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"Das Leben des Francois Rousseau"

Der Vater des Philosophen Jean-Jacques Rousseau war Uhrmacher, und dieses Handwerk erlernt auch Jean-Jacques' um sieben Jahre älterer Bruder François. In der Historie ist er kaum in Erscheinung getreten. Die Lücke, die in der Rousseauschen Familienbiographie klafft, will jedoch Stéphane Audeguy mit seinem Roman füllen. Und Audeguy schenkt seinem Helden ein langes und genussreiches Leben.

Eine Kritik von Martin Ebel | 27.11.2007
    Wer Aufklärung sagt, muss auch Dialektik sagen. Das wunderbare 18. Jahrhundert, in dem der Himmel des Geistes immerblau leuchtet und der Menschheit eine Morgenröte ohne Ende ankündigt (wenn man nach den Schriften urteilt, die in ihm entstanden): Dieses Jahrhundert hatte auch seine Schattenseiten, und es führte geradewegs in den Terror der Revolution. Gleich sollten die Menschen sein - und wurden es unter dem Fallbeil, dessen ausgeklügelte, vermeintlich humane Apparatur auch eine Frucht der rasant sich entwickelnden mechanischen Künste war.

    Der Vater des Philosophen Jean-Jacques Rousseau war Uhrmacher, und dieses Handwerk erlernt auch Jean-Jacques' um sieben Jahre älterer Bruder François. Von dessen Lebensweg erfahren wir hier erstmals, aus erster Hand quasi: Denn was wir lesen, sind seine Memoiren. Fiktive Memoiren selbstverständlich. Der Erzähler allerdings ist keine Fiktion; François Rousseau hat tatsächlich gelebt, er kommt auch in den "Confessions", den "Bekenntnissen" des weltberühmten Bruders mit ein paar Zeilen vor; er sei, heisst es da, von den Eltern vernachlässigt worden, schon früh auf moralische Abwege geraten und schliesslich von der Bildfläche verschwunden.

    Die Lücke, die also in der Rousseauschen Familienbiographie klafft - eine Lücke, die wohl niemand bisher schmerzhaft gespürt hat -, will Stéphane Audeguy mit seinem Roman füllen; der fiktive Autobiograph nennt das Vorhaben selbst eine "Korrektur". Das Leben, von dem François Rousseau erzählen kann, ist nicht weniger bewegt als das von Jean-Jacques; seine Darstellung ist weniger grüblerisch und sentimental, vor allem weniger selbstbezüglich als die "Confessions". Das sind aber Temperamentsfragen; selbstverständlich verbietet sich ein Vergleich der beiden Bücher, was ihren Rang angeht, ganz und gar. François und sein Ghostwriter wetteifern auch überhaupt nicht mit Jean-Jacques; ihre hurtige Prosa ähnelt viel mehr, wenn überhaupt, dem Spötter Voltaire.

    Audeguy schenkt seinem Helden ein langes und genussreiches Leben; 1705 kommt er zur Welt, mit 5 hat er seine erste Erektion, bei der die Mutter helfend Hand anlegt, und 1794, bei Abfassung der Memoiren, mit 89 also, hat er seine letzte gerade hinter sich, und die letzte ist es auch nur, weil ihm die Geliebte erschlagen wurde.

    Der Hörer merkt, worum es geht: Um die Genüsse der körperlichen Liebe, denen François, mit einer längeren haftbedingten Unterbrechung, ausgiebig nachgeht. Libertinage hatte im 18. Jahrhundert eine erotische und eine intellektuelle Bedeutung; keine Frage, welche für den Helden die wichtigere ist. Mit 14 entdeckt er, von einer schönen Rinderhirtin kundig unterwiesen, die Klitoris, und verfasst sofort eine metaphysische Abhandlung, die aus der Existenz dieses Lustortes, sozusagen des G-Punktes der Aufklärung, die Nicht-Existenz Gottes ableitet. Dafür konnte man damals durchaus auf dem Scheiterhaufen landen; François erntet zu seinem Glück nur das schallende Gelächter seines Mentors, des Grafen von Saint-Fonds. Der macht ihn, weil der Vater als Erzieher ausfällt, zum denkenden und mitfühlenden, vor allem aber zum Genussmenschen.

