowakei geschaffen; mit anspruchsvoller Architektur, einem neuem Thermalpark und guten Hotels.

    Doch vor einigen Monaten sorgte ein Fußballspiel in Dunászerdahely für europaweit negative Schlagzeilen. Und die schmucke Kleinstadt wurde zum Auslöser einer politischen Krise zwischen den Nachbarländern Slowakei und Ungarn. "Hier gibt es einen guten Presszo" - Pázmány deutet auf ein schickes Gartencafé. An seinem linken Handgelenk glitzert eine schwere Armbanduhr. Er trägt ein kurzärmeliges Designerfreizeithemd, helle Hosen und dazu spitz zulaufende handgearbeitete Lederschuhe.

    "Ich habe noch im Sozialismus Wirtschaftswissenschaft studiert", sagt Pázmány und winkt den weiß beschürzten Ober herbei. Peter Pázmány stammt aus einem bekannten und wohlhabenden ungarischen Adelsgeschlecht. In der kommunistischen Tschechoslowakei wurde seine Familie enteignet, sein Vater zum Arbeiten in den Straßenbau geschickt. Nun haben sie den Grundbesitz vom neuen slowakischen Staat zurückbekommen. Pázmány lächelt. Finanziell hat der 59-Jährige ausgesorgt. Trotzdem ist er nicht gut zu sprechen auf die Politik in Bratislava. Zumindest nicht auf die der derzeitigen Regierung. Sie trage die Verantwortung für die brutale Polizeiaktion im Fußballstadion von Dunászerdahely, glaubt der ehemalige Bürgermeister.
    "Ja, ich war dort im Stadion und ich bin überzeugt, dass es eine angezettelte Aktion war, hinter der der slowakische Geheimdienst stand. Aber ich würde es auch nicht ausschließen, dass der ungarische Geheimdienst davon wusste."

    Zwar seien unter den 11.000 Zuschauern auch etwa 100 bis 150 Fußballhooligans aus dem Nachbarland Ungarn gewesen und die hätten ihre üblichen nationalistischen Provokationen abgespielt, räumt Pázmány ein, aber die Gewalt sei dann ganz eindeutig von der slowakischen Polizei ausgegangen.

    "Die Polizisten liefen vor dem Sektor herum, provozierten die Zuschauer, rannten dann ohne jede Vorwarnung in den Zuschauerraum und schlugen auf die Leute ein. Es befanden sich dort auch Eltern mit kleinen Kindern. Ein Kollege aus dem Rathaus war dort mit seinem Sohn, den man wirklich nicht als Fußballhooligan bezeichnen kann."

    Es gäbe auch ein Video, auf dem man sehen könne, wie die Polizei völlig grundlos mit der Schlägerei begonnen habe. Am Tag nach dem Spiel habe der Stadtrat von Dunászerdahely es auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit präsentiert, sagt Pázmány. Dagegen behauptet die Regierung in Bratislava, es gäbe ein Polizeivideo, auf dem gewalttätige ungarisch Hooligans zu sehen seien. Allerdings werden diese Aufnahmen bisher unter Verschluss gehalten.

    "Das ist doch seltsam, nicht wahr", sagt Pázmány, zieht die dunklen Augenbrauen hoch. Merkwürdig findet er auch den Anruf des stellvertretenden slowakischen Ministerpräsidenten. Kurz vor dem Spiel wollte der sich vom Bürgermeister einen Platz als Zuschauer reservieren lassen.

    "Dabei sind wir nicht so gute Freunde, dass man sich mitten in der Nacht anruft. Es muss also einen Grund gehabt haben, weshalb er unbedingt hier sein wollte. Und was Ungarn betrifft, denke ich, dass sie diese Situation zur Ablenkung von innenpolitischen Spannungen nutzen. Aber genau kann ich das nicht erklären."

    Die Fußballgewalt von Dunajska Streda bietet Raum für wilde Spekulationen. Und doch bleibt der Verdacht, dass beide Seiten, Budapest wie Bratislava, dazu beigetragen haben, die nationalistische Stimmung anzuheizen. Etwa zehn bis 15 Prozent Rechtsextremisten gebe es auf beiden Seiten, räumt Pázmány ein. Nur seien sie, anders als in Ungarn, in der Slowakei inzwischen mit an der Regierung. Und sorgten seitdem für Streit: Gelder aus Brüssel, die zur Förderung der ungarischen Minderheit bestimmt sind, würden von den Ministern anderweitig abgezweigt. In den ungarischsprachigen Schulbüchern sollen Ortsnamen nur noch in slowakisch genannt werden. Und der Anführer der slowakischen Nationalpartei, Jan Slota, spricht regelmäßig öffentliche Drohungen gegen die ungarische Minderheit aus.

