Archiv


Das Libretto des Goldschmieds

Hector Berlioz war der erste Komponist, der das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft zum Thema einer Oper machte. Zahllose so geannte "Künstlerpern" sollten "Benvenuto Cellini" folgen. Die neuartige Mixtur aus Komödie und Drama enthält dabei zweifellos autobiographische Elemente.

Von Ingo Dorfmüller |
    Morgen endet die Fastenzeit - die folgende Szene versetzt uns noch einmal an ihren Beginn zurück. Wir befinden uns im Rom des Jahres 1532, der Karneval hat mit dem Abend des sogenannten "Fetten Dienstags" seinen Höhepunkt erreicht. Im Getümmel der Masken kommt es zu einer folgenschweren Auseinandersetzung, bei der einer der Beteiligten tödlich getroffen wird. In diesem Augenblick verkünden Kanonenschüsse von der Engelsburg den Beginn des Aschermittwochs. Im allgemeinen Aufbruch kann der Täter entkommen.

    Das Finale des ersten Aktes markiert den dramatischen Wendepunkt in der Handlung des "Benvenuto Cellini". Hatten wir die Titelfigur bis dahin in den typischen Situationen einer farcenhaft überdrehten "Opéra comique" erlebt, so entwickelt sich das Geschehen nun zum ernsthaften Künstlerdrama. Berlioz hatte bei einem Italien-Aufenthalt die Autobiographie des großen Bildhauers und Goldschmieds der Renaissance gelesen und daraus ein Libretto entwickelt, das zwar einzelne Episoden des Buches aufgreift, ansonsten aber mit den historischen Fakten sehr freizügig verfährt. Die Handlung wurde von Florenz nach Rom, an den päpstlichen Hof, verlegt. Cellini liebt Teresa, die renitente Tochter des päpstlichen Schatzmeisters Balducci, die dieser aber Cellinis Konkurrenten Fieramosca versprochen hat. Teresa und Cellini verabreden eine Entführung im Maskentreiben des Karnevals, der Plan wird aber von Fieramosca vereitelt. Dabei kommt es zu dem Kampf, in dessen Verlauf Cellini einen Begleiter Fieramoscas in Notwehr ersticht - diese Szene konnten Sie eben hören. Der Papst will Cellini daraufhin festnehmen lassen. Die Fertigstellung von Cellinis noch nicht gegossener Perseus-Statue würde dann einer seiner Konkurrenten übernehmen. Cellini verteidigt sein Werk auf die denkbar radikalste Weise: er nimmt den Hammer und droht, noch bevor die Häscher Hand an ihn legen können, das Modell der Statue zu zerstören. Der Künstler, der gegen die Indienstnahme durch die Mächtigen aufbegehrt und den unbedingten Anspruch auf Authentizität verteidigt: das ist der innere Kern des Werks.

    Der Rest ist schnell erzählt: Der Papst gewährt, was Cellini von ihm nun sehr unverblümt fordert - ausreichend Zeit für den Guss der Skulptur, keine weitere Untersuchung des nächtlichen Todesfalles und die Hand Teresas - doch nur unter der Bedingung, daß der noch für den selben Abend anberaumte Guss auch tatsächlich gelingt. Andernfalls droht Cellini die Todesstrafe. Der Künstler, in seiner Kunst auf Leben und Tod herausgefordert, obsiegt am Ende - um den Preis, seine früheren Meisterwerke opfern und für den Guss des neuen Werks einschmelzen zu müssen.

    Hector Berlioz war der erste Komponist, der die Positionsbestimmung des Künstlers in seinem Verhältnis zur Gesellschaft zum Thema einer Oper machte; zahllose sogenannte "Künstleropern" sollten ihr bis in unsere Gegenwart hinein folgen. Für Berlioz ist die Position des Künstlers nicht nur Paradigma für das Verhältnis von Individuum und Kollektiv: er versteht wahres Künstlertum ganz offenkundig auch als gesellschaftliche Avantgarde. Darum auch ist Cellinis Geliebte Teresa dem Künstler ebenbürtig: auch sie setzt sich über Vorurteile und Standesdünkel hinweg. Teresa ist ebenso Berlioz’ Erfindung, wie der Schatzmeister Balducci, ihr Vater, und Cellinis Konkurrent Fieramosca: diese beiden werden als Karikaturen reaktionären Spießertums schon in der Komödienhandlung des ersten Aktes dem Gelächter preisgegeben. Hier Laurent Naouri mit der Arie des Balducci aus dem ersten Akt.

    Verständigung mit den bornierten Vertretern der Bourgeoisie ist dem Künstler nicht möglich, denn die Bourgeoisie verlangt nach bloßer Affirmation der bestehenden Verhältnisse. Mit dem Herrscher hingegen kann der Aristokrat der Kunst sogar auf Augenhöhe verkehren: der Papst, wiewohl auch er die Kunst und ihren Schöpfer für sein Repräsentationsbedürfnis in Dienst zu nehmen sucht, versagt Cellini den Respekt nicht. Von seinen Arbeitern wiederum wird Cellini als einer der ihren anerkannt. Gleichwohl kommt es im zweiten Akt, kurz vor dem Guss der Statue, zu einem kleinen Aufstand. Ein Chor streikender Arbeiter, noch dazu beginnend mit dem flammenden Appell "Peuple ouvrier" - "Werktätiges Volk": das rief im Jahr der Uraufführung, 1838, die Zensur auf den Plan ...

    Schon im Vorfeld der Uraufführung mussten sich Libretto und Musik des "Benvenuto Cellini" zahllose Änderungen gefallen lassen: teils auf Druck der Zensur, teils auf Wunsch der Sänger oder der Direktion der "Opéra", teils aber auch aus besserer Einsicht, denn Berlioz mangelte es an praktischer Theatererfahrung. Doch der Komponist - darin seinem Titelhelden, mit dem er sich zweifellos identifizierte, ähnlich - war zu Kompromissen wenig geneigt: so hatte, was schließlich über die Bühne der "Opéra" ging, nicht viel Ähnlichkeit mit dem populären französischen Repertoire der Zeit. Es war eine ganz neuartige Mixtur aus Komödie und Drama, weder "Opéra comique" noch "Grand’Opéra", die traditionelle Balletteinlage fehlte, die Zurschaustellung sängerischer Kunstfertigkeit, die Berlioz vulgär fand, unterblieb, die Dominanz des Orchesters war ebenso ungewohnt, wie die Vielfalt an Formen, Texturen, ungewöhnlichen Klangeffekten und komplizierten Rhythmen.

    Spätere Versuche, angeregt durch eine Weimarer Wiederaufführung im Jahr1852 unter Franz Liszt bedienten sich einer zwar von Berlioz selbst verantworteten, doch vielfach gekürzten und geglätteten Version. Das Durcheinander der verschiedenen Versionen zu lichten und die Erstfassung vollständig zu rekonstruieren: das gelang erst der "Neuen Berlioz-Ausgabe" im Jahre 1996. So stand für die Neuaufnahme fast eine halbe Stunde mehr an Musik zur Verfügung, als noch für die bahnbrechende Einspielung unter Colin Davis im Jahr 1972. Auch die Neuaufnahme enthält einige kleinere Abweichungen von der Urfassung - sie sind im Booklet nachgewiesen. Dennoch: man kann das Werk endlich im vollen Umfang, in seiner ganzen, kompromisslosen Eigenart kennen lernen - und das allein ist schon ein Vergnügen, das die Veröffentlichung dieses Live-Mitschnitts von Radio France voll und ganz rechtfertigt. Zudem dirigiert John Nelson die beiden exzellenten, reaktionsschnellen Klangkörper - den Chor von Radio France und das Orchestre National - mit federndem rhythmischen Elan, bedenkt die feinen Instrumentationsdetails mit größter Sorgfalt, weiß aber auch machtvolle Steigerungen zu gestalten, und die von Berlioz so geliebten Schock-Kontraste voll auszumusizieren. Bewundernswert der punktgenau artikulierte Leichtsinn so mancher komischen Nummer:

    Hinzu kommt eine Sänger-Equipe, die nicht nur den zum Teil erheblichen gesanglichen Anforderungen zu entsprechen weiß, sondern auch, bis zu den kleineren Partien, mit hörbarer Lust scharf profilierte Charaktere vorstellt. In der wahrhaft kräftezehrenden Titelpartie ist der amerikanische Tenor Gregory Kunde zu hören: in der Mittellage manchmal leicht gepresst klingend, aber mit scheinbar unerschöpflichen Höhenreserven, vor allem aber mit einem schönen, bis zum Schluß nicht nachlassenden Enthusiasmus, der der Rolle wohl ansteht. Seine Partnerin Patrizia Ciofi zeichnet die Teresa mit im mittleren und tiefen Register apart verschattetem, in der Höhe aufleuchtendem Sopran. Beide verfügen zudem über hinreichend Beweglichkeit, um die hier und da angebrachten Verzierungen und Kadenzen elegant und flüssig vorzubringen. Gregory Kunde und Patrizia Ciofi mit einem Ausschnitt aus dem Liebesduett des ersten Aktes, der wohl bekanntesten Melodie des Stücks:

    Die Neuaufnahme von Hector Berlioz’ Oper "Benvenuto Cellini" unter der Leitung von John Nelson ist bei Virgin Classics erschienen.

    Diskografische Angaben
    Titel: Hector Berlioz: "Benvenuto Cellini"
    Chor: Chœur de Radio France
    Orchester:Orchestre National de France
    Leitung: John Nelson
    Label: Virgin Classics
    Labelcode:LC 7873
    Bestellnr.: 7243 5 45706 2 9