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Das Leben vom Tod her

So anschaulich Alberto Dines zahlreiche Episoden aus Stefan Zweigs Leben um das Kraftzentrum der Brasilien-Erfahrung des Schriftstellers anlegt und damit den ganzen Zweig porträtiert, so stark sind auch die Fliehkräfte dieses mit über 700 eng bedruckten Seiten voluminösen Epochenporträts "Tod im Paradies". Die Spannkraft geht nicht selten verloren.

Von Christoph Schmitz | 19.04.2007
    Alberto Dines erzählt das Leben vom Tod her. Das Ende ist der Anfang und das Leitmotiv seiner Biografie über Stefan Zweig. Vom Suizid des österreichischen Schriftstellers 1942 aus im exotischen Paradies des ehemaligen königlichen Petrópolis bei Rio de Janeiro erhält die umfangreiche Lebensdarstellung ihren Spannungsbogen. Nicht dass der selbstgewählte Tod explizit eingewoben wäre in Dines' Lebensbildnis. Vielmehr ist es die Verwunderung des Biografen darüber, dass der berühmte Dichter gerade in dem Land seine Existenz beendete, wo er das "Land der Zukunft" wähnte. Denn als solches hatte Zweig in einer seiner letzten Publikationen Brasilien hymnisch gefeiert. Auch wenn Alberto Dines ein ganzes Leben in den Blick nimmt, so unterscheidet sich seine Biografie von anderen vor allem in einem Punkt.

    "Ich dachte es würde sich eine Biografie lohnen über Zweig in Brasilien. Aber man kann ein Leben natürlich nicht in Teile zerbrechen. Um zu erklären, was Zweig in Brasilien wollte, musste man sein Leben vor seiner Brasilienzeit erzählen. So kam es zur Gesamtbiografie. Ich glaube, der Angelpunkt meines Buches ist Brasilien, das Paradies. Stefan Zweig hat dieses Paradies mit seinem Buch 'Brasilien. Ein Land der Zukunft' erfunden, und er hat sich nach acht Monaten in diesem von ihm selbst erfundenen Paradies umgebracht."

    Der 75-jährige Alberto Dines, ein angesehener Journalist in Brasilien, Medienkritiker und Präsident der Gesellschaft "Casa Stefan Zweig", hat aber nicht nur über Brasilien seinen Zugang zu Zweig gefunden, sondern auch als Sohn einer gläubigen jüdischen Familie aus Rio de Janeiro, der später nicht mehr gläubig sein wollte und sich wie Stefan Zweig selbst als "Juden aus Zufall" hätte bezeichnen können.

    "Eigentlich hat Stefan Zweig mich entdeckt, zufälligerweise. Denn 1940 besuchte er meine Schule in Rio de Janeiro, wo wir auf Jiddisch und Portugiesisch unterrichtet wurden. Es war keine zionistische Schule, sondern eine von der jüdischen Linken, sehr progressiv.

    Stefan Zweig besuchte uns mit seiner Frau Lotte. Doch obwohl ich erst acht Jahre alt war, kannte ich Stefan Zweig bereits. Denn vier Jahre zuvor, als er 1936 zum ersten Mal nach Brasilien gekommen war, hatte mein Vater, der die jüdische Gemeinde von Rio leitete, eine Begegnung mit ihm und hat dabei eine Fotografie mit Signatur und Widmung an meinen Vater Israel Dines erhalten, und diese Fotografie hing im Büro meines Vaters. In meiner Jugend habe ich dann Stefan Zweig zu lesen begonnen, vor allem die Biografien.

    Später als Journalist, als ich mich mit Politik zu beschäftigen begann - wir lebten ja Ende der 60er Jahre in einer Militärdiktatur -, da sah ich, dass es Ähnlichkeiten gab zwischen dem Regime von Getulio Varga, das Zweig kennenlernte, und der Diktatur, in der wir lebten. So kam ich darauf, an Stefan Zweig und seine Zeit in Brasilien zu erinnern."

    So beginnt Diness Biografie, deren viel kürze brasilianische Erstausgabe bereits in den 80er Jahren erschien, konsequenterweise mit Zweigs Ankunft am 31. August 1936 im Hafen von Rio de Janeiro an der Praca Mauá. Erzählerisch schildert Dines die Details der ersten Minuten, die Hitze, das Anlegen des Postdampfers "Alcantara", die drängenden Reporter, wie der Autor der Novelle "Der Amokläufer", einer Verwirrung der Gefühle, als "Sanftmut in Person" auftritt und die Klatschpresse ihn beschreibt als "elegant, gepflegt, mit sanfter Melancholie im dunklen Blick" und einer "damenhaften Sekretärin" an der Seite, Zweigs Geliebte und spätere zweite Frau Charlotte Altmann. Was Dines besonders gut gelingt und was sein Buch auszeichnet, das sind diese lebendigen Skizzen von Atmosphäre und Milieu, worauf es gerade bei Zweig besonders ankommt, auch wegen des sich an der Praca Mauá anbahnenden Missverständnisses:

    "Als Zweig das erste Mal Brasilien erreichte, 1936, kam er gerade aus einer großen persönlichen Krise. Da gab es jene Episode mit Richard Strauss, mit dem er für die Oper 'Die schweigsame Frau' zusammengearbeitet hatte. Strauss galt als Nazi, und Zweigs Freunde verstanden nicht, warum er mit diesem Komponisten zusammenarbeitete; dazu kam die Trennung von seiner ersten Frau-. Er lebte in London und hatte ein Verhältnis mit seiner Sekretärin, all das hat ihn geschwächt. In diesem Zustand erhielt er eine Einladung nach Brasilien, und dort wurde ihm der rote Teppich ausgerollt. Es war ein wahrer Triumphzug. Das hat ihm so gut getan, dass er seine persönlichen Dramen vergessen konnte. Die zehn Tage, die er in Brasilien verbrachte, in denen er fünf, sechs schwärmerische Briefe an seine erste Frau Friderike von Winternitz schickte, waren für ihn eine Art Ego-Massage. Er fühlte sich rundherum wohl und wollte eines Tages nach Brasilien zurückkehren."