    "Ich sehe im Programm von Slota nichts anderes, als dass er den Ungarn Angst machen will. Die Slowakei ist noch ein junger Staat, sodass es hier Nährboden für Nationalismus gibt. Das ist eine gefährliche Sache, da durch jede Aktion Reaktionen ausgelöst werden."

    So veranstalteten Rechtsextremen aus Ungarn bereits Aufmärsche in der Slowakei mit großungarischen Symbolen und sprachen dem Nachbarland das Existenzrecht ab. Aber auch einflussreiche Politiker in Ungarn, wie der Oppositionsführer Viktor Orbán, riefen Abgeordnete der ungarischen Minderheit in der Slowakei dazu auf, im Europarlament lieber gemeinsame Sache mit Budapest zu machen, anstatt mit Bratislava.

    Dabei hat Peter Pázmány ganz andere Sorgen. Ausgerechnet in Dunászerdahely - der südslowakischen Kreisstadt, die er als Bürgermeister zu einem "kulturellen Zentrum des Ungarntums" ausgebaut hat - gibt es innerhalb der ungarischen Minderheit nun politische Rangeleien, die Pázmány jetzt, nach 14 Jahren, das Bürgermeisteramt gekostet haben. Das sei kein gutes Zeichen für die Zukunft, findet er.

    "Wir - die ungarische Minderheit - müssen zusammenhalten und unsere Interessen, sowohl die wirtschaftlichen als auch unsere Interessen als Minderheit, gemeinsam vertreten. Sollte dies nicht gelingen, wird es hier Probleme geben."

    Pázmány schaut auf seine schwere Armbanduhr. Er möchte jetzt los, zum Wochenendausflug auf seine Datscha. Sie steht am Balaton - im Nachbarland Ungarn.


    Viele Ungarn aus Siebenbürgen hat es nach Budapest gezogen. Zsolt Koppány Nagy, geboren 1978, lebt ebenfalls dort. Wie das war, als rumänischer Ungar auf dem Weg ins "Mutterland" schildert er in seiner Geschichte "Gastarbeiterlieder":

    "Der Chauffeur verteilt die 65 Tausend Forint, die unbedingte Voraussetzung für den Grenzübertritt sind. Die Leute lächeln stolz, weil sie den Zöllner heute wieder bescheißen. Wir sind fünfzig: zwei haben eine legale Arbeitserlaubnis. Aber langsam rutscht das Herz in die Hose, der Szekler schlottert: "Nur grad mich soller nich rauspicken, nich, nich ausholen..." Wir erklären in schlechtem Rumänisch, dass wir nur auf Besuch fahren. Ja, da die Freunde, prietenii, da. Sie haben uns eingeladen. Nur eine Woche, o sötömünö, a week... Währenddessen verbergen sie ihre knotigen, noch mörteligen Hände. Oder das Englischwörterbuch.

    Sie spucken auf uns.

    Sie spucken in Bors und sie spucken in Ártánd und in Biharkeresztes und Nádlác und Nagylak, an allen Grenzstationen spucken sie. Prollszekler. Das ist unser Name, weltweit. So, zusammengeschrieben. Und wir können es nicht einmal widerlegen. Deshalb sagen wir es dann auch über uns selbst. Aber wir dürfen das. (Nur wir dürfen das.)

    Wir sind glücklich, dass sie uns durchgelassen haben. Dem ungarischen Zöllner lecken wir die Hände. Auf seine großmäuligen Witze hin locken wir joviales Gelächter aus uns hervor und nicken einander zu: "Ja, das ist Humor, Bruder! Sehr gut!" Aber das ist Sand, und in der Seele knirscht er weiter.

    Erneutes Pinkeln, diesmal schon auf dem heiligen ungarischen Boden. Wir zahlen in Forint, die Stimme kommt zurück, die Lieder erklingen wieder. Ausgelassene Stimmung, wie schön ist dieses Ungarn, verdammt noch mal!

