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Das Leben einer fast vergessenen Lyrikerin

Am 27. Januar wird der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Millionen Menschen wurden unter dem Regime gequält, entrechtet, ermordet. Eine von ihnen war die jüdische Hörfunk- und Kinderbuchautorin Ilse Weber. Sie starb 1944 in Auschwitz. Die Historikerin Ulrike Migdal hat sich jetzt mit ihrem Leben und Werk befasst.

Von Jochanan Shelliem | 26.01.2009
    Ermordet wurde Ilse Weber - wie der Kinderarzt Janusz Korczak - mit den von ihr betreuten Kindern in einer Gaskammer in Auschwitz - Birkenau. Ein Freund berichtet 1999 ihrem Sohn Hanus von dem Tag, an dem er Ilse Weber zum letzten Male begegnete.

    Irgendwann im Herbst 1944 sah ich eine Gruppe von zehn oder fünfzehn Kindern aus einem Transport, der gerade angekommen war. Ilse stand mitten unter ihnen und versuchte, die Kleinen zu trösten. Uns war es unter keinen Umständen erlaubt, mit den Wartenden Kontakt aufzunehmen, doch da die nächsten Wachtposten zufällig ziemlich weit weg standen, ging ich zu Ilse hinüber, die mich sofort erkannte.

    Hanus Weber wird Ulrike Migdal fast fünfzig Jahre nach der Ermordung Ilse Webers von diesen letzten Stunden seiner Mutter erzählen. Und die Herausgeberin fügt dem Band einen packenden Essay über ihre Recherchen und die Aussagen von Freunden der Hörfunk- und Kinderbuchautorin Ilse Weber bei.

    "Stimmt es, dass wir duschen dürfen nach der Reise?" fragte sie. Ich wollte nicht lügen und so antwortete ich: "Nein, das hier ist kein Duschraum, es ist eine Gaskammer, und ich gebe dir jetzt einen Rat. Ich habe euch oft singen hören in der Krankenstube. Geht so schnell wie möglich in die Kammer. Setz dich mit den Kindern auf den Boden und fangt an zu singen. Sing was du immer mit ihnen gesungen hast. So atmet ihr das Gas schneller ein. Sonst werdet ihr von den anderen zu Tode getreten, wenn Panik ausbricht." Ilses Reaktion war seltsam. Sie lachte irgendwie abwesend, umarmte eines der Kinder und sagte: "Also werden wir nicht duschen."

    "Wann wohl das Leid ein Ende hat" - die Historikerin Ulrike Migdal hat die Lebensgeschichte dieser jungen starken Autorin recherchiert und die Briefe und Gedichte, die Ilse Weber im Konzentrationslager Theresienstadt vor ihrer Ermordung in Auschwitz schrieb, dokumentiert.

    "Ilse Weber wurde in Witkowicz, das war eine kleine Stadt bei Mährisch Ostrau im Jahr 1903 geboren. Sie begann schon als Teenager, Gedichte zu schreiben. Das empfand sie ganz früh als ihre Bestimmung. Sie suchte auch sehr früh den Kontakt zu Brieffreundinnen im In- und Ausland, weit über die Grenzen der Tschechoslowakei hinaus."

    Was den Band so besonders macht, ist die Geschichte der Recherchen und die Zeitspanne, über die berichtet wird. Erst 32 Jahre nach dem Krieg finden sich die Briefe Ilse Webers an die schwedische Diplomatentochter Lilian von Löwenadler auf einem englischen Dachboden wieder, ihr Mann bringt sie dem Sohn von Ilse Weber nach Stockholm. Die Briefe dokumentieren das Leben der böhmisch-jüdischen Familie. Ulrike Migdal, die Herausgeberin:

    "Begonnen hatte das schon 1933, denn Ilse Weber war ein sehr wacher Mensch... seit ihrem 13. Lebensjahr.... Lilian von Löwenadler... schrieb sie über die ganzen Jahre Briefe, sie vertraute ihr familiäre Dinge an und .. in der Heimat und international... sie hat sofort gespürt, dass etwas bedrohliches im Anmarsch war, 1933. Es gibt Briefe, die direkt nach der Machtübernahme Hitlers, die davon sprechen. Zeigt den Grad der Wachheit, den sie an den Tag gelegt hat."

