Von Edouard Glissant, dem hoch Gelobten und wenig Gelesenen, wie Lothar Baier einmal bemerkte, ist ein kleines Buch erschienen, das sich als Einführung in das Denken des aus Martinique stammenden Schriftstellers und Essayisten gut eignet. Es liegen ihm vier Vorträge aus der ersten Hälfte der 90er Jahre zugrunde, und auch wenn der Autor im Vorwort einschränkend anmerkt, der Text sei ihm vielleicht etwas zu theorielastig geraten,
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wo es doch angebracht wäre, das Vielfältige und die Verflechtungen der "All-Welt" in einem Fluss poetischer Betrachtungen, Beschreibungen von Landschaften und Lebenssituationen anzusprechen, die unser gemeinsames "In der Welt-Sein" besser wiedergeben,"
so ist das für den Leser durchaus gewinnbringend, hat er am Ende doch einen Eindruck von den begrifflichen Werkzeugen erhalten, die auch in Glissants genreüberschreitenden, hybriden literarischen Texten eine Rolle spielen. Es gibt bekannte Begriffe, die zum Teil umdefiniert werden; andere sind idiosynkratische Begriffe aus Glissants eigener Gedankenwelt. Angehängt ist zudem noch ein Glossar der Übersetzerin Beate Thill, die sich seit vielen Jahren um die Übertragung von Glissants Texten ins Deutsche verdient gemacht hat, in dem die Begriffe, an denen sich sein Denken entwickelt hat, noch einmal einzeln erläutert werden.
Kreolisierung ist dabei eines der zentralen Konzepte, das aus der spezifischen Realität der Antillen, ihrer Geschichte der Sklaverei und Plantagenwirtschaft heraus entwickelt wird. Weil die Kolonisatoren die aus Afrika verschleppten Sklaven ihrer Sprachen, ihrer Erinnerungen systematisch beraubt haben, ist kulturelle Identität in kreolischen Gesellschaften in einem kreativen Suchprozess entstanden, in dem Erinnerungsspuren aus dem kollektiven Gedächtnis gleichsam poetisch-imaginär bearbeitet wurden. Eine so entstandene Identität kann nur aus einem Wurzelgeflecht kommen und nicht aus EINER Wurzel gewachsen sein, wie das in europäischen Identitätsbildungsprozessen der Fall war, wo nationale Identitäten jeweils auf einer Wurzel aufsaßen, womit all diejenigen, die nicht auf dieselbe mythische Einheit des Ursprungs verweisen konnten, von der Teilhabe ausgeschlossen waren. Eine erste, für Glissant wesentliche Unterscheidung zwischen westlichen und kreolischen Denkmustern ist damit gemacht, und er kann zwischen alteingesessenen europäischen und komplexen kreolischen Kulturen unterscheiden.
Nun ist Kreolisierung bei Glissant ein Zusammenspiel von heterogenen, aber unbedingt als gleichrangig geltenden kulturellen Elementen, die dabei zwar verwandelt, aber nicht wie in einem Schmelztiegel aufgelöst werden. Modell stand dabei die kreolische Sprachentwicklung, also z.B. die Kombination bretonischen und normannischen Wortschatzes des 17. Jahrhunderts mit den syntaktischen Mustern afrikanischer Sprachen auf Martinique. Dieser in den antillischen Zusammenhang eingebettete Begriff der Kreolisierung wird von Glissant auf die Welt als ganze projiziert:
"Ich behaupte also, dass die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar."
Kreolisierung wird bei Glissant zur Utopie einer weltweiten kulturellen Durchdringung vielfältiger Elemente, die Kehrseite der Globalisierung gewissermaßen, die selber bloß eine verflachende Multikulti-Homogenisierung ist. Das archipelische Denken oder Denken der Spur, wie er das auch nennt, befördere Ambivalenzen, Brüche und das Imaginäre - im Gegensatz zum westlichen Systemdenken. Weil es in kreolischen Gesellschaften erarbeitet wurde und entsprechend komplexitätstauglich sei, werde es den inzwischen weltweit vorhandenen Komplexitäten am besten gerecht.