    Der Regen strömt, als wir am Busbahnhof Népliget ankommen. Wir sind in Pest! Ich steige aus, fische das vierzig Kilo schwere Gepäck heraus. Nach den ersten zwei Schritten brechen die Sohlen meiner Schuhe entzwei. Alle beide. Meine Socken saugen gierig das heilige ungarische Regenwasser auf.

    Ich bin angekommen. Verdammte Scheiße."

    Transkarpatien: Jahrhundertelang gehörte die Region zu Ungarn, dann, nach dem Ersten Weltkrieg, zur Tschechoslowakei, während des Zweiten Weltkrieges wieder zu Ungarn, anschließend zur Sowjetunion, heute ist Transkarpatien ein schmaler Landstrich in der Ukraine; vom Westen aus betrachtet jenseits der Außengrenzen der Europäischen Union.

    Noch immer spricht ein Viertel der Menschen hier ungarisch, in vielen der ukrainischen Dörfer sind die Ungarn in der Mehrheit.


    Eine ostungarische Stadt - vor dem Bahnhof stehen viele, zumeist alte Autos mit ukrainischen Kennzeichen: Sammeltaxis. Sie warten darauf, Reisende nach Transkarpatien zu bringen, ungarische Grenzgänger mit Reiseziel Ukraine. Eine von ihnen ist Andrea Bagi, 38 Jahre, aufgewachsen in einer kleinen Stadt, die einen ungarischen und ukrainischen Namen trägt. Heute lebt Andi, wie sie alle nennen, in Budapest, in Ungarn. Aber sooft sie kann, fährt sie zurück ihre alte Heimat, um dort die Familie zu besuchen.

    Zuhause in Transkarpatien - Grenzgänger zwischen der Ukraine und Ungarn
    Mit atemberaubendem Tempo und waghalsigen Überholmanövern geht es über die stark befahrene "41" Richtung Osten. 1500 Forint, umgerechnet etwa fünf Euro, kostet der Höllentrip im altersschwachen VW-Passat. "Der Fahrer ist ok", sagt Andi. Schon oft ist die 38-jährige Budapesterin mit ihm gefahren; ins ukrainische Berehove, zu ihrer Familie.

    Die Fahrgäste unterhalten sich auf ungarisch. Alle drei sind akademische Grenzgänger: Andi arbeitet im ungarischen Bildungsministerium. Die junge Frau, die sich neben ihr auf der durchgesessenen Rückbank drängt, studiert Agrarwissenschaft in Ungarn. Und der ältere Herr, vorne auf dem Beifahrersitz, ist ein Biologieprofessor aus Budapest. Er sei auf dem Weg zu einer Gastvorlesung, sagt er, an der ungarischen Hochschule von Berehove.

    Auf der Hochschule werden Lehrer für die ungarischsprachigen Schulen ausgebildet, erläutert der Professor. Und er empfinde es als seine Mission, dabei zu helfen. Ja, eigene Schulen für die ungarische Minderheit gibt es reichlich in Transkarpatien, bestätigt die Studentin, die - ebenso wie Andi - aus der ukrainischen Grenzstadt stammt und zum Studieren nach Ungarn gehen musste.

    Sie habe die ukrainische Sprachprüfung nicht bestanden, die neuerdings alle vor dem Studienbeginn an einer ukrainischen Universität absolvieren müssen. Andi nickt. Als sie in den 90er-Jahren im transkarpatischen Uschgorod studiert hat, wurde dort noch auf Russisch gelehrt. Fast keiner in Transkarpatien konnte damals Ukrainisch. Bei uns gab es schon Ukrainisch auf der Schule, entgegnet die 15 Jahre jüngere Studentin, nur: Unsere Lehrer waren keine Muttersprachler, sie konnten das Ukrainische selber noch nicht richtig.

    Vorkontrolle an der ukrainischen Grenze: Der Fahrer streckt die ausgefüllten Einreiseformulare aus dem Wagenfenster. Woher er bereits die Formulare habe, die gäbe es doch schließlich hier bei ihr, fährt ihn die Grenzschutzbeamtin auf ukrainisch an. Die junge Frau in einem grünbraun gefleckten Kampfanzug wedelt wütend mit ihren Zetteln. Der Fahrer stottert eine Entschuldigung - auch er spricht nur schlecht ukrainisch.

    In der Warteschlange stehen viele Wagen mit ungarischen Kennzeichen. Auf einer großen, alten Mercedeslimousine prangt ein rot-weiß-grüner Aufkleber: das Großungarische Königreich. Was in der Slowakei und Rumänien für Ärger sorgen würde, scheint hier im ukrainischen Transkarpatien niemanden zu stören.

