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Das Leben danach

Vor gut einem Monat ließ sich der Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, eine Niere entnehmen, um sie seiner Frau zu spenden. Organspenden sind ein Thema in der ganzen Gesellschaft - auch im Sport.

Von Ronny Blaschke |
    Hartwig Gauder hatte sein Herz lange mit einem Rennwagen verglichen. Es schlug verlässlich, kraftvoll, es wirkte unbesiegbar.

    Gauder war in den 80er-Jahren ein erfolgreicher Leichtathlet, wurde Olympiasieger und Weltmeister im Gehen. Gauder ernährte sich gesund, rauchte nicht, verzichtete auf Alkohol. Der 55-Jährige dachte, er hätte Gesundheit fürs Leben gespart. Doch da täuschte er sich. 1995 ließ sein Herz ihn im Stich. Die Diagnose: Virusinfektion. Der kraftvolle Rennwagen geriet ins Stocken:

    "Es ist nicht nebenan eingeschlagen, sondern es hat mich erwischt. Dort wurde mir gesagt: nur eine Transplantation kann Sie retten. Rasanter Leistungsabfall bis auf 16 Prozent der Herzleistungsfähigkeit. Und da kann man gar nichts mehr, da ist man im Rollstuhl. Dann kam die nächste Stufe, dass mir gesagt wurde, dass wenn ich kein Kunstherz bekomme, dann würde ich in fünf oder sechs Wochen sterben."
    Gauder war mit einem neuen Training ausgelastet. Überlebenstraining. Er erhielt ein künstliches Herz. Er begann sich mit dem Tod zu beschäftigen. Das Ziel war ihm abhanden gekommen, doch anhalten wollte er nicht. Im Krankenhaus machte Gauder Bewegungsübungen und nutzte den Fahrradergometer. Gegen den Willen der Ärzte. Monate lang musste er auf ein Spenderherz warten, die Rettung kam im Januar 1997:
    "Das werde ich auch nie vergessen. Da habe ich einfach in mich hineingehört und habe wieder seit Monaten einen eigenen, kräftigen Herzschlag gespürt. Und da waren die Gedanken, die ich hatte, einfach nur mit zwei Worten: das passt!"
    Eine schönere Melodie hätte sich Hartig Gauder nicht vorstellen können. Nach der OP verging keine Woche, bis er sich sportliche Ziele setzte. Gauder trainierte im Kraftraum und wanderte. Langsam erhöhte er sein Pensum. Er genoss die Läufe in der Natur:

    "Und ich möchte nicht nur im Sessel sitzen. Ich möchte wieder aktiv am Leben teilnehmen. Das kann man nur umsetzen, wenn man sich selbst wieder diszipliniert. Und das fiel mir eben leichter, weil ich es ja als Leistungssportler auch schon gelernt hatte, das zu machen."
    Hartwig Gauder hätte zu Hause in Jena bleiben und Rente beziehen können, aber das hätte er nicht ausgehalten. Es war wie früher in der Leichtathletik. Kopf hoch, Brust raus und voran, nur die Strecke war eine andere. Gauder bestieg den japanischen Berg Fuji, auf fast 4000 Meter Höhe. Und er bestritt die Marathonläufe in New York und Berlin. Mit einem neuen Herzen, aber mit alter Durchsetzungskraft.
    Christian Graßl hat nicht die Vita von Hartwig Gauder, trotzdem ist er zu einem Botschafter für Organspende geworden. Wenn er in seiner Heimat Berchtesgaden über seine ungewöhnliche Reise spricht, glänzen seine Augen. Es war im Frühling 1987. Graßl war 19, als er über Nacht im Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen wurde. Akutes Nierenversagen. Graßl wurde operiert und musste zur Dialyse. Drei Mal pro Woche:
    "Ja, das ist natürlich ein harter Schlag, vor allem in dieser Zeit, also wenn man Sturm- und-Drang-Zeit hat und noch was erleben will."
    Christian Graßl brauchte Bewegung. Zwischen den Blutwäschen ging er joggen, Bergsteigen oder Kajak fahren, auch wenn seine Ärzte das nicht gerne sahen.

    Sechseinhalb Jahre musste Christian Graßl auf eine Spenderniere warten, eine Zeit, in der sich viel innerer Druck anstaute. Sport war für ihn ein Ventil - auch nach der Operation. Ein halbes Jahr verging, da entdeckte er seine neue Berufung.
    Als Skirennläufer nahm Graßl an den Weltspielen der Organtransplantierten in Frankreich teil. Einem Sportfest mit hunderten Teilnehmern, das alle zwei Jahre stattfindet. Graßl gewann Silber, doch er denkt weiter als bis zur nächsten Medaille:
    "Mein Hauptgrund ist natürlich auch, dass viele Leute zusammen kommen. Man kann Erfahrungen austauschen. Man lernt viele Leute kennen auf der ganzen Welt. Mein Englisch hat sich schlagartig verbessert. Auch nach den Spielen bleibt man in Kontakt mit den Menschen."
    Die Spenderniere von Christian Graßl versagte nach zehn Jahren, wieder musste er zur Blutwäsche. Mittlerweile lebt er mit dem zweiten Spenderorgan. Wie lange es dieses Mal hält? Der 41-Jährige hat sich an das Warten gewöhnt. Demnächst will er eine Jugendgruppe gründen, er möchte sie zu den Weltspielen der Transplantierten führen. Vielleicht nach Berchtesgaden, ein Organisationskonzept hat er bereits entworfen.
    Christian Graßl und Hartwig Gauder haben Freunde und Bekannte sterben sehen. Noch immer gibt es nicht ausreichend Organe. Graßl und Gauder klären auf, sie reden gegen Klischees an - und werben für den Sport.
    "Die nächste Operation kommt bestimmt. Man muss sich einfach fit halten. Man muss einfach Sport machen. Man kommt schneller aus dem Krankenhaus raus, wenn man operiert wird."
    "Ich messe mich nur an mir selber, an meiner Freude, an meiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Wir können aktiv am Leben teilnehmen. Wir können Leistung bringen und wir müssen die Leistung aber auch so bringen, dass wir uns nicht selber schädigen."
    Christian Graßl und Hartwig Gauder sind Sportler für Organspende. Und plötzlich erhält der Begriff Höchstleistung eine ganz andere Bedeutung.