"Es scheint mir, als könnte nur eine Poetik der Beziehung, also etwas in der Vorstellung, im Imaginären Befindliches, diese Phasen und Verwicklungen verstehen helfen, in denen sich die Völker in der heutigen Welt befinden. "
Unter Poetik wird dabei nicht bloß eine Theorie des Literarischen, sondern viel weiter gefasst eine Form des Denkens und Handelns verstanden, die ganz wesentlich auf dem Imaginären aufbaut. Es geht Glissant darum, das Imaginäre als geistige Haltung zu verstehen, eine grundlegende Offenheit zu praktizieren, beispielsweise an einem bestimmten Ort zu sein, aber in Beziehung zu den anderen Kulturen zu leben. Oder auch in der Verwendung der Sprache: Vielsprachigkeit heißt dann nicht, mehrsprachig zu sein, sondern bedeutet, wie der Autor sagt, "die Gegenwart aller Sprachen der Welt in der Praxis der eigenen". Nun sitzt hier eine Tücke, denn Glissant spricht als Literaturtheoretiker, aber auch wie ein kritischer Globalisierungsdenker, und es bleibt oft unentschieden, was er theoretisiert, also ist sein Gegenstand die Literatur oder die Welt. Eine weitere Tücke entsteht, weil Glissant hier nicht zwischen den verschiedenen Lebensverhältnissen in der globalisierten Welt differenziert, den papierlosen und den mit Pass und Kreditkarten ausgestatteten Nomaden beispielsweise. Nur so kann er schreiben:
"Im gegenwärtigen Szenario der Welt stellt sich folgende Frage: Wie kann ich selber sein, ohne mich für den Anderen zu verschließen, und wie kann ich mich für den Anderen öffnen, ohne mich selbst zu verlieren? "
Nun steht unser Anderer ganz real gerade wieder einmal für alle sichtbar an den hochgerüsteten Grenzen der Festung Europa, und man überlegt allen Ernstes, ihn in Abfanglagern in Afrika auf seinem Weg aufzuhalten. Die Begrifflichkeiten haben sich merklich geändert. Der Andere wird mehr und mehr zum Überflüssigen. Und das zeigt auch, dass Denken in ökonomischen Kategorien das Denken in kulturellen Kategorien weit abgedrängt hat. Der Andere interessiert, wenn überhaupt, nur als Marktfaktor. Und ob für die Afrikaner, die ihr Leben riskieren, um dann unter prekärsten Bedingungen in Europa zu schuften, in diesem Stadium ihrer Odyssee Identitätsfragen von Relevanz sind, darf bezweifelt werden. Angesichts dieser Verhältnisse erscheint einem Glissants kreolisierendes Weltdenken heute sogar noch utopischer und weltabgewandter. Das sagt aber erst einmal mehr über den aktuellen Zustand der Welt als über Glissants Denkarbeit. Und mit Betrübnis nimmt man bei der Lektüre zur Kenntnis, in welche Ferne das Poetische heute gerückt ist.
Barbara Eisenmann war das über Kultur und Identität von Edouard Glissant, erschienen beim Verlag Das Wunderhorn und aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Es hat 86 Seiten und kostet 18.80 Euro.
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wo es doch angebracht wäre, das Vielfältige und die Verflechtungen der "All-Welt" in einem Fluss poetischer Betrachtungen, Beschreibungen von Landschaften und Lebenssituationen anzusprechen, die unser gemeinsames "In der Welt-Sein" besser wiedergeben,"
so ist das für den Leser durchaus gewinnbringend, hat er am Ende doch einen Eindruck von den begrifflichen Werkzeugen erhalten, die auch in Glissants genreüberschreitenden, hybriden literarischen Texten eine Rolle spielen. Es gibt bekannte Begriffe, die zum Teil umdefiniert werden; andere sind idiosynkratische Begriffe aus Glissants eigener Gedankenwelt. Angehängt ist zudem noch ein Glossar der Übersetzerin Beate Thill, die sich seit vielen Jahren um die Übertragung von Glissants Texten ins Deutsche verdient gemacht hat, in dem die Begriffe, an denen sich sein Denken entwickelt hat, noch einmal einzeln erläutert werden.
Kreolisierung ist dabei eines der zentralen Konzepte, das aus der spezifischen Realität der Antillen, ihrer Geschichte der Sklaverei und Plantagenwirtschaft heraus entwickelt wird. Weil die Kolonisatoren die aus Afrika verschleppten Sklaven ihrer Sprachen, ihrer Erinnerungen systematisch beraubt haben, ist kulturelle Identität in kreolischen Gesellschaften in einem kreativen Suchprozess entstanden, in dem Erinnerungsspuren aus dem kollektiven Gedächtnis gleichsam poetisch-imaginär bearbeitet wurden. Eine so entstandene Identität kann nur aus einem Wurzelgeflecht kommen und nicht aus EINER Wurzel gewachsen sein, wie das in europäischen Identitätsbildungsprozessen der Fall war, wo nationale Identitäten jeweils auf einer Wurzel aufsaßen, womit all diejenigen, die nicht auf dieselbe mythische Einheit des Ursprungs verweisen konnten, von der Teilhabe ausgeschlossen waren. Eine erste, für Glissant wesentliche Unterscheidung zwischen westlichen und kreolischen Denkmustern ist damit gemacht, und er kann zwischen alteingesessenen europäischen und komplexen kreolischen Kulturen unterscheiden.
