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Das komplette Internet-Archiv auf CD-ROM

Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka Digitale Bibliothek auf CD-ROM Directmedia Publishing Gmbh, Berlin 1997 Preis: ca. 99 Mark

Reinhard Kaiser |
    Gutenberg-DE. Das komplette Internet-Archiv auf CD-ROM abc.de Hille & Partner Internet-Dienste, Hamburg 1996 Preis: ca. 39,80 Mark

    Auf einer Compact-Disc lassen sich etwa 650 Megabyte digitalisierter Daten von dieser oder jener Art unterbringen. Das können sein: 30 Sekunden Videoaufnahmen in guter Qualität, 70 Minuten Musikaufnahmen in bester oder Videoaufnahmen in miserabler Qualität, dreitausend unbewegte, aber dafür ansehnliche Bilder oder ... 330 000 Buchseiten! Setzt man das durchschnittliche Buch mit 250 Druckseiten an, so ergibt sich eine Zahl von 1350 solcher Bücher, die auf einer einzigen Silberscheibe Platz finden könnten. Bei einer Rückenstärke von 2 Zentimetern würden sie etwa 27 laufende Regalmeter füllen.

    So kann man denn den Inhalt einer übermannshohen Bücherwand von vier Metern Länge bequem in eine Hosentasche stecken - den Computer allerdings schon nicht mehr, der ebenfalls notwendig ist, um die Texte der Dichter aus den mikroskopisch kleinen "Pits" und "Lands", den Vertiefungen und nicht vertieften Stellen auf der prismatischen Scheibe, zu erlösen. Der Leser, der sich seine Lektüre von der CD holt, ist an eine Übertragungsmaschine gebunden, und er ist auch dann, wenn er über einen tragbaren Kleincomputer verfügt, weniger mobil als derjenige, der sein gedrucktes Buch mitnimmt, wohin es ihn zieht. Zudem ist das Lesen langer Texte am Bildschirm erfahrungsgemäß weniger angenehm als das Lesen von papierenen, bedruckten Buchseiten. Aber zum Lesen sind Literatursammlungen auf CD auch nicht in erster Linie gedacht - sondern zum Suchen und Nachschlagen und Finden. Eine CD läßt sich in ihrem kompletten Textbestand binnen weniger Sekunden durchsuchen - nach Wörtern, Begriffen, Zitaten, Motiven, Themen. Solche Nachforschungen, die in der Welt der gedruckten Bücher oft mit viel vergeblichem oder zumindest mühseligem Blättern und Wälzerwälzen verbunden sind, lassen sich in einem elektronischen Textarchiv mit sehr viel weniger Mühen ausführen - mühelos jedoch auch hier nicht, denn wer sich nicht sorgfältig überlegt, welche Suchwort-Haken er an seine Angel knotet, an dessen Fangschnur wird am Ende auch nichts Brauchbares hängenbleiben.

    Wer allerdings seine Angel in der Textsammlung des "Projekts Gutenberg-DE" auswirft, der kann noch soviel Raffinesse auf den Entwurf seiner Suchstrategie wenden - er wird nie und nimmer fündig werden. Diese CD sperrt sich ausgerechnet gegen das, wozu sie, technisch betrachtet, am besten taugen könnte. Weder die gesamte Scheibe noch die einzelnen auf ihr gespeicherten Texte lassen sich durchsuchen. Alle Werke, die im Druck mehr als fünfzehn Seiten einnehmen würden, haben die Archivverwalter in Happen von sieben bis zehn Seiten zerstückelt, die man sich jeweils gesondert an den Bildschirm holen muß - den "Simplizissimus" von Grimmelshausen in 176 Fortsetzungen.

    Aber auch derjenige, der am Bildschirm tatsächlich nur lesen will, wird in diesem elektronischen Archiv nicht recht glücklich. Nach einem brauchbaren Inhaltsverzeichnis sucht er vergebens. Zwar gibt es mehrere Listen, die unter heterogenen Stichworten wie "Klassiker", "Gedichte", "Märchen", "Alle Titel" den Anschein von Gesamt- oder Teilverzeichnissen erwecken: aber keine einzige dieser Listen ist in bezug auf das, was sie zu enthalten vorgibt, wirklich komplett.