    Andi, die Studentin, der Professor - alle setzen jetzt ihre Handybotschaft ab: "Stehen schon an der Grenze, sind gleich da!" Andi telefoniert mit ihrer Familie im "Pannon"-Netz. Der ungarischen Mobilfunkbetreiber hat das ukrainische Transkarpatien funktechnisch "eingemeindet".
    Endlich da! Mutter und Vater Bagi haben schon vor ihrem Haus auf Andi gewartet. Auch Dori, Andis vierjährige Nichte, freut sich. Sie weiß, ihre Tante bringt immer etwas Schönes mit aus Ungarn. "Kommt erst mal was essen", sagt Mutter Bagi und bittet in die Küche. Dort gibt es Fleischsuppe und gefüllten Kohl - ungarische Traditionsgerichte. Ganz einfach war die Entscheidung damals nicht, die Familie zu verlassen und nach Ungarn auszuwandern, erinnert sich Andi.

    "Ich hatte schon alles gepackt und dann kamen mir plötzlich Zweifel! Soll ich nicht doch lieber hierbleiben. Aber meine Mutter sagte: Jetzt hast du einen Pass und ein Visum, jetzt musst Du auch gehen. Außerdem sind fast alle aus meiner Abschlussklasse nach Ungarn ausgewandert.""

    Gut 15 Jahre ist das jetzt her. Inzwischen hat Andi die ungarische Staatsangehörigkeit angenommen und einen halbwegs sicheren Arbeitsplatz im Kultur- und Bildungsministerium. Umgerechnet 500 Euro pro Monat verdient sie dort; fünfmal mehr, als sie hier, in der Ukraine, bekommen würde. Aber Andis Traum von einer eigenen Familie hat sich nicht erfüllt im stressigen Budapest. Auch deshalb besucht sie hier auch gerne ihren jüngeren Bruder Istvan, der zusammen mit seiner Frau Aniko und Klein Dori noch bei den Eltern wohnt. Istvan hat sich noch nicht entschieden, ob er mit seiner Familie ebenfalls nach Ungarn gehen soll.

    "Wir leben hier. Wir haben uns daran gewöhnt, hier irgendwie klarzukommen. Und außerdem ist es in Ungarn jetzt auch schwierig. Viele Arbeitsplätze werden gestrichen. Deswegen weiß ich nicht, ob es wirklich besser wäre, dort zu leben. Außerdem haben wir hier unsere Freunde, unseren Bekanntenkreis. Und dort wäre es bestimmt schwierig. Wir wissen es noch nicht, aber wir denken noch darüber nach."

    Zurzeit arbeitet der 32-Jährige an einer Asphaltmaschine im Straßenbau. Aniko, seine Frau, schafft bei einem Maschinenbauzulieferer. Der ist vor einigen Jahren aus dem EU-Land Ungarn in die Ukraine umgesiedelt, weil die Löhne hier noch geringer sind. Gerade mal 2000 Grivna verdienen Aniko und Istvan zusammen - umgerechnet 200 Euro. Zum Glück können sie billig im Haus der Eltern wohnen. Hier gibt es auch noch ein paar eigene Hühner und den großen Garten, in dem sie ihr eigenes Gemüse anbauen können und in dem Klein Dori so schön spielen kann. Nicht mehr lange, dann müssen ihre Eltern entscheiden, auf welche Schule ihre Tochter gehen soll - auf die ungarische oder auf die ukrainische.

    "Wenn wir sie von Anfang an in eine ukrainische Schule schicken würden, dann wäre es vielleicht besser für sie."

    Istvan sieht das anders:

    "Ich glaube nicht, dass wir sie auf eine ukrainische Schule schicken."

    Ukrainisch könne man doch jetzt auch auf der ungarischen Schule lernen, findet Istvan. Mag sein, sagt Aniko, aber es geht doch auch um die Fachbegriffe in den anderen Fächern. Und die kann man besser dort lernen, wo der gesamte Unterricht auf ukrainisch ist. Wenn Dori später mal studieren will, dann soll sie nicht nach Ungarn auswandern müssen, sagt Aniko und schaut zu ihrer Schwägerin herüber.

