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Das Land der Russen mit der Seele suchen

Es gibt kaum ein Volk, dessen Geschichte sich so gut als Tragödie erzählen lässt, wie das russische. Demütig-passive Gläubigkeit scheint Russland zum Leid zu prädestinieren. Verspätung ist ein Grundzug der russischen Geschichte. Mit Peter dem Großen begann vor 300 Jahren die Orientierung nach Westen, eine lange Phase, in der das Bewusstsein der Russen von der ungeklärten Position zwischen Europa und Asien bestimmt wurde. Und dann, in dem Moment, wo das russische Volk zu sich kommt, wo es die schon lange offenbar gewordene Rückständigkeit des Zarismus mit einem Schlag überwindet, wo es auf der Höhe der Zeit ankommt, ja ihr vorangeht, in der Revolution, zeigt sich, dass damit die Leiden erst beginnen. Nicht umsonst gibt es Motive in der russischen Kultur, vor allem den Messianismus, das Gefühl auserwählt zu sein, die sich am ehesten mit jüdischen Selbstbeschreibungen vergleichen lassen. In Russland findet das Leid des Volkes kein Ende. Hier gehen bis heute die U-Boote unter, hier bersten die Atomkraftwerke.

Von Peter Michalzik | 21.12.2003
    Der britische Historiker Orlando Figes, er unterrichtet am Birbeck College der Londoner Universität, hat 1996 die Geschichte der russischen Revolution als Tragödie erzählt, "Die Tragödie eines Volkes" hieß das Buch, es wurde enthusiastisch begrüßt. Figes hatte das Drama der Revolution nicht als Kampf von Ideen und Ideologien dargestellt, nicht als politische Veranstaltung, sondern er hatte aus der Summe dessen, was die Beteiligten damals selbst empfunden haben mögen, einen sozialen Körper modelliert, dessen Umgestaltung mit der Kraft einer Naturkatastrophe geschah. Das gewaltige Geschehen entfaltete sich durch brillant vorgetragene und verknüpfte Details: ein Kaleidoskop, das sich trotzdem zu einem Gesamtbild fügte. "Die Tragödie eines Volkes" schien sich von selbst zu erzählen.

    Figes neues Buch, "Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands", steigert die darstellerischen Schwierigkeiten ins Unermessliche. Es überschaut die letzten dreihundert Jahre russischer Kulturgeschichte, mit weiten Exkursen in die Zeit davor, es geht um die Gesamtheit der russischen Kultur, es geht aber auch um das "Russische", um das Empfinden selbst.

    "Nataschas Tanz" ist eine Mentalitätsgeschichte, die sich aus dem kulturellen Leben in seiner ganzen Breite entfalten und doch auf das Wesentliche konzentrieren soll. "Der Russe, oder wie er die Welt sah", könnte das Buch auch heißen. Das größte Wunder bei diesem Buch: Dass es fertig geworden ist und sich zu einer Einheit fügt. Wieder sucht Figes die Nähe zu den Akteuren, und man spürt, wie er damit ringt, einen übergeordneten Standpunkt zu behalten. Wer so Geschichte schreibt, dem droht sie sich in das aufzulösen, woher sie kommt: das Wirrwarr der Stimmen der Beteiligten. Wo aber könnte ein übergeordneter Standpunkt liegen?

    Eine Kultur besteht nicht nur aus Kunstwerken oder literarischen Diskursen, sondern auch aus ungeschriebenen Gesetzen, Zeichen und Symbolen, Ritualen und Gesten sowie einer gemeinsamen Haltung, die diesen Werken eine festgelegte öffentliche Bedeutung verleihen und das Innenleben einer Gesellschaft regeln. Der Leser wird also feststellen, dass literarische Werke wie "Krieg und Frieden" mit Episoden aus dem Alltagsleben (...) durchsetzt sind, in denen die Umrisse dieses Nationalbewusstseins erkennbar werden. Gerade in den Episoden entdecken wir womöglich die unsichtbaren Fäden einer gemeinsamen russischen Sensibilität.

