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Das literarische Phänomen Fanfiction

Als die Autorin Joanne K. Rowling bekannt gab, dass der siebte Band von Harry Potter auch der letzte sein wird, war der Aufschrei in der Fangemeinde groß. Doch viele von ihnen schreiben auf Internetportalen wie fanfiction.de die Geschichten um den Zauberlehrling weiter.

Von Nico Rau |
    Der Weltraum, unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2200. Dies sind die Abenteuer von Captain Kirk und Mister Spock, die sich auf der Kommandobrücke der Enterprise unsterblich ineinander verlieben.

    Willkommen in der Welt der Fanfiction. Wo die Fantasie des Autors der Originalvorlage aufhört, beginnt die Fantasie der Fans. In der Fernsehserie Raumschiff Enterprise beispielsweise wollen manche Anhänger einen homoerotischen Subtext in der Beziehung zwischen Kirk und Spock erkennen. Davon inspiriert schreiben sie sogenannte Slash-Stories. Slash bezeichnet romantisch- bis sexuell-aufgeladene Geschichten über gleichgeschlechtliche Charaktere, die Fans ihren Lieblingswerken entnehmen. Allgemein steckt hinter Fanfiction oft die Motivation, die emotionalen Beziehungen zwischen Charakteren tiefer zu ergründen. Zum Beispiel zwischen Harry Potter und seinem Gegenspieler.

    Draco: Ich bin Malfoy. Draco Malfoy. Du wirst sehen, einige Zaubererfamilien sind besser als andere, Potter. Und Du willst Dich doch bestimmt nicht mit der falschen Sorte abgeben. Ich kann Dir da behilflich sein. Harry: Danke ich entscheide selbst, wer zu falschen Sorte gehört.

    Auch Yasemin, 26, hat als Fanfiction-Autorin diesen Konflikt für sich weiter entwickelt.

    "Also bei mir ist es immer die Paarung, die den Reiz ausmacht. Also Harry und Drako, da knallt es so sehr, dass man erwartet, dass da auch irgendwas mehr sein muss. Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass einfach für immer und ewig zwei Leute Rivalen sind oder so."

    Manche Fans akzeptieren das Schicksal der Charaktere nicht, empfinden Nebenfiguren als vernachlässigt oder geben sich nicht damit zufrieden, dass ein Roman einfach endet. Auf zahllosen Internetportalen findet man deshalb über nahezu jedes Werk Fanfictions - egal ob Film, Serie, Roman oder Computerspiel. Von Kurzgeschichten bis hin zu ganzen Romanen. Doch was genau ist Fanfiction? Literatur? Yasemin sagt ganz klar ja.

    "Da wo die Fantasie des Autors aufhört, geht meine Fantasie weiter. Und ich oder die anderen Autoren, die es schreiben oder weiterdenken, wir erweitern ja die Welt und wir leben uns aus. Für uns endet die Geschichte nicht da, wo sie für andere enden, sondern es geht weiter."

    Auch für den Literaturwissenschaftler Rolf Füllmann ist Fanfiction durchaus ernst zu nehmen.

    "Es geht hier um Nachahmung von Wirklichkeit, es geht um eine künstlich erschaffene Quasiwelt und das ist es, was Literatur von anderen Formen des Erzählens unterscheidet. Also erfundene Figuren in einer Quasiwelt, ob das dann nun gute Literatur ist oder schlechte, das steht auf einem ganz anderen Blatt."

    Das Phänomen Fanfiction ist allerdings nicht neu. Schiller veröffentlichte im 18.Jahrhundert sein Romanfragment "Der Geisterseher" in mehreren Fortsetzungen in der Zeitschrift Thalia. Ein großer Publikumserfolg zu seiner Zeit. Doch Schiller ließ seine Lesergemeinde unbefriedigt zurück. Rolf Füllmann:

    "Irgendwann war Schiller dessen müde und deswegen ist dieser Konspirations- dieser Verschwörungsroman ein Fragment geblieben. Nun hat es einen Autor von Fantastik gegeben der Jahrhundertwende, das ist Hans Heinz Evers und der hat dann mit den Figuren Schillers die Geisterseher zu Ende geschrieben."

    Selbst zu Schillers Lebzeiten haben Autoren die Geschichten eigenmächtig weiter gesponnen, ohne dass Schiller sich daran gestört hätte. Anders lag der Fall bei Goethe:

    Und so ... fiel Johann ... das reiz ... und so fiel Werther das reizendste Schauspiel in die Augen, dass er je gesehen hatte ...

    Goethe offenbarte ein weniger entspanntes Verhältnis zur Fanfiction, als sein Bestseller "Die Leiden des jungen Werther" parodiert wurde, als "Freuden des jungen Werther", verfasst vom Aufklärungsschriftsteller Friedrich Nicolai. Rolf Füllmann:
    )
    "Dem war der Werther Goethes zu pessimistisch, zu Selbstmord affin und der hat das dann eben in der Hinsicht umgeschrieben, dass eben Albert dem Werther nur präparierte Pistolen zuschiebt, der Selbstmord ist nicht möglich, Werther überlebt mit einem kleinen Schock, kann Lotte heiraten und nach vielen Verwicklungen meistert er sein Leben."

    Goethe strafte Nicolai dafür mit einem lebenslangen literarischen Kleinkrieg und verfasste wutentbrannt Streitgedichte. Auch heute empören sich manche Autoren, wenn Fans mit ihren Charakteren neue Geschichten verfassen. Doch Yasemin findet, dass Fanfiction gerade für junge Menschen eine gute Möglichkeit darstellt, ihre Fantasie zu entwickeln.

    "Dass sie dann sagen, okay, ich habe jetzt meine eigene Idee und ich möchte meine eigene Story veröffentlichen. Und das, denke ich schon, dass das ein guter Grund ist, warum man Fanfiction nicht verbieten sollte."