    Andi zündet sich eine Zigarette an und lächelt etwas verlegen. Auch sie weiß: Es ist nicht einfach, die richtige Entscheidung für die Zukunft zu treffen als Ungar in Transkarpatien. "Es gehört weder wirklich zur Ukraine noch zu Ungarn", findet sie. "Wir sind eben beides", sagt Istvan, "Karpatier und Ungarn".


    Joszef Attila, einer der großen ungarischen Dichter der Moderne; jung gestorben, 1937. Er beging Selbstmord am Plattensee. Auch Attilas Lyrik kreist um die Vielschichtigkeit der ungarischen Kultur und Geschichte:

    "Die Welt bin ich - alles Gewesene ist gegenwärtig:
    Die vielen Generationen, die aufeinanderprallen.
    Ich bin unter den Landeroberern, den längst toten,
    Doch genauso quält mich das Leid der Besiegten.
    Sieger und Verlierer, Tyrann und Rebell -
    Türken, Tataren, Slowaken und Rumänen, sie
    sind eingemengt in dieses Herz, das seiner Geschichte
    Eine friedliche Zukunft schuldet - ihr Ungarn heute!

    Ich will arbeiten. Es ist Kampf genug
    der eigenen Herkunft offen sich zu stellen.
    Geschichte, Gegenwart und Zukunft wie in einem Zug,
    Das alles faßt die Donau, ihre Weichen Wellen.
    Den Kampf, den unsere Ahnen blutig schlugen,
    Erinnerung löst ihn, Friede kommt in Sicht,
    So findet unser schweres Werk endlich die Fugen,
    Das ist zu tun; und leicht, leicht wird es nicht."

    Im slowakische Donaustädtchen Dunajská Streda hat die Moderne Einzug gehalten: frisch renovierte Fassaden, gut isoliert, energieeffizient. Die Plattenbautristesse ist Geschichte. Im ersten Stock von Haus Nummer sechs wohnt eine Slowakin mit ihrer Familie - hier in der südlichen Slowakei gehören die Slowaken zur Minderheit, die Ungarn stellen die Mehrheit:

    Unter Ungarn - Slowaken als Minderheit in der Südslowakei
    Katarina Poszmikova kommt zurück vom Einkauf. Sie trägt Bluejeans, einen weißen Pulli und in jeder Hand eine prallgefüllte Plastiktüte von Lidl. Im ersten Stock angekommen, setzt sie die Tüten ab, streicht sich eine rotblonde Haarsträhne hinters Ohr und öffnet die Wohnungstür.

    Eine flauschige Katze kommt ihr entgegen, schmiegt sich schnurrend an ihre Beine. Sonst ist noch keiner zu Hause, um vier Uhr nachmittags. In ihrer Drei-Zimmer-Wohnung lebt die 45-Jährige zusammen mit ihren beiden Töchtern und ihrem Freund. "Die älteste studiert Betriebswirtschaft in Prag und ist jetzt nur noch selten zu Hause", sagt Katarina und bittet in die kleine Küche. "Wir sind eine richtige slowakische Familie" - mit einem fröhlichen Lächeln stellt sie Gläser auf den Tisch, gießt kühles Mineralwasser ein. Katarina spricht akzentfrei ungarisch. Dabei ist ihre Muttersprache nicht Ungarisch, sondern Slowakisch. Obwohl die Landessprache hier in der südlichen Slowakei nur selten zu hören ist, denn hier stellt die ungarische Minderheit die Mehrheit.

    "Sehr viele haben große Schwierigkeiten, slowakisch zu sprechen und vermeiden es lieber. Denn sie können es nicht und es ist ihnen peinlich. Und wenn sie wissen, dass jemand gut ungarisch kann, wollen sie es auch gar nicht. Sie fühlen sich nicht wohl dabei."

    Eigentlich haben die Ungarn hier auch keinen wirklichen Grund, sich viel mit der slowakischen Sprache zu beschäftigen, sagt Katarina und lächelt. Schließlich gibt es ungarische Schulen, eine ungarische Universität, auch sind ungarische Radio- und Fernsehsender gut zu empfangen und sogar im Kino laufen ungarische Filme. Nicht nur in den Geschäften auch auf den Ämtern der Stadt spricht jeder ungarisch. Und selbst die staatlichen Ordnungshütern tun es, bei Bedarf.
    "Der Polizist ist verpflichtet, mich auf slowakisch anzusprechen. Wenn ich auf ungarisch antworte, darf er ruhig auf ungarisch mit mir sprechen. Das hängt davon ab, welche Sprache er spricht. Es gab hier gerade so einen Fall. Bei uns wurde eingebrochen und wir waren bei der polizeilichen Vernehmung, wo der Polizist uns fragte, in welcher Sprache wir aussagen möchten. Ich sagte, ich würde die amtliche Sprache und die Fachausdrücke besser auf slowakisch kennen und er solle das Protokoll in slowakischer Sprache aufnehmen."