    Im Internet ist das "Archiv Gutenberg-DE" ein wichtiger Platz. Es fungiert dort (nach dem Vorbild eines gleichnamigen amerikanischen Projekts) seit vielen Jahren als Sammelstelle für klassische oder jedenfalls nicht mehr mit Urheberrechten belegte Texte von deutschsprachigen Autoren. Mit großem Einsatz an Engagement, Zeit und nicht zuletzt auch Geld (nämlich für die Bereitstellung des Archivs im Netz) erarbeiten die Initiatoren diese Texte teils selbst, teils verarbeiten sie das, was ihnen von anderen elektronisch engagierten Literaturfreunden aus dem Netz zur Aufnahme ins Archiv übermittelt wird. Die Quellen sind unterschiedlich, die editorische Qualität der Texte und die Art ihrer Präsentation ebenfalls. Nun gehört im Internet das Unfertige immer dazu, und vieles dort hat den Charakter einer Baustelle, an der die Arbeit auf absehbare Zeit nicht ausgehen wird. Die Herausgabe einer CD jedoch, die ihren Preis kostet, hätte Anlaß und Chance sein können, im Archiv einmal aufzuräumen, das Belanglose auszusondern, dieTexte übersichtlich zu ordnen und vor allem ihre Zerstückelung aufzuheben. Das alles ist leider nicht geschehen. Statt dessen wurde der gesamte Internet-Platz, so wie er im Jahre 1996 ausgesehen hat, einfach auf die CD gekippt - mit allem Datenschutt, der sich neben dem Wahren, Guten, Schönen an einer Netzbaustelle im Laufe der Zeit naturgemäß ebenfalls ansammelt: statt des im Verzeichnis verheißenen "Peer Gynt" nur jeweils sieben Zeilen aus zwei unterschiedlichen Ibsen-Übersetzungen, statt Hartmann von Aues "Iwein" nur dessen erste Seite. Und Büchner, Fontane, Fouqué, Goethe, Grimmelshausen, Keller, Stifter, Storm, Tieck, Wieland und die etwa fünfzig anderen "deutschen Klassiker" kommen nicht ohne die Leseproben aus den Werken "neuer Autoren", die ihren Verlag noch gar nicht gefunden haben und mit Titeln wie: "Suchen im Park. Roman über das Ringen um ein neues Weltverständnis" möglicherweise auch so leicht nicht finden werden.

    Ein besser durchdachtes, zudem sehr viel umfangreicheres und dennoch übersichtlicher gegliedertes Textarchiv hat die Firma Directmedia Publishing in Berlin herausgebracht: Die "Digitale Bibliothek: Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka" bietet einen reichhaltigen Querschnitt durch die literarischen Epochen zwischen 1750 und 1925 auf mehr als 100 000 Seiten. Über die Herkunft der Texte gibt eine Siglenliste Auskunft, in der immer wieder die Namen Hanser, Winkler, Insel, Aufbau und deren Klassikerausgaben aus den sechziger und siebziger Jahren auftauchen. Aus urheberrechtlichen Gründen dienten nicht die neuesten Editionen als Vorlage, sondern bewährte oder jedenfalls benenn- und zitierbare ältere Werkausgaben. Goethe wird nach der Hamburger Ausgabe wiedergegeben, Kafka nach der Ausgabe von Max Brod, Lenz nach der schönen Ausgabe, die vor Jahren bei Goverts erschien. Die Liste der durchweg vollständig wiedergegebenen Werke füllt zusammen mit den Porträts der insgesamt siebenundfünfzig Verfasser und Verfasserinnen ein großes Poster: mehr als siebenhundert Romane, Erzählungen, Dramen, Epen, Aufsätze, Abhandlungen, Reden, Reisebeschreibungen, Gedichtsammlungen, wobei einzelne Poeme und kleinere Geschichten nicht mitgezählt sind. Die Großen der deutschen Literaturgeschichte sind hier keineswegs nur mit ihren bekanntesten Werken vertreten, und die Mittelgroßen mit vielem, in dem auch belesene Leute vielleicht kaum je geblättert haben. Es dürfte wenige Leserinnen und Leser geben, die beim Durchsehen des Inhaltsverzeichnisses nicht an etlichen Stellen neugierig gemacht und am Ende doch noch zum Schmökern am Bildschirm verlockt werden. Trotzdem schreiben die Herausgeber: "Unsere digitale Bibliothek will gedruckte Bücher nicht ersetzen oder gar überflüssig machen, sondern die spezifischen, bislang kaum ausgeschöpften Möglichkeiten der elektronischen Erfassung und Verarbeitung von Texten nutzen, um die Welt der Bücher neu zu erschließen."

    Dieser Erschließungsarbeit dienen die verschiedenen "Werkzeuge", die der "Digitalen Bibliothek" beigegeben sind. Sie ermöglichen eine ausgezeichnete Orientierung innerhalb des Archivs und innerhalb jedes einzelnen der zum Teil sehr umfangreichen Texte. Auch lassen sich einzelne Stellen in verschiedenen Farben markieren und mit Notizen versehen. Man kann zwei verschiedene Werke gleichzeitig aufschlagen und vergleichen. Und man kann vor allem den gesamten Textbestand oder eingegrenzte Bereiche, etwa alle auf der CD enthaltenen Schriften eines Autors, mit einer ausgefeilten Suchfunktion nach Wörtern oder Wortkombinationen durchforschen - also auch nach Motiven, nach Themenkomplexen, nach Namen, nach der Bedeutung von Begriffen, die sich aus dem Kontext bisweilen plastischer erschließen läßt als aus der Definition in einem Wörterbuch - falls man eine findet. Was bitte ist eine "Lorenzodose"? Und wo geht es zum "brettervernagelten Ende der Welt"? Was haben die hier versammelten deutschen Schriftsteller über "Diderot" zu sagen? Wer jemals in der Literatur nach einem etwas entlegeneren, nicht durch die erreichbaren Lexika erschlossenen Motiv oder Begriff gesucht hat, erkennt bald, welche Möglichkeiten, eine solche elektronische Suche quer durch einen relevanten Bibliotheksbestand eröffnet. Ihre Ergebnisse können nicht erschöpfend sein, wohl aber ein solider Ausgangspunkt für weitere Nachforschungen. Die elektronische Suche macht andere Arten des Blätterns und Erschließens nicht überflüssig, sie wird auch unsere Belesenheit nicht ersetzen - wohl aber auf eine sehr nützliche Weise erweitern.