    Von den Schikanen der Behörden erzählt ihr Ilse Weber, vom Wegschauen der Nachbarn und dem Umgang ihrer Redakteure mit der jüdischen Autorin, die von ihren Hörszenen im Rundfunk lebt...

    Sage noch, das es mir an Abwechslung fehlt! Donnerstag hatte ich "Uraufführung" im Radio. Es spielte die "Schlesische Bühne", eine Gruppe reinrassiger Arier.

    1939 gelingt es Ilse Weber, Hanus, ihren älteren Sohn, nach England zu schicken, die Freundin Lilian nimmt ihn von dort nach Schweden mit, wo er nach Lilians frühem Tod im Hause ihrer Mutter, Getrude von Löwenadler, bis zum Ende des Krieges bleibt. Die Webers fliehen derweil nach Prag, im Februar 1942 werden sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Für Ilse Weber ist das Ende der täglichen Angst eine Erleichterung.

    "Sie war mit den Nerven vollkommen am Ende ehe sie dorthin deportiert wurden. Vor dem Verstecken und vor dem Gift des Antisemitismus, das nun schon so viele Jahre auf die Familie eingewirkt hat. Da schrieb sie in einem der Briefe an Lilian: "Ich bin innerlich wie tot, kein Gedicht gelingt mir mehr. Ich bin in den letzten beiden Jahren um hundert Jahre älter geworden und alle mit mir. Kaum kam sie aber nach Theresienstadt und sah das Massenelend dort, da ging in ihr eine unglaubliche Wandlung vor. Sie begann zu arbeiten, sie errichtete die Kinderkrankenstube. Sie begann Gedichte zu schreiben, in den Nächten übrigens, denn am Tage musste sie ja die Kinder pflegen. Und sie umgab sie mit einer wunderbare Musiktherapie, sodass, wie mir eine Überlebende sagte, es kaum unglücklichere Kinder gab, als die Gesunden, die die Krankenstube verlassen mussten."

    Keuchhustenkinder
    Dreißig Kinder dürfen täglich / auf die große Wiese wandern, / neidvoll, sehnsüchtig und kläglich / schauen ihnen nach die andern.
    Dreißig freuen sich an Bäumen / halten Blumen in den Händen, / sind entronnen dumpfen Räumen, / düsteren Kasernenwänden.
    Weiches Gras kann lind empfangen / ihre Körperchen, die müden, / und die Sonne küsst die Wangen, / denen sonst kein Strahl beschieden.
    Ziehn sie morgens auf die Wiese, / wünschen sehnsüchtig die anderen / doch so krank zu sein wie diese, / um ins Grüne auch zu wandern.


    "Sie schrieb Trostgesänge für die Kinder, um ihnen Hoffnung zu geben, um ihnen Lebensfunken zu geben, aber ihre Gedichte zeigen eben auch den Schrecken und das Leben des Lageralltages also sie ist eine Zeitzeugin der Zwangsgemeinschaft Theresienstadt, die unter ständiger Todesdrohung stand. Sie gibt der Leidensgeschichte der Gefangenen eine Stimme, von denen sie ja auch eine war und aus den Gedichten, die oft mit Briefen verknüpft, beziehungsweise aus den Briefen, die oft von Überlebenden an Hanus Weber geschickt wurden, da zeigt sich immer wieder, welch existentielle Relevanz die Gedichte von Ilse Weber für die Gefangenen hatten."

    Als die SS nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich die gesamte Bevölkerung des tschechischen Dorfes Lidice ermordet, schreibt Ilse Weber ein Gedicht.

    Die Schafe von von Liditz
    Flockige, gelbweiße Schafe trotten die Straße entlang. / Zwei Hirtinnen folgen der Herde, durch die Dämmerung tönt ihr Gesang. / Es ist ein Bild voller Frieden und doch bleibst du, Eilender, stehn, / als fühltest du Hauch allen Todes grausig vorübergehn. / Flockige, gelbweiße Schafe, sie sind der Heimat so fern, / verbrannt sind ihre Ställe getötet sind ihre Herrn.