    90 Prozent der Einwohner von Dunajská Streda sprechen nicht nur ungarisch, sondern fühlen sich auch als Ungarn. "Aber für mich ist das kein Problem", sagt die Slowakin Katarina. Natürlich gibt es in Dunajská Streda auch slowakische Kultureinrichtungen: "Ein slowakisches Gemeinschaftshaus, einen slowakischen Chor und vieles mehr", zählt sie auf und streichelt dabei ihre Katze. "Wir Slowaken leben in dieser Region doch schon seit vielen Jahrhunderten in friedlicher Nachbarschaft mit den Ungarn zusammen."

    "Ich habe viele Freunde, Freundinnen. Manche sind ungarischer Nationalität, andere slowakischer. Wir treffen uns zusammen, wir sprechen slowakisch, dann ungarisch, dann wieder slowakisch, dann ungarisch. Wir vermischen die Sprachen. Niemand hat ein Problem."

    Und Katarina Poszmikova will sich auch keine Probleme einreden lassen, von den Politikern in Bratislava, wie zum Beispiel dem bekennenden Ungarnfeind, Jan Slota von der slowakischen Nationalpartei. Als Mitglied der Regierung schürt er in vielen seiner Reden regelrechten Hass zwischen den Bevölkerungsgruppen.

    "Auch uns, den Slowaken, die hier leben, gefällt es nicht, wie Jan Slota redet. Wir sagen immer: Wie kann er über etwas reden, wovon er keine Ahnung hat; er, der weit entfernt ist und nicht hier lebt. Die normalen Leute hier leben friedlich mit den Ungarn zusammen - wenn er es nicht kann, soll er dableiben, wo er ist."

    Und das gilt auch für die Politiker in Ungarn, die versuchen, die ungarische Minderheit in der Slowakei für sich zu vereinnahmen, findet Katarina. Diese ganzen Diskussionen um die nationale Zugehörigkeit - mit dem wirklichen Leben haben sie doch gar nicht viel zu tun. In ihrem Freundeskreis, zum Beispiel, gibt es viele slowakisch-ungarische Ehen.

    "Welche Nationalität haben die Kinder dann, wenn sie beide Sprachen gleich gut sprechen und damit leben? Es macht keinen Unterschied, ob man Ungar oder Slowake ist. Wir sind alles Menschen!"

    Katarina Poszmikova stellt die leeren Trinkgläser in die Spüle. Sie muss gleich los zur Arbeit, in eine Cafébar im Stadtzentrum, wo sie Geschäfte leitet. Jetzt im Sommer kommen immer viele Urlauber, denn das ungarisch-slowakische Städtchen an der Donau hat sich zu einem beliebten Urlaubsort gemausert - vor allem bei Tschechen und Österreichern.

    Transsylvanien - heute der westliche Teil Rumäniens. Über die Jahrhunderte hinweg wechselte hier die Herrschaft. Gleichzeitig wird Transsylvanien gerne als Wiege der ungarischen Kultur gefeiert. Bis heute leben hier mehrheitlich Ungarn. Und es leben alte Traditionen fort. Hier, in 2000 Metern Höhe, haben sich Jahrhunderte alte Traditionen erhalten. Die vermeintliche Rückständigkeit dieser Region zieht eine wachsende Zahl von Urlaubern an; Urlauber auf der Suche nach ursprünglicher Landwirtschaft, Natur und auf der Suche nach ungarischen Wurzeln:

    Zukunft mit Vergangenheit - Siebenbürger Ungarn setzen auf dörflichen Nostalgietourismus
    Es ist 19 Uhr: Die Kühe von Kalotaszentkiraly haben Feierabend. Im lockeren Schlottergang kommen sie zurück von der Bergweide ins Dorf. Ein paar Kinder und alte Frauen in Kopftuch und Kittel begleiten sie. Aber eigentlich ist das gar nicht nötig, denn die Tiere, wissen wo sie hin müssen, jede Kuh kennt ihren Stall. Klug sind die Büffel, wie die uralte Rinderrasse mit langen Hörnern und dunkelbraunen Fell hier heißt. Einer der Büffel biegt nach links ab, in das offene Hoftor.
    "Komm, Frau Lombo!" - Höflich bittet der Bauer die Kuhdame herein. Er steht an der Stalltür und hat die rechte Hand wie zum Gruß an seine lederne Schirmmütze gelegt. Dann führt er Lombo in den dunklen Stall. Dort wartet ein braunes Kälbchen im Stroh und dahinter, in einer hölzernen Box, schnaubt ein kleines, kräftiges Pferd. Der Bauer bindet Lombo fest, holt seinen hölzernen Melkschemel und einen roten Plastikeimer. Dann wischt er sich die kräftigen Hände an seinem grauen Kittel ab und beginnt seine Arbeit.

    Behutsam zieht der alte Mann an den rosa Zitzen. Lombos Euter ist nicht besonders groß. Vielleicht zweieinhalb Liter spritzen in den Melkeimer, dann ist es genug. "Das andere ist für das Kälbchen", sagt der Bauer. Istvan György ist 72 Jahre alt und seine Frau Anna 70. Das Haus, in dem die beiden wohnen, ist schon beinahe 100 Jahre alt: ein lehmverputzter Holzbau mit kunstvoll geschnitztem Dachgiebel - wie sie typisch sind für die winzigen Siebenbürger Bauernhöfe. Die alte Bäuerin lugt fröhlich unter ihrem schwarzen Kopftuch hervor und bittet in das Haus.

    Die gute Stube ist ein Schmuckstück: alte, verzierte Holzmöbel, ein großer Kachelofen, handbestickte Tischdecken und Kissen - und an allen vier weiß gekalkten Wänden hängen bunt bemalte Teller und Trinkbecher. "Das lieben unsere Gäste sehr", sagt Anna György. Ihre Kinderzimmer vermietet die Bäuerin jetzt an Urlauber.

    Wo die herkommen? - "Aus Ungarn" - jedenfalls die meisten. Es waren auch schon Schweizer hier und sogar Gäste aus Finnland. Die Gäste bringen Anna und Istvan ein zusätzliches Einkommen zur äußerst kargen Rente - und nicht nur ihnen. Viele Leute im Dorf vermieten inzwischen Zimmer an Urlauber. Angefangen hat das alles vor über zehn Jahren.

    "Es kam ein junger Mann aus Koloszvár, der aus diesem Dorf stammt und sagte, er wolle hier einen Dorftourismus aufbauen. Er fragte überall nach, aber niemand hatte Interesse. Dann sagte ihm jemand, er solle es bei uns versuchen, denn mein Sohn sei Kulturdirektor und Bibliothekar, vielleicht hat er dort Glück. Als der junge Mann kam, sagten wir ihm: Hier ist er an der richtigen Stelle - wir unterstützten sein Vorhaben."

    Der junge Mann von damals heißt Istvan Vincze und wohnt heute am anderen Ende des Dorfes. Sein neu renovierter Hof steht gegenüber der Reformationskirche. Gerade hält ein großer Reisebus davor.

    Der Bus kommt aus Ungarn, die Reisegruppe aus der Slowakei. Aus dem Teil, der früher zu Ungarn gehörte. Es sind Lehrerinnen und Lehrer. Mit gezückten Digitalkameras marschieren sie auf die Scheune zu. Dort, im geöffneten Tor, warten bereits zwei Kellnerinnen in rot-weißer Tracht und zwei Musiker.

    Die ehemalige Scheune ist jetzt ein großer Saal. Wildschweinfelle hängen an der Wand und alte Ochsengeschirre. Die Tische sind schon eingedeckt, die Gäste nehmen Platz. Dann tritt ein großer glatzköpfiger Mann mit umgehängter Brille nach vorne: Istvan Vincze, der Gastgeber und Erfinder des Dorftourismus in Kalotaszentkiraly, begrüßt seine Gäste:

    "Ich begrüße die Gäste aus dem Hochland hier bei uns in Siebenbürgen", sagt Istvan Vincze, reibt sich die Hände und lächelt professionell. "Es ist nicht nur wichtig, dass wir hier zum heutigen Ungarn engen Kontakt halten, sondern auch, dass die Ungarn außerhalb der Landesgrenzen einander kennenlernen." Das Abendessen ist bereitet, sagt der Gastgeber und breitet jetzt die Arme aus: "Fühlen sie sich wohl! Als Appetitanreger gibt es einen Pflaumen- oder Blaubeerschnaps."

