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Das langsame Fortschreiten der Liebe

Mit Hector Bianciotti, 67, dessen Buch "Das langsame Fortschreiten der Liebe" in deutscher Übersetzung erschienen ist, ist ein seit zwölf Jahren Französisch schreibender argentinischer Schriftsteller italienischer Herkunft vorzustellen. Sowohl sein Spanisch als auch sein Französisch geschriebenes Oeuvre - Romane, Erzählungen, Dramen, Essays - wurde mehrfach, mit überwiegend französischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Seit 1996 ist Bianciotti Mitglied der Académie Francaise. Er läßt sich als ein eindringlicher Erzähler und Meister der leisen Töne charakterisieren. Seine Sprache ist makellos, hochmusikalisch und betörend schön. Wobei diese Schönheit nicht selten in krassem, den Leser bestürzenden Widerspruch zu den Inhalten eines Buchs steht.

Rosemarie Bollinger |
    In Deutschland erst als französischer Autor zur Kenntnis genommen, liegen mittlerweile vier Werke Hector Bianciottis vor; alle in der guten, in Rhythmus, Duktus und Klang kongenialen Übertragung aus dem Französischen von Maria Dessauer. Es sind die zwei Romane "Das extreme Leben einer unscheinbaren Frau", ein Buch, das im Original den sehr viel härteren Titel "Sans la miséricorde du Christ" (Ohne das Erbarmen Christi) trägt, sowie "Die Nacht der blauen Sterne". Auf sie folgten "Was die Nacht dem Tag erzählt" und "Das langsame Fortschreiten der Liebe". Zwei Bücher, die man von den Fakten her als Autobiographie, angesichts von Kompositions- und Erzählstrukturen als Romane lesen kann.

    Das erste ist eine literarische Rekonstruktion und Reflexion der argentinischen Kindheit und Jugend. Das zweite handelt von dem Südamerikaner, der sich aufmacht, den Kontinent, den seine Großeltern einstmals verließen, Europa zu entdecken. Was für unter Fernweh leidende nordeuropäische Leser nicht zuletzt darum reizvoll ist, weil Reiseroute und Gedankengänge, Geschichts- und Weltbild oftmals den seinen diametral entgegengesetzt, die Gefühle dagegen dieselben sind: die Träume, Sehnsüchte, Illusionen, Desillusionen; die Fugen, die Fluchten, der Wunsch, der eigenen Welt, Existenz oder Person zu entfliehen. Wie Bianciotti an einem "anderen Gestade des Planeten" anzukommen.

    Im Gegensatz zu der vom Autor damals erstrebten radikalen Zäsur zwischen den Welten schließen seine beiden folgenden Bücher nahtlos aneinander an. Der beinahe 25jährige Ich-Erzähler, der sich am Ende des ersten Buchs 1955 im Hafen von Buenos Aires einschifft, kommt zu Beginn des zweiten im Hafen von Neapel an. "Ich entsinne mich, an Hernán Cortés gedacht zu haben, der - sollte er Ursprung der Metapher sein? - seine Schiffe verbrannt hatte, um bei seinen Soldaten alle Rückzugsgelüste zu ersticken. Deserteur einer jungen Vergangenheit, zukunftsgierig, wollte ich alles, was ich erlebt hatte, den ganzen bereits hinter mich gebrachten Weg, in Schutt und Asche legen."

    Hector Bianciotti ist Sohn eines Viehzüchters und 1930 in der Provinz Santa Fe geboren, inmitten der Pampa. Einer oft beschriebenen, menschliches Maß überschreitenden, weiten, leer und horizontlos, metaphysisch anmutenden Landschaft, die die argentinische Literatur nachhaltig prägte. Seine Homosexualität mag dazu beigetragen haben, daß er sich auch unter Menschen, innerhalb der eigenen Familie, als Fremdling empfand. Er selbst betont oder problematisiert die Tatsache seines Schwulseins nicht. Es ist einfach Teil der Lebensgeschichte, die er in dem hier vorgestellten Buch erzählt.

    "Le Pas si lent de l'amour"."Das langsame Fortschreiten der Liebe": Nicht nur der Original-, auch der deutsche Titel ist doppeldeutig. Da das Fortschreiten als Prozeß der Bereicherung jedoch durchaus ebenso im exakten Sinn des Wortes als Fortschreiten, als kontinuierliches Verlieren der Liebe - jener Menschen, die man liebte -, verstanden werden kann.

    "Man sollte das Morgen nicht zu gut kennen, Voraussehen ist schrecklicher als Dunkel. Zudem muß Hinfallen gelernt werder damit man sich auf den Beinen halten kann." Mit diesen Worten eröffnet Bianciotti das Buch, das die ersten Europa-Jahre, den Zeitraum zwischen 1955 und 1969 umfaßt. Stationen sind nach Neapel: Rom, Madrid, Málaga und schließlich, ab 1961, Paris, die in den argentinischen Tangos besungene "Stadt der Lichter", die von jeher Ziel seiner Sehnsucht gewesen war.

    Es sind - wie mit den ersten Sätzen angedeutet - schmerzhafte, sehr harte Lehr- und Wanderjahre, in denen ihm, bleibt man im Bild, zwischen Höhenflügen und Stürzen die Beine wachsen. Die ersten Jahre sind die grausamsten. Bianciottis ganzes Streben war damals auf das Theater ausgerichtet. Er hatte in Buenos Aires bereits Beachtliches geleistet und plante, in Rom Regiekurse zu besuchen, die ihm Giorgio Strehler als die besten empfohlen hatte. Statt dessen versinkt er - mittellos, obdachlos, in ein, wie er es ausdrückt, "schmieriges Elend". Der Hunger beschädigt selbst das ihm Kostbarste, seinen Schönheitsinn: "Ausgehungert habe ich auch die Schönheit gehaßt."

    Überraschenderweise sind es überwiegend Argentinier oder Menschen, die das Land kennen, die dem seine Wurzeln verneinenden Mann, immer wieder aufhelfen, in einigen Situationen buchstäblich das Leben retten. Und sogar noch Künstler, die ihn in Europa begeistern, wie die Callas oder Martha Argerich, seinerzeit ein Wunderkind, hatte er zuvor in Buenos Aires gehört. Ironien, die zu entdecken, Bianciotti seinen Lesern überläßt.

    Die schönsten und wohl ergreifendsten Passagen des Buchs aber sind einer Abwesenden, seiner Mutter, gewidmet. Es schließt mit einer Hommage an Valéry, Verlaine und die französische Sprache. Am einfachen Beispiel des französischen und des spanischen Vogels erklärt er seine sprachliche Neigung: "Ich ahnte nicht, daß jede Sprache eine besondere Art ist, die Wirklichkeit zu begreifen, daß das, was sie benennt, ein nur ihr gehörendes Bild beschwört. Wenn ich "oiseau" sage, empfinde ich, daß die vom sie trennenden s geliebkosten Vokale ein kleines warmes Tier mit zartem glänzenden Flaum erschaffen, das sein Nest liebt. Sage ich dagegen pájaro, dann spaltet der spanische Vogel die Luft wie ein Pfeil ... ich ziehe die Intimität dem Unermeßlichen vor."