Nun ist Kreolisierung bei Glissant ein Zusammenspiel von heterogenen, aber unbedingt als gleichrangig geltenden kulturellen Elementen, die dabei zwar verwandelt, aber nicht wie in einem Schmelztiegel aufgelöst werden. Modell stand dabei die kreolische Sprachentwicklung, also z.B. die Kombination bretonischen und normannischen Wortschatzes des 17. Jahrhunderts mit den syntaktischen Mustern afrikanischer Sprachen auf Martinique. Dieser in den antillischen Zusammenhang eingebettete Begriff der Kreolisierung wird von Glissant auf die Welt als ganze projiziert:
"Ich behaupte also, dass die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar."
Kreolisierung wird bei Glissant zur Utopie einer weltweiten kulturellen Durchdringung vielfältiger Elemente, die Kehrseite der Globalisierung gewissermaßen, die selber bloß eine verflachende Multikulti-Homogenisierung ist. Das archipelische Denken oder Denken der Spur, wie er das auch nennt, befördere Ambivalenzen, Brüche und das Imaginäre - im Gegensatz zum westlichen Systemdenken. Weil es in kreolischen Gesellschaften erarbeitet wurde und entsprechend komplexitätstauglich sei, werde es den inzwischen weltweit vorhandenen Komplexitäten am besten gerecht.
"Es scheint mir, als könnte nur eine Poetik der Beziehung, also etwas in der Vorstellung, im Imaginären Befindliches, diese Phasen und Verwicklungen verstehen helfen, in denen sich die Völker in der heutigen Welt befinden. "
Unter Poetik wird dabei nicht bloß eine Theorie des Literarischen, sondern viel weiter gefasst eine Form des Denkens und Handelns verstanden, die ganz wesentlich auf dem Imaginären aufbaut. Es geht Glissant darum, das Imaginäre als geistige Haltung zu verstehen, eine grundlegende Offenheit zu praktizieren, beispielsweise an einem bestimmten Ort zu sein, aber in Beziehung zu den anderen Kulturen zu leben. Oder auch in der Verwendung der Sprache: Vielsprachigkeit heißt dann nicht, mehrsprachig zu sein, sondern bedeutet, wie der Autor sagt, "die Gegenwart aller Sprachen der Welt in der Praxis der eigenen". Nun sitzt hier eine Tücke, denn Glissant spricht als Literaturtheoretiker, aber auch wie ein kritischer Globalisierungsdenker, und es bleibt oft unentschieden, was er theoretisiert, also ist sein Gegenstand die Literatur oder die Welt. Eine weitere Tücke entsteht, weil Glissant hier nicht zwischen den verschiedenen Lebensverhältnissen in der globalisierten Welt differenziert, den papierlosen und den mit Pass und Kreditkarten ausgestatteten Nomaden beispielsweise. Nur so kann er schreiben:
"Im gegenwärtigen Szenario der Welt stellt sich folgende Frage: Wie kann ich selber sein, ohne mich für den Anderen zu verschließen, und wie kann ich mich für den Anderen öffnen, ohne mich selbst zu verlieren? "
Nun steht unser Anderer ganz real gerade wieder einmal für alle sichtbar an den hochgerüsteten Grenzen der Festung Europa, und man überlegt allen Ernstes, ihn in Abfanglagern in Afrika auf seinem Weg aufzuhalten. Die Begrifflichkeiten haben sich merklich geändert. Der Andere wird mehr und mehr zum Überflüssigen. Und das zeigt auch, dass Denken in ökonomischen Kategorien das Denken in kulturellen Kategorien weit abgedrängt hat. Der Andere interessiert, wenn überhaupt, nur als Marktfaktor. Und ob für die Afrikaner, die ihr Leben riskieren, um dann unter prekärsten Bedingungen in Europa zu schuften, in diesem Stadium ihrer Odyssee Identitätsfragen von Relevanz sind, darf bezweifelt werden. Angesichts dieser Verhältnisse erscheint einem Glissants kreolisierendes Weltdenken heute sogar noch utopischer und weltabgewandter. Das sagt aber erst einmal mehr über den aktuellen Zustand der Welt als über Glissants Denkarbeit. Und mit Betrübnis nimmt man bei der Lektüre zur Kenntnis, in welche Ferne das Poetische heute gerückt ist.
Barbara Eisenmann war das über Kultur und Identität von Edouard Glissant, erschienen beim Verlag Das Wunderhorn und aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill. Es hat 86 Seiten und kostet 18.80 Euro.