    Die bunteste Zeit erlebt François erwartungsgemäss nicht in Genf oder Dijon, sondern in Paris, der damaligen Welthauptstadt raffinierten Vernügens. Die elegante Camille Paris - sie trägt den Namen der Kapitale als Nachnamen - engagiert ihn als eine Art Hausmeister für ihr Luxusbordell; dann erhält er Zugang zur Montagsgesellschaft, einer Vereinigung von Freigeistern, die von Monsieur B. geleitet wird, einem weiteren Förderer. Als gelernter Uhrmacher stellt Francois seine mechanischen Kenntnisse und Eingebungen in den Dienst der Wissenschaft (er versucht den Verdauungsapparat nachzubauen) wie auch der Erotik. Sein "unermüdlicher Herkules", ein Sexapparat, den Camille Paris höchstselbst öffentlich ausprobiert, ist allerdings Betrug; in seinem Innern verbirgt sich ein sexuell glänzend disponierter Zwerg.

    So geht es munter durch die Schlafzimmer und Salons dieses frivol gezeichneten und natürlich überzeichneten Jahrhunderts. Wenn Stephane Audeguy dessen Nachtseiten auch nie unterschlägt; wenn er die Justiz des Absolutismus mit ihrer mittelalterlichen Strafpraxis brandmarkt und die entsetzlichen Lebensbedingungen der armen Leute nicht vergisst: so trübt sich das Bild doch erst mit der Grossen Revolution wirklich ein. Da wird nicht nur mechanisch exekutiert, sondern auch mechanisch abgeurteilt, und anstelle schlechter Institutionen tritt die bewusste Entfesselung der niedrigsten Instinkte, eine nicht weniger absolute Herrschaft.

    Das Schlimmste, so François Rousseau, der einmal an die Revolution geglaubt hat, das Schlimmste ist der Pöbel, ist die wütende Menge, der man jedes beliebige Opfer zum Frasse vorwerfen kann: Sie frisst es. Sie frisst auch Sophie, die letzte Geliebte des Helden und letzte Lichtgestalt des Buches, eine ein wenig arg Alice-Schwarzerhafte Frauenrechtlerin. Und der Marquis de Sade, mit dem der Held einige Jahre in der Bastille geteilt hat, behält recht mit seinem tiefschwarzen Bild des Menschen.

    Dennoch ist dies ein hochvergnügliches Buch, vor allem für Liebhaber historischer Spaziergänge, für Kenner des Aufklärungszeitalters wie für jene, die es auf denkbar unangestrengte Weise kennen lernen wollen. Von einigen wenigen Unwahrscheinlichkeiten abgesehen, etwa der erstaunlichen Rüstigkeit noch des 89-jährigen, ist dem Autor die literarische Maskerade staunenswert gelungen. Der Geist der Aufklärung blitzt in zahlreichen epigrammatischen Formulierungen auf. Tänzerisch und elegant bewegen sich Audeguys Sätze, als stammten sie wirklich von einem Zeitgenossen Voltaires und Diderots; ein Effekt, den die französische Kritik gerühmt hat und der in der deutschen Übersetzung notgedrungen etwas verblassen muss; ansonsten hat Elsbeth Ranke ihre Sache aber gut gemacht.

    Natürlich ist das Unterhaltung, aber Unterhaltung vom Feinsten. Allerdings muss nun keiner kommen und die Lebensgeschichten der fünf Kinder erzählen, die Jean-Jacques Rousseau ins Findelhaus gegeben hat. Auch wenn es die, wie seinen Bruder, wirklich gegeben hat.