Samstag, 20. April 2024

Archiv


Das Leben des Großvaters

Frank Wedekind ist umstritten: Zwar gehören seine Stücke zum festen Repertoire der Bühnen, doch so richtig ins Herz geschlossen hat den schwierigen Autor, der sich vorrangig mit dem Triebleben der Menschen beschäftigte, weder die Literaturwissenschaft noch das breite Publikum. Nun hat sein Enkel Anatol Regnier eine Biographie vorgelegt.

Von Eva Pfister | 02.04.2009
    Eine "Männertragödie" nennt Anatol Regnier seine Biographie. Er spielt damit auf Frank Wedekinds Hauptwerk an. "Die Büchse der Pandora" trug die Genrebezeichnung "Monstretragödie" (sic), als der Autor sie 1895 seinem Verleger schickte. Aber der wollte die letzten beiden Akte, die Lulus Abstieg zur Prostituierten beschreiben, nicht verantworten, und so begann eine lange Geschichte von Umarbeitungen und Zensur. Das Monster aber ist Lulu, ein Wesen aus Erotik und Laszivität, das sich nicht in die bürgerlichen Konventionen fügt. Ein Geschöpf aus dem Kopf Frank Wedekinds, der sich seinerseits schwer tat, einen Platz in der Gesellschaft zu finden und sich zeitlebens an der Moral des wilhelminischen Zeitalters aufrieb.

    Der Dichter, Schauspieler und Kabarettist Frank Wedekind zerstritt sich mit fast jedem seiner Weggefährten, mit den Kollegen ebenso wie mit den Theaterleitern und Verlegern, von denen er sich stets übervorteilt fühlte. In einem Brief an seine Ehefrau Tilly berichtete er von seinem Rachefeldzug gegen Verleger Bruno Cassirer in Berlin:

    "Als ich ihn zur Rede stellte, warum er die Fragen in meinen Briefen nicht beantwortete, drohte er sofort, mich durch seine Leute hinauswerfen zu lassen, und hatte auch schon auf den elektrischen Klingelknopf gedrückt. Darauf riss mir die Geduld. Ich versetzte ihm ein paar Ohrfeigen. Er zog sich zur Tür zurück und zwei seiner Leute traten ein. Er hetzte sie wie Hunde auf mich, aber es hat mich niemand angerührt. Ich zog ruhig meinen Rock an und nahm Hut und Stock und ging."

    Frank Wedekind war 22 Jahre älter als seine Frau und litt an Eifersucht sowie an Angst davor, ihr sexuell nicht zu genügen. Als "Biographie intime" ist Anatol Regniers Lebensbeschreibung umfassend, von den Pariser Eskapaden des jungen Wedekind bis zum Schicksal seiner unehelichen Söhne. Dem Buch fehlt jedoch die analytische Dimension, die vom Leben her auch das Werk erhellen würde. Noch weniger wird dieses in die Kulturgeschichte eingebettet, so dass Wedekind als einsames Genie und literaturhistorischer Solitär erscheint. Aber auch wenn er sich selbst so sah - er war es natürlich nicht, wenn man bedenkt, dass er Zeitgenosse von Freud, Gerhart Hauptmann oder August Strindberg war.

    Anatol Regnier ist der Sohn von Anna Pamela, einer der beiden ehelichen Töchter Wedekinds. Seine Biographie über den Großvater beginnt als Familiengeschichte, sie liest sich leicht und streckenweise auch amüsant. Etwa bei den Versuchen des jungen Frank Wedekind, als Reklamechef in der Firma Julius Maggi in Zürich Fuß zu fassen mit Versen wie diesen:

    "Vater, mein Vater!
    Ich werde nicht Soldat,
    Dieweil man bei der Infantrie
    Nicht Maggi-Suppen hat."