    Die Verse rufen nicht nur die Gestapo sondern auch Adolf Eichmann persönlich auf den Plan. Trotz Razzien, trotz Verhören, keiner der Gefangenen verrät die Verfasserin. Das Gedicht wird herausgeschmuggelt. Als Ilses Ehemann Willi Weber "in den Osten" deportiert werden soll - ein Synonym für die Vernichtungslager - versteckt er die Gedichte seiner Frau. Die Gelegenheit dazu bietet ihm seine Arbeit in Theresienstadt als Gärtner. Er baut mit an der Kulisse des NS-Propagandafilms "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt".

    "Er war während dieser so genannten Verschönerung, die stattfand eben, bevor das Lager der Öffentlichkeit gezeigt werden sollte und gefilmt werden sollte, er war Gärtner und hatte also Zugang zu bestimmten Außenbereichen, noch innerhalb der Mauer, aber zu bestimmten entlegeneren Bereichen und auch zu einem Geräteschuppen und dort mauerte er ein Grab für die Gedichte dieser Frau. Er band auch in diesen Sack in dem er die etwa 60 Gedichte seiner Frau eingab auch Noten und einige Zeichnungen aus Theresienstadt ein. Er hoffte einfach darauf, dass er nach der Befreiung dieses Versteck wieder finden würde."

    Vor der Befreiung des KZ Auschwitz schickt die SS die Überlebenden auf einen Todesmarsch nach Westen. Bei Gleiwitz kann Willi Weber fliehen. Er schließt sich tschechischen Truppen an und kann in Begleitung eines Majors der Svoboda Armee das Versteck der Gedichte seiner Frau wieder finden. Fünfundvierzig Jahre später arbeitet die deutsche Historikerin Ulrike Migdal in der Erinnerungsstätte Yad Vashem an einer Dokumentation über das künstlerische Schaffen der Internierten von Theresienstadt. In ihrem Buch dokumentiert sie ein ergreifendes anscheinend anonymes Gedicht, sein Titel: Brief an mein Kind .

    "Und ein Jahr später erhielt ich aus Schweden einen Brief eines mir unbekannten Absenders, der offenbar dieses Buch dann gelesen hatte und der mir schrieb, die Verfasserin dieses Gedichtes ist meine in Auschwitz ermordete Mutter und ich bin der Sohn Hanus an den dieser Brief sich richtet."

    Es sind nicht allein die Dokumente, Briefe und Gedichte, die dieses Buch so kostbar machen, sodass das Leben der fast vergessenen Lyrikerin in vielen Facetten sinnlich nachvollziehbar wird, es ist auch die Beschreibung des ambivalenten Umgangs von Willi und Hanus Weber mit ihren Traumata, die schmerzhaft bewusst werden lässt, wie viel Geschichte unter den Trümmern des Schweigens der Überlebenden auch heute noch zu finden ist.

    Jochanan Shelliem über das Buch "Ilse Weber. Wann wohl das Leid ein Ende hat. Briefe und Gedichte aus Theresienstadt". Ulrike Migdal hat die Dokumentation über das Leben der jüdischen Autorin Ilse Weber herausgegeben. Sie ist bei Hanser erschienen, kostet 21,50 Euro und hat 352 Seiten.

    Zur Information:
    - Ilse Weber, 1903 in Mährisch-Ostrau geboren, war eine bekannte Kinderbuchautorin. 1944 wurde sie in Auschwitz ermordet. Eines ihrer Theresienstädter Lieder wurde am 27. Januar 2008 bei der Gedenkfeier im Bundestag vorgetragen, die Sängerin Anne Sofie von Otter bereitet eine Europatournee mit Liedern von Ilse Weber vor.

    - Die Herausgeberin Ulrike Migdal hat Essays, Hörspiele, Features, Lyrik und Theaterstücke veröffentlicht, sowie das Buch Und die Musik spielt dazu - Chansons und Satiren aus dem KZ Theresienstadt, 1986