Ein Kameramann