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"Das Leben ist etwas, das man selbst in die Hand nehmen muss"

Dieter Wellershoff hat sein Schreiben als Romancier und Erzähler von Beginn an auch mit theoretischen Arbeiten begleitet. Schreiben sei "ein Gang ins Ungebahnte", meinte er, Literatur der "extensiven und intensiven Unausschöpfbarkeit des menschlichen Lebens" verpflichtet.

Von Christian Linder | 03.11.2010
    Im Bekannten "etwas Fremdes, Unvorhersehbares" erscheinen zu lassen, das unsere Wahrnehmung des Lebens erneuere – darum ist es ihm stets gegangen. Hören Sie ein Kalenderblatt zu Dieter Wellershoffs 85. Geburtstag von Christian Linder.

    "Alles schwebt in der Luft / vor allem ich selbst / und wenn ich mich sehe / kann es jemand anderes sein / jemand der aufgestanden ist / nach einer Krankheit / und etwas vergessen hat / erstaunt hier zu sein/ und nichts zu fehlen scheint / außer jenem alten Gefühl der Schwere"

    Dieser Anfang eines Gedichts von Dieter Wellershoff korrespondiert mit der Feststellung, dass seine Geburt am 3. November 1925 in Neuss am Rhein das fremdeste und zufälligste Geschehen war. Von hier aus ist es nicht weit zu einem von Wellershoffs Lieblingszitaten, es stammt von John Cage:

    "Wenn wir die Welt von unseren Schultern nehmen, erleben wir, dass sie nicht fällt."

    In solchen Erkenntnis-Momenten kann man aber auch an den Rand seiner Gewissheiten geraten:

    "Dass man aus der vermeintlichen Sicherheit, den sozialen Prägungen, den menschlichen Verbindungen, die man hat, herausrutscht und auf einmal etwas sieht, dass hinter dem Schein des Bescheidwissens verborgen ist, die Fremdheit der Welt. Die Welt scheint plötzlich für sich da zu sein, nicht für einen selbst gemacht, man selbst ist ein Fund- und Fremdstück in dieser Welt."

    Der Welt ihre ursprüngliche Fremdheit und Dichte zurückzugeben, indem man schreibend und lesend seine unbewussten Fantasien ausagiert – so hat Dieter Wellershoff Literatur stets aufgefasst und sie auch theoretisch erklärt. Dahinter steht der Wunsch nach Vervollständigung des Lebens, denn obwohl alles als ein Zufall angefangen hat, musste man nun einen Sinn hineinbringen:

    "Das Leben ist etwas, das man selbst in die Hand nehmen muss, sich selbst definieren muss, seine eigene Notwendigkeit finden muss."

    Das Leben so gesehen als Projekt und eigenen Entwurf, gelebt in der Erkenntnis, dass nicht ein Über-Ich-Leben wichtig ist, sondern das Leben gerade darin besteht, das man immer auch konkret leben muss - davon hat Dieter Wellershoff in seinen Büchern, Romanen wie "Die Schattengrenze", "Die Schönheit des Schimpansen" oder "Der Himmel ist kein Ort", in Erzählungsbänden wie "Das normale Leben" wie auch in seinen Hörspielen und Essays erzählt. Indem seine Personen sich der Kontrolle der anderen zu entziehen versuchen und sich auf innere und äußere Krisensituationen einlassen, werden sie aber immer auch vom Chaos bedroht. In diesem Bereich, wo unsere Welt gesellschaftlich nicht kontrolliert, überformt und auf Lösungen hin durchdacht ist, sondern noch durch Vulkanisches geprägt ist, hat Wellershoff seine Arbeit angesiedelt, fasziniert von jenem poetischen Grenzbereich, in dem nach dem antiken Mythos der Gesang der Sirenen ertönt. Die Macht ihres Gesangs lag dabei in seiner Mangelhaftigkeit und Unvollständigkeit begründet. Denn vielleicht, schrieb Wellershoff,

    "war es ja nichts anderes als ein Windgeräusch oder sogar die Stille auf einem windlosen Meer, was die Phantasie der Seeleute dazu verlockte, von den abgründigen Geheimnissen des Lebens zu träumen."

    "Die Stille ist der Raum. Der unendliche Raum, der keine Richtung hat. / Die Stille ist das Auge des Raums. / Die Ausdehnung des Raums, das Strahlen des Raums, das / Verschlingen des Raums./ Die Stille ist die Zeit. Die Stille ist das Vergehen / der Zeit."


    In seinem Buch "Die Arbeit des Lebens" hat Dieter Wellershoff ruhig, mit souveränem Blick sich sein Leben noch einmal vor Augen geführt, etwa seine Auseinandersetzung mit Gottfried Benn, über den er promovierte und dessen Gesammelte Werke er später herausgab, oder seine Arbeit als Lektor im Verlag Kiepenheuer & Witsch, bis er sich entschloss, freier Schriftsteller zu werden. In diesem Buch schreibt nicht jemand, der über den Dingen steht, sondern sich den Dingen und Menschen, auch den Toten, frei gegenüberstellen möchte. Die einfachsten Dinge, alltägliche Ereignisse wie aus dem Fenster schauen oder spazieren gehen geraten ihm in diesem Sinne zu einer poetischen Wahrnehmung der Welt, wie in seinem Buch "Blick auf einen fernen Berg":

    "Ich mag die kürzer werdenden Tage mit der früh einbrechenden Dunkelheit und das künstliche Licht in den Häusern, das einen langen Abend verspricht. Drinnen und Draußen, Geborgenheit und die offene Weite des Nachttraums sind nun schärfer getrennt. Und tief in der Nacht, wenn nur noch hier und da ein Fenster erleuchtet ist, erscheint einem die bewohnte Menschenwelt wieder als das, was sie ursprünglich war: eine umhegte Insel, umgeben von Dunkelheit und einer unheimlichen kosmischen Stille."