    Es ist in Figes' methodischem Exkurs nicht zu überhören: Es geht um das, was immer noch so gern und missverständlich die "russische Seele" genannt wird. Figes Haltung ist dabei eindeutig-uneindeutig: Einerseits zeigt er, dass das, was im Westen und von den Russen selbst für die russische Kultur gehalten wird, wesentlich aus importierten, vor allem asiatischen Einflüssen besteht, dass die bäuerliche Volkskultur etwa aus den Städten stammt. Die Nationalkultur, die gerade für Russen so entscheidend ist, über die sich viele Generationen von Künstlern Gedanken gemacht haben, die sie fast besessen gesucht haben und die sie dabei wieder und wieder neu interpretiert haben, als sei gerade das in Russland die Hauptaufgabe des Künstlers - sie existiert bei Figes nicht wirklich. Oder besser: Sie existiert nur als mythisches Bild. Auf der anderen Seite aber glaubt Figes diesen Mythen:

    Ich habe weder die Absicht diese Mythen zu dekonstruieren, noch würde ich im Jargon der universitären Kulturhistoriker von heute behaupten, dass Russlands Nation nichts weiter als eine intellektuelle Konstruktion gewesen sei. Es gab durchaus ein reales Russland - ein Russland, das noch vor " Russland" oder dem "europäischen Russland" oder allen anderen Mythen nationaler Identität existierte. (...) Denn wie das vorliegende Buch zeigen möchte, es gibt durchaus ein russisches Temperament, eine Ansammlung einheimischer Sitten und Überzeugungen, etwas, das aus dem Bauch kommt, etwas Emotionales und Instinktives, das von Generation zu Generation weitergegeben wird und dazu beigetragen hat, die Persönlichkeit des Einzelnen zu formen und der Gemeinschaft Zusammenhalt zu verleihen. Dieses schwer zu fassende Temperament, hat sich als dauerhafter und bedeutungsvoller erwiesen als jeder russische Staat: Es gab dem Volk Mut, die dunkelsten Augenblicke seiner Geschichte zu überstehen, und es schweißte diejenigen zusammen, die nach 1917 aus dem sowjetischen Russland flohen.

    Figes löst die enormen Schwierigkeiten, die seiner Darstellung entgegenstehen, nicht auf, sondern lässt sie bestehen. Man wird ihm deswegen aber nicht methodische Naivität vorhalten können, wie mancherorts geschehen. Im Gegenteil, er geht damit bewusst um, indem er für sein Buch eine Urszene findet. Diese Urszene ist Nataschas Tanz. Figes erzählt die Szene aus Tolstois Roman "Krieg und Frieden" sehr schön, sie ist typisch für seinen Stil:

    In Tolstois "Krieg und Frieden" gibt es eine berühmte Szene, in der Natascha Rostowa und ihr Bruder Nikolai von ihrem Onkel, wie ihn Natascha nennt, zum Abschluss einer Jagd in seine einfache Holzhütte eingeladen werden: Der edelmütige und exzentrische Onkel, ein ehemaliger Offizier, wohnt dort zusammen mit der Haushälterin Anisja, einer hübschen stämmigen Leibeigenen seines Landsitzes, bei der es sich, wie die zärtlichen Blicke des alten Mannes verraten, um seine inoffizielle Ehefrau handelt. Anisja trägt ein Tablett herein, beladen mit hausgemachten russischen Spezialitäten: eingelegten Pilzen, mit Buttermilch gebackenen Honigküchlein, Eingemachtem in Honig, schäumendem Met, Kräuterlikör und verschiedenen Sorten Wodka. Nach dem Essen dringen die Klänge einer Balalaika aus der Stube der Jagdknechte. Diese Art von Musik, eine einfache ländliche Ballade, sollte eine Komtesse eigentlich nicht ansprechen.

    Figes legt wert auf jedes Detail wie das Essen, das hereingetragen wird. Jede Figur mit ihrer Einstellung zu Musik und Tanz ist ihm wichtig. Nach der Aufforderung des Onkels, beim Tanz mitzumachen, überlässt Figes Tolstoi das Wort:

    "Na, mein Nichtchen!" rief der Onkel und schwenkte die Hand, mit der er soeben den Akkord abgerissen hatte, auf Natascha zu. Natascha warf das Tuch ab, in das sie sich eingehüllt hatte, lief auf den Onkel zu, stemmte die Arme in die Seiten, wiegte die Schultern hin und her und blieb dann stehen. Wie, wo und wann hatte diese kleine Komtesse, die von einer französischen Emigrantin erzogen worden war, aus der russischen Luft, die sie einatmete, jenen Geist in sich aufgesogen? Woher nahm sie diese Art zu tanzen, die von dem pas de châle schon lange hätte verdrängt sein müssen? Denn dieser Geist und diese Art zu tanzen waren so unnachahmbar, so unerlernbar russisch.

    Figes 700 Seiten langes Buch ist als Versuch lesbar, Tolstois Frage zu beantworten. Er erliegt dabei nicht der Versuchung, die Szene als eine literarische Erfindung Tolstois abzutun, eine zwar schöne, aber in der Wirklichkeit doch nicht vorstellbare Geschichte. Er versteigt sich aber auch nicht dazu, hier ein Substrat des Russischen geschildert zu sehen, ein Gefühl für das Russische, das Natascha angeboren wäre. Er macht etwas anderes, Figes macht in immer neuen Anläufen den Hintergrund dieser Szene
    sicht- und vor allem lesbar.