    Frank Wedekinds Eltern lernten sich in Kalifornien kennen und kehrten 1864 nach Deutschland zurück, wo im Juli in Hannover ihr zweiter Sohn Benjamin Franklin geboren wurde. 1872 kaufte der Vater das Schloss Lenzburg in der Schweiz, wo es eiskalt war und das Wasser mühselig herangeschleppt werden musste. Dort kapselte er sich immer mehr ab von der Außenwelt. Auch sein Verhältnis zur Familie war schwierig, besonders zu Sohn Frank, der mit beiden Elternteilen in eine heftige Hassliebe verstrickt war.
    In "Frühlings Erwachen" schilderte Wedekind, wie Heranwachsende zerbrechen können unter den Anforderungen der Erwachsenen, allein gelassen mit ihren Ängsten und dem erwachenden Sexualtrieb. Auch er bekam von zuhause wenig familiäre Wärme mit und musste in der Kantonsschule Aarau erleben, wie ein Mitschüler sich umbrachte.

    Lange Jahre schrieb Frank Wedekind ohne Erfolg. Aus der Not heraus wurde er Kabarettist bei den "Elf Scharfrichtern" und Mitarbeiter der Satirezeitschrift Simplicissimus. Ein Spottgedicht dort brachte ihm sieben Monate Festungshaft ein, denn er wagte es, sich über Kaiser Wilhelms Palästinareise lustig zu machen:

    " ... lass dir unsre tiefste Ehrfurcht weihn,
    Der du die Schmach vom Heil'gen Land genommen,
    Von dir bisher noch nicht besucht zu sein."

    Seinen Durchbruch als Dramatiker verdankte Wedekind dem Regisseur Max Reinhardt. Der inszenierte 1902 "Erdgeist" mit Gertrud Eysoldt als Lulu und brachte 1906 "Frühlings Erwachen" auf die Bühne. Im gleichen Jahr heiratete Frank Wedekind die Schauspielerin Tilly Mewes. Der Skandalautor konnte sich endlich eine bürgerliche Existenz leisten und war die materiellen Sorgen los. Aber da hatte sich das Selbstbild des unglücklichen Autors als verkannter, verfemter und stets ungerecht behandelter Künstler bereits so verfestigt, dass er den Erfolg gar nicht mehr genießen konnte. Das ist vielleicht das Erschütternste dieser "Männertragödie": Frank Wedekind war erfolgreich als Kabarettist, als Liederschreiber, als Dramatiker und als Schauspieler; er prägte eine ganze Generation, aber er wütete bis zu seinem Tod im März 1918 gegen sein Schicksal und die Welt.

    Anatol Regniers Biographie ist auch theatergeschichtlich interessant. Frank Wedekind hat oft die Hauptrollen in seinen Dramen gespielt, zunächst, um sie überhaupt auf die Bühne zu bringen, später, weil man gerade ihn sehen wollte. Da aber seine Stücke stark autobiographisch geprägt sind, ergaben diese Auftritte einen zwar authentischen, aber auch exhibitionistischen Effekt, der von Publikum sensationslüstern aufgenommen wurde. So stand im Oktober 1910 in der Vossischen Zeitung über ein Berliner Gastspiel der Wedekinds mit dem Ehedrama "Zensur" zu lesen:

    "Es ist eine große Konfession mit noch größeren Indiskretionen, vergrößert dadurch, dass Herr und Frau Wedekind selbst das Liebespaar spielen. ... Sophokles, Shakespeare und Molière sind allerdings auch in ihren eigenen Stücken aufgetreten, aber sie haben die Bühnen nicht als Beichtstuhl benutzt, um sich leibhaftig vor dem Publikum zu erleichtern."

    Dass Ehefrau Tilly oft mitspielte hatte einen Grund: mit fremden Regisseuren und Partnern ließ Wedekind sie nicht arbeiten!

    Vorgestellt wurde:

    Anatol Regnier: "Frank Wedekind. Eine Männertragödie", Albrecht Knaus Verlag, München 2008, 464 S., 22,95 Euro.