    Alberto Dines erzählt, wie Zweig die brasilianische Wirklichkeit nur von ihrer freundlichen Seite sieht. Das diktatorische Regime Vargas, die Armut, die Rassentrennung, die rigorose Politik gegenüber den Flüchtlingen aus Deutschland und Europa nimmt er nicht wahr.

    "Was ich entdeckt habe, war eine extrem faszinierende Person, ein berühmter Mann, vielleicht einer der international berühmtesten Schriftsteller jener Zeit, doch zugleich eine sehr schwache Person. Und genau das hat ihn nach Brasilien geführt. So kann man keine Biografie über Stefan Zweig schreiben, ohne zu verstehen, was er in Brasilien gesucht hat, warum er nach Brasilien gegangen ist. Es war seine innere Schwäche."

    Brasilien als psychografischer Lakmustest. Zu der inneren Schwäche gesellten sich neben Sanftmut auch andere Eigenschaften, wie Dines zeigt, die in Brasilien ihre Entsprechungen fanden.

    "Stefan Zweig hat in der brasilianischen Seele diese Sanftheit entdeckt. Aber er gehört zu den wenigen unter den Beobachtern des brasilianischen Lebens, die erkannt haben, dass die Menschen in diesem Land auch traurig sind. Diese Traurigkeit hat Zweig angesprochen. Er hätte sich Brasilien nie als gewaltsames Land vorstellen können. Wenn er heute nach Brasilien käme, würde er ein zweites Mal hier sterben oder sich umbringen. Er betrachtete Brasilien als ein anmutiges Wesen."

    So fand Zweig in Brasilien auch sein ideales Publikum, seinen idealen Leser, eine Art von Leser, die Kurt Tucholsky beschrieb als einen weiblichen Typus, Zitat, "nicht mehr furchtbar jung, ganz allein und schwarzhaarig", "feingebildete Bücher" lesend, "ich will es kurz beschreiben: Sie gehört zum Publikum Stefan Zweigs. Alles gesagt? Alles gesagt!". Als "repräsentativer Schmuser der europäischen Kultur" wurde Zweig von Karl Kraus geschmäht, die "Palme der Minderwertigkeit" wollten die Großschriftsteller der Familie Mann ihm verleihen. Brasilien aber war gegenüber Zweig skepsisfrei.

    "In Brasilien wurde er ganz besonders gelesen, vor allem von Frauen. Er war ein Schriftsteller, der zur weiblichen Seele sprechen konnte. Als Biograf machte er ein Land, das nicht sehr gebildet war, mit Persönlichkeiten bekannt, von denen man nicht all zu viel wusste wie Erasmus von Rotterdam, Marie Antoinette, Joseph Fouché. Diese Biografien waren für unsere Mittelschicht ein Bildungserlebnis. Seine Freud-Biografie wurde kurz nach der deutschsprachigen Erstausgabe auch in Brasilien veröffentlicht. So brachte er die neue Welt aus der alten nach Brasilien, und das in einer sehr einfachen Sprache, einer sehr direkten Erzählweise. Darum wurde er so freundlich empfangen."

    So anschaulich Dines zahlreiche Episoden aus Zweigs Leben um das Kraftzentrum der Brasilien-Erfahrung des Schriftstellers anlegt und damit den ganzen Zweig porträtiert, so stark sind aber auch die Fliehkräfte dieses mit über 700 eng bedruckten Seiten voluminösen Epochenporträts. Die Spannkraft geht nicht selten verloren, die deutsche Übersetzung der dritten brasilianischen Ausgabe hätte um ein halbes Pfund abgespeckt werden können, der Ton ist mitunter etwas zu erhaben und die Darstellungen der epochalen Geistesströmungen oft zu allgemein. Außerdem lässt Dines einen nicht unwichtigen Aspekt außen vor, die literarische Qualität.

    "Seinen literarischen Stil mag ich nicht besonders. Die narrative Bauweise seiner fiktionalen Werke ist nicht die beste, was aber nicht verhindert, dass ich ihn als Person mag."

    Eine Person, die der menschlichen Psyche auf den Grund zu gehen vermochte, ein Humanist und Pazifist auf der Suche nach dem guten Grund des Menschen, was offensichtlich abfärbt.

    "Beim Schreiben der Zweig-Biografie wurde mir klar, dass die Kunst der Biografie darin besteht, den Wert der Menschheit wiederzuentdecken. Die Biografie eines Biografen zu schreiben, ist schon ein sehr eigenartiges Spiel mit Spiegeln, das mich zum Verständnis der biografischen Kunst geführt hat. Hier gibt es eine Form, die zum Verständnis vom Wesen des Menschen führt."


    Alberto Dines: Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig
    Aus dem Portugiesischen von Marlen Eckl
    Edition Büchergilde, 725 Seiten