    Er zeigt die seit Peter dem Großen vollkommen an Europa orientierte Kultur der russischen Oberschicht, ihre Fähigkeit, sich fremdes Kulturgut perfekt zu eigen zu machen. Und er hebt sie von der seit dem Moskowiterreich mehr oder minder gleichen Kultur der russischen Bauern ab. Die russische Oberschicht erschafft sich im 18. Jahrhundert eine durch und durch theatralisierte Welt, Figes zeigt das am Leibeigenentheater des unermesslich reichen Grafen Scheremetjew. Und er zeigt, wie die hochentwickelte Artifizialität in Selbstbesinnung, Suche nach Bodenständigkeit umschlägt, wie sich das im Krieg gegen Napoleon von 1812 zuspitzt, wie sich das Land von der jetzt als fremd, als importiert angesehenen westeuropäischen Tradition ab- und zur russischen Kultur der Bauern hinwendet: in den Versuchen, die vom Französischen verdrängte Muttersprache zu lernen, in gemalten russischen Idyllen, in der slawophilen Geschichtsschreibung, in der gescheiterten Verschwörung der Dekabristen.

    Figes dekliniert dabei das Russische durch alle Sparten hindurch: Malerei, Theater, Literatur, Architektur, Kino und Musik. Er schafft es, die vielen Fäden durch wiederkehrende Orte, etwa Anna Achmatowas Haus an der Fontanka in Leningrad, in Sankt Petersburg das Palais der Scheremetjews, oder Personen bzw. Familien wie die Wolkonskis, kunstvoll und unangestrengt miteinander zu verknüpfen. Trotz des weiten Horizonts bleibt aber vieles ausgespart. Figes sieht die Volkskultur durchweg mit den Augen der Oberschicht, nie als Kultur der Massen. Kleidung und Gebräuche, Gesten und Verhaltensweisen, kommen entgegen seiner Absichtserklärung nicht vor - und wenn, dann durch die Augen von arrivierten Künstlern. Und die Suche nach den russischen Wurzeln ist ausschließlich eine Reaktion auf Übereuropäisierung und Napoleons Einmarsch, ganz so wie die Russen - vor allem eben Tolstoi - das selbst gesehen haben. Dabei würde ein kurzer Blick in die westliche Kultur, zum Beispiel nach Deutschland, zeigen, dass die Rückbesinnung auf die Volkskultur eine europäische Bewegung war, also auch andere Gründe als die spezifisch russische Ost-West-Dichotomie hatte.

    Figes beginnt sein Buch mit Tolstoi und lässt die ersten fünf Kapitel mit seinem Begräbnis enden. Was nachkommt, die beiden Kapitel über das sowjetische Russland und das Russland des Exils, hat den Status eines Epilogs. Tolstois Leben zwischen aristokratischer Herkunft und Sehnsucht nach Bäuerlichem ist für Figes das typische russische Leben, Tolstoi steckt im Inneren von Figes' Buch als sein wichtigster Gewährsmann.

    "Krieg und Frieden" war ursprünglich als Dekabristenroman konzipiert, der sich lose an Sergej Wolkonskis Lebensgeschichte anlehnen sollte. Doch je intensiver der Schriftsteller seine Nachforschungen über die Dekabristen betrieb, desto deutlicher erkannte er, dass deren intellektuelle Wurzeln im Krieg von 1812 zu suchen waren.

    Was Figes zu schreiben sucht, ist eine Art Über-"Krieg-und-Frieden", er sucht die Wurzel der Wurzel. Sergej Wolkonski, Spross des großen Adelsgeschlechts, verbindet Tolstoi mit dem 18. Jahrhundert.

    In der Urfassung des Romans kehrt der Dekabristenheld nach dreißig Jahren aus der sibirischen Verbannung zurück und gerät in die intellektuellen Unruhen der späten fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Gerade ist mit der Thronbesteigung Alexanders II. im Jahr 1855 eine zweite alexandrinische Herrschaft angebrochen, und wie schon 1825 hegt man große Hoffnungen auf eine politische Reform. Mit ebensolchen Hoffnungen war Wolkonski 1856 nach Russland zurückgekehrt und hatte über die Notwendigkeit eines neuen, auf Wahrheit gegründeten Lebens geschrieben: "Verlogenheit. Dies ist die Krankheit des russischen Staates.


    Orlando Figes
    Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands
    Aus dem Englischen von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter
    Berlin Verlag, 720 S., EUR 39,80