    Die Trachtenmädchen tischen nun eine Siebenbürger Fleischsuppe auf. Als Hauptspeise gibt es gefüllten Kohl - ein ungarisches Nationalgericht; danach eine Pause bis zu Dessert. Wer will, kann jetzt nebenan im ehemaligen Kuhstall einkaufen: Alte Trachtenhemden, traditioneller Schmuck und bestickte Tischdecken liegen dort auf Tischen bereit, neben Wanderführern und Volksmusik-CDs der Region. Es gibt auch Palinka - den ungarischen Obstschnaps - natürlich im Dorf hergestellt, ebenso wie die hausgemachte Marmelade. Die Pädagogen aus der Slowakei greifen zu. Auch sie fühlen sich als Ungarn.

    "Unser Ungarngefühl ist noch sehr stark. Viel intensiver sogar als bei vielen Ungarn in Ungarn selbst", sagt die 35-jährige Lehrerin aus Kaschau. "Und deshalb gefällt es uns hier in Siebenbürgen", bestätigt ihre Kollegin. Denn hier werden die alten Traditionen bewahrt, viel mehr, als in der Slowakei.

    Istvan Vincze schaut kurz hinein, in den Kuhstallshop, guckt wie die Geschäfte laufen. "Die meisten unserer Gäste sind ungarischer Abstammung", bestätigt er. Als der ehemalige Ingenieur nach der Wende arbeitslos war, sah er im Fernsehen einen Bericht über Dorftourismus in Deutschland und Österreich. Das könnte hier auch funktionieren, dachte er sich - und er hatte recht. 12.000 Gäste kamen im letzten Jahr nach Kalotaszentkiraly.

    "Ja, natürlich gibt es auch eine gewisse Nostalgie im Hinblick auf das ehemalige Ungarn. Und da man zur Zeit des Sozialismus nur sehr schwer hier nach Rumänien kommen konnte, versuchen die, die sich auch nur ein bisschen für das Ungarntum interessieren, das hier nachzuholen."
    Anders, als an vielen Touristenorten in Ungarn, sind hier die Traditionen noch lebendig, sagt der 45-jährige Dorftourismusmanager. Das gilt für die Landwirtschaft, für die Trachten und auch für Musik und Tänze. Die Frage ist nur, wie lange das noch so bleibt. Auch in Kalotaszentkiraly macht die Globalisierung nicht halt, auch hier surft die Jugend inzwischen lieber durch das Internet, als Kühe mit der Hand zu melken.

    "Leider geht es in dieselbe Richtung wie in Ungarn. Kalotaszentkiraly Tierbestand geht zurück. Vor vier Jahren gab es noch 300 Büffel im Dorf, jetzt sind es vielleicht noch 30."

    Andererseits hat der Dorftourismus die Abwanderung der jungen Leute vorerst gestoppt. Denn nun kann man hier sogar mehr Geld verdienen, als in der Stadt. Und auch wenn die alten Bauern und ihre Büffel allmählich aussterben - vielleicht überlebt die Tradition der Volkstänze. Sie sind der Höhepunkt im Dorftourismus von Kalotaszentkiraly.

    "Das Königreich im Herzen - Ungarisches Lebens jenseits der Landesgrenzen" - das waren "Gesichter Europas" - mit Reportagen von Jan-Uwe Stahr. Die Literatur entstammt der Zeitschrift für ungarische Kultur, "Drei Raben", Ausgabe März 2005. Die Musik hat Mathias Mauersberger ausgesucht. Durch die Sendung begleitete Sie - mit dem Dank für Ihr Interesse - Ursula Welter.

    Literatur:

    "Ungarische Inseln" in der Reihe "Drei Raben"
    Zeitschrift für ungarische Kultur, März 2005, 5. Jahrgang

    Marta Jozsa "Die Ungarn um eins"
    in: Drei Raben, Zeitschrift für ungarische Kultur, März 2005
    Übersetzung Wilhelm Droste

    Koppany Zsolt Nagy "Gastarbeiterlieder"
    in: Drei Raben, Zeitschrift für ungarische Kultur, März 2005
    Übersetzung Zsuzsanna Nagy und Benjamin Langer

    Jozsef Attila "An der Donau"
    in: Drei Raben, - Zeitschrift für ungarische Kultur, März 2005
    Übersetzung Wilhelm Droste