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Das lange Schweigen der Opfer

Dass sexueller Missbrauch an Schulen und Erziehungseinrichtungen nicht aus "heiterem Himmel" geschieht, davon ist Manfred Kappeler überzeugt. In seinem neuen Buch zeigt er die Strukturen, die solche Verbrechen an Kindern ermöglichen oder sogar hervorbringen.

Von Detlef Grumbach | 24.01.2011
    Wer "Missbrauch" sagt, setzt "Gebrauch" sprachlogisch voraus, auch wenn er im Moment des Sprachakts nicht daran denkt.
    Immer neue Fälle und Enthüllungen sogenannten "sexuellen Missbrauchs" beschäftigen die Medien, die Politik, die Institutionen. Der Sexualpädagoge, Psychotherapeut und Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler hat eine systematische Studie dazu vorgelegt. Er beginnt mit Sprachkritik:

    "Es handelt sich um sexuelle Gewalt. In dieser Formulierung 'Missbrauch', 'missbräuchlich', verschwindet dieser Gewaltcharakter dieses Handelns. Es wird dann von Übergriffen gesprochen, und das sind alles Strategien der Neutralisierung und letztendlich auch der Verharmlosung."

    Es darf keinen Weg der Annäherung eines Erwachsenen an ein Kind oder einen Jugendlichen geben, der von sexueller Erregung bestimmt ist und sexuelle Befriedigung zum Ziel hat.
    Die Öffentlichkeit ist alarmiert. Denn solche Annäherungen hat es gegeben: unter Obhut und Aufsicht des Staates und der Kirchen, in Erziehungsheimen und in Internatsschulen. In der allgemeinen Erregung über einen allgegenwärtig scheinenden "sexuellen Missbrauch" und der schnellen Fokussierung auf einzelne, "schwach gewordene" Täter geht jedoch eines allzu leicht verloren: eine differenzierte Analyse des Geschehens und der Strukturen, die es ermöglichen oder sogar hervorbringen. Genau darum geht es dem emeritierten Professor der TU Berlin in seiner Studie "Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt und pädagogische Einrichtungen".

    Vergewaltigung in der Heimerziehung, Sex im Jesuitenkollegium oder in der Reformschule - ist das alles dasselbe? Kappeler sagt Nein und analysiert zunächst, was unter sexueller Gewalt zu verstehen ist. Das sind demnach nicht nur Straftaten gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören auch Dinge wie ein mit körperlicher und psychischer Gewalt durchgesetztes Onanieverbot, eine ideologisch verbrämte "Liebe zum Kind", die eine Gleichberechtigung, gleiche Wünsche und Interessen vorgaukelt, um die eigenen am Ende durchzusetzen. Die Auswirkungen seien nicht dieselben, das lange Schweigen der Opfer habe verschiedene Ursachen, schreibt der Autor. So seien Heimkinder in den Sechzigerjahren dem System bedingungslos ausgeliefert gewesen, an niemanden hätten sie sich wenden können, niemand habe ihnen geglaubt. Katholische Internatsschüler hätten immerhin noch Kontakte nach draußen, zu den Eltern, haben sich aber der Sünde schuldig und selbst oft auch noch verantwortlich gefühlt. Schülerinnen und Schüler in reformpädagogischen Einrichtungen wie der Odenwaldschule sind meist stolz auf ihre Schule und verehren manche ihrer Lehrer. Sie wollen der Schule nicht mit einer Anzeige schaden oder haben manchmal auch einfach Angst, der Schule verwiesen zu werden. Manfred Kappeler:

    "Das heißt, bei den ehemaligen Heimkindern sind sämtliche Lebensbezüge von dem Gewaltverhältnis, in dem sie stecken, betroffen und die sexuelle Gewalt ist nur eine Spielform davon. Die haben ihre Täter von Anfang an gehasst, konnten sich innerlich mit Wut und Aggression abgrenzen – ich haue ab, ich fliehe, aber ich bin nicht identifiziert mit dir, du bist für mich kein Vorbild. Bei den Internatsschülern ist das in der Regel so, dass die sexuelle Gewalt ein ganz bestimmter Punkt ist und drum herum funktioniert das Ganze übrige tolle Leben an dieser Schule, in diesem Internat, die kriegen ihre Qualifikation, die machen ihr tolles Abitur."
    Gut verständlich, in einem fast erzählerischen Tonfall, faktenreich und engagiert unterzieht er jede einzelne der betroffenen Institutionen einer konkreten Analyse. Katholische Bildungseinrichtungen sind demnach Teile einer klar durchorganisierten Hierarchie mit einer verbindlichen Sexualmoral, der restriktiven Wirkung des Zölibats und mit Pädagoginnen und Pädagogen, die selbst mit dieser Sexualmoral sozialisiert worden sind. Dort, so Kappelers These, agiert eine unterdrückte Sexualität von Erwachsenen gegen die sexuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen und schlägt in bestimmten Situationen um in eigene, sexuelle Gewalt. Die evangelische Kirche habe mit ihrer "Denkschrift zu Fragen der Sexualethik" 1971 ein freieres Verhältnis zur Sexualität entwickelt. Freiheit, so analysiert der Autor, gibt es aber auch hier kaum.

    Als Teil der Emanzipationsbewegung von 1968 hat Manfred Kappeler sich starkgemacht für das sexuelle Selbstbestimmungsrecht auch von Kindern und Jugendlichen. Theoretiker der Reformpädagogik wie Hartmut von Hentig gehörten zu seinen Vorbildern. Hier überprüft er das eigene pädagogische Credo, sucht in Theorie und Praxis nach den Ursachen dafür, dass potenzielle Täter die Gelegenheiten für ihre Taten finden und dass die Institutionen die Täter anschließend decken. Kappeler spricht sich in der Konsequenz nicht gegen die dort bewusst eingegangene Nähe von Erzieher und Erziehendem aus. Doch er fordert eine nötige Distanz zwischen Erwachsenem und Kind sowie die Reflexion über das Machtgefälle zwischen ihnen. Denn wer das sexuelle Selbstbestimmungsrecht stärken und sexuelle Gewalt verhindern will, betont Kappeler, dürfe nicht in Zeiten der Tabus und der Restriktion zurückfallen. Aber auch schnell hervorgezauberte Rezepte zur Prävention wie die Parole "Kinder starkmachen!" finden in diesem Zusammenhang nicht seine ungeteilte Zustimmung:

    "Kinder können nie so stark sein, dass sie einem erwachsenen Gewalttäter, der sie sexuell ausbeuten will, entkommen können, wenn der es wirklich drauf anlegt. Es ist gut, Kinder starkzumachen, sie kritisch zu machen, sie selbstbewusst zu machen, das sind aber ganz selbstverständliche Forderungen, die man nicht extra gewaltpräventiv begründen muss, die gehören zum Credo einer offenen, liberalen, fortschrittlichen Erziehung."

    Wer Prävention sagt, muss Gefahr denken.
    Kappeler warnt auch am Ende seiner fundierten und erhellenden Studie vor der allzu leichtfertigen Verwendung von Begriffen. Denn wenn Pädagogen nur noch Gefahrenquellen und Gefährdete sähen, könne ihnen der "offene Blick" auf die zu Erziehenden leicht verloren gehen. Wenn sexuelle Gewalt ihre "Gelegenheitsstrukturen" in Institutionen vorfindet, müsse Prävention deshalb vor allem dort ansetzen, betont der Autor. Seine Vorschläge sind nicht neu, aber aktuell. Sie setzen an bei der Ausbildung und regelmäßigen Supervision des Personals und enden nicht bei Ombudsstellen und einer tatsächlich funktionieren behördlichen Aufsicht:

    "Es kommt darauf an, die strukturellen Bedingungen in den Einrichtungen, in denen Kinder Opfer sexueller Gewalt werden, zu verändern. Das ist der entscheidende Ausgangspunkt, und der ist auch deshalb so wichtig ist, weil er die Verantwortung der Institutionen betrifft und der Träger dieser Einrichtungen. An dem Punkt müssen die etwas tun!"
    Wenn man verstehen will, aus welchen strukturellen Gründen pädagogische Institutionen beim Schutz der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen versagen und auf welche Weise Prävention Erfolg versprechen kann, sollte man dieses Buch auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen.

    Detlef Grumbach las für uns Manfred Kappeler: "Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen", erschienen in der Nicolaischen Verlagsbuchhandlung. 272 Seiten kosten 19 Euro 95, ISBN 978-3-894-79626-6.