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Das Leben Arsenijs

Alexej Schipenko, Rockmusiker und Sänger, Regisseur, Bühnenbildner, Schauspieler und Dramatiker, ist im Moment ganz oben. Vor kurzem hat er in Tübingen sein 1993 an der "Schaubühne" aufgeführtes Hippie-Stück "Archeologia" inszeniert, das Zürcher Schauspielhaus brachte unlängst als Auftragswerk sein Mafiadrama "Zyricon" heraus - und in Berlin, wo Schipenko seit sechs Jahren lebt, kann man momentan gleich drei Stücke von ihm bestaunen. Den "Tod Van Halens" am Carrousel-Theater, "Suzuki" und "Poljot" in der Baracke, der umjubelten Experimentierbühne des Deutschen Theaters, wo Schipenko momentan auch als schauspielernder Autor auftritt. Da wundert es nicht, daß auch Schipenkos erster Roman erschienen ist. "Das Leben Arsenijs" heißt diese bizarre Vita eines Autors, der später heilig wird. Zunächst wird er als kleiner Junge Arsenij in Sewastopol von seinem Vater lebendig begraben, doch kurz darauf auf wundersame Weise gerettet. Dann gerät er als blinder Passagier auf das Spionageschiff "Arkadij Wernadskij" und strandet als sprachloser Fremdling, bar jeder Erinnerung an sein früheres russisches Leben, an der New Yorker Ostküste. Er studiert in Stanford amerikanische Philologie und gerät als Jack Walden unter die New Yorker Boheme. Nach seiner blutig eskalierenden Hochzeit flüchtet er nach Berlin, später findet er als Albert Camus in Frankreich bei einer Bauernfamilie Quartier. Zu guter Letzt kriecht er als Senja der Narr auf allen vieren ins heimatliche Sewastopol zurück, und stirbt, unerkannt, im Schoße der Familie.

Barbara Lehmann |
    "Ich erzähle in diesem Buch, wie ein Mensch sich von der westlichen Zivilisation lossagt und in den Tod geht", erläutert Alexej Schipenko. "Aber wie wird das erzählt? Nicht wie eine Beichte, sondern wie ein Abenteuerfilm, die Erzählung springt zwischen den Gattungen hin und her. Doch jener Kern, auf dem sich die ganze Geschichte entfaltet, ist absolut offen. Er handelt davon, daß wir auf dieser Erde nichts verloren haben. Die Realität ist abstoßend, die einzige Wirklichkeit ist die innere religiöse oder auch göttliche Realität. In seinem Hauptgedanken ist das Buch also offen, wenn auch nicht in seiner Form. Einer offenen Erzählung über die menschliche Seele würde man hier im Westen nur mit Zynismus begegnen."

    An dieser wunderlichen Seelenreise durch Zeiten und Kontinente nimmt ein exzentrisches Völkchen teil. Alle sind sie miteinander verbunden durch geheime Schicksalslinien und mysteriöse Gegenstände wie den Siegelring des äthiopischen Kaisers Haile Selassi, mit dem Bob Marley begraben wird. Weitere verstorbene oder real existierende Prominente im Roman sind Boris Becker, der amerikanische Kultautor Jack Kerouac und Buddy Miles. Drumherum gruppieren sich Engel, Seelen und ein Magier, der gleichzeitig FBI-Agent ist. Sämtliche Figuren sind lediglich Statisten und haben einzig den Zweck, die Genialität des Helden zu spiegeln und lobzupreisen. Die Träumerin Mrs. Heart komponiert aus Jacks Diktaphonaufzeichnungen, die er auf dem Klo erstellt, ein Opus, für das sie 1999 den Nobelpreis erhält. Auch Mrs. Kronzucker, eine Fernsehproduzentin, steht auf Jack, wie übrigens alle Damen des Romans: Jacks goldene Sätze nimmt sie in der gemeinsamen New Yorker Wohnung mit versteckten Mikrofonen auf und schneidet sie später gewinnträchtig zur Soap-Opera um.

    Ist dieser Genius und Liebling aller Frauen etwa ein alter ego von Schipenko? Um einen schriftstellernden Künstler kreist auch sein dramatisches Oeuvre, das mittlerweile dreißig Stücke umfaßt. Auffallend sind jedenfalls die biographischen Parallelen: Wie Arsenij wuchs Schipenko in Sewastopol auf, auch ihn verschlug es ins Ausland. Schipenko dazu: "Ich versuche mich so zu beschreiben, wie ich momentan bin. Darin liegt meine Schutzlosigkeit. Dabei denke ich nicht an den Leser und ob es für ihn verständlich sein wird. Ich versuche lediglich, wahrhaftig über mich zu schreiben. Und ich weiß, ich finde Menschen, die meine Denkweise verstehen. Das reicht mir. Auch Tarkowski hat gesagt, er sei schon zufrieden, wenn nur ein einziger Mensch verändert den Kinosaal verlasse. In diesem Sinn bin ich tatsächlich ein hermetischer Autor. Und was den Stil betrifft: Ich wollte schon lange einen Roman schreiben. Doch immer, als ich damit anfing, kam etwas dabei heraus, das einem Buch ähnelte, das ich schon gelesen hatte. Diese Form existierte bereits. Ich begriff, daß ich sehr gut verschiedene Romanstile imitieren kann, doch dabei selber nicht vorkomme. Danach begann ich den Roman so zu schreiben, wie er jetzt vorliegt - einfach als Drehbuch. Bei der Niederschrift fand ich heraus, daß ich dem traditionellen Roman, der sich in die Psychologie des Menschen und winzige Details seines Bewußtseins und seiner Seele vertieft, nicht mehr vertraue. Jedenfalls nicht zu dem Zeitpunkt, als ich den Roman schrieb. Um ehrlich zu sein, muß ich das schreiben, was ich im Innern vernehme. Und dabei - und das ist meine eigentliche Methodologie - plane ich nichts. Ich verlasse mich völlig auf die Inspiration. Die Geschichten und Figuren fangen dann an, sich selbst zu erzählen. Und ich hörte und sah nur fragmentarische Bilder. So habe ich die Geschichte als filmische Montage erzählt. Das kinematographische Sehen ist ein Teil von mir, es gehört zu mir seit meiner Geburt."

    Schipenko bekennt im Nachwort, er wolle nichts "Krankhaftes und Depressives publizieren". Gilt das Verdikt des Autors dabei auch seinen frühen Stücken, "Archeologia" und "La 5 in der Luft"? Dort verpuppten sich die Figuren zwar auch in esoterische Traumgespinste. Dabei entkamen sie jedoch der klaustrophobischen Enge des sowjetischen Milieus, das Schipenko damals aus ironischer Distanz präzis beobachtet hat. In dieser Emigrantenprosa rauschen indessen in Länder und Orte vorbei wie im Zeitraffer, aber in New York, Berlin, oder Paris angekommen zu sein, scheint der Autor nicht.

    "lch möchte kein Schriftsteller sein, der ein für alle Mal eine bestimmte Form und einen bestimmten Stil gefunden hat und nun auf diesem Stil festsitzt. Ich hatte mein ganzes Leben lang ‘La 5 in der Luft’ schreiben können. Das habe ich nicht getan. Jedes Mal, wenn ich etwas Neues schreibe, fange ich bei Null an. Ich erzähle mein Leben äußerst ehrlich. Manchmal verwende ich komplizierte künstlerische Symbole oder Verfahren, manchmal konstruiere ich etwas allzu hermetisch. Aber all das bezieht sich auf mein Leben, so wie es im gegebenen Moment ist, und ich möchte das nicht verbergen. Warum bin ich fortgegangen? In Rußland konnte ich nicht mehr atmen. Ich habe gespürt, daß man mich dort nicht mehr braucht, obwohl mich keiner verjagt hat. In Westen fühle ich mich gebraucht, denn hier kann ich schreiben. Außerdem ist es hilfreich, daß der Westen nicht meine Heimat ist. In Rußland schmerzt mich, was passiert. Hier verspüre ich Distanz. In dieser Distanz kann ich klar und überlegt existieren. So kann ich als Künstler diese Situation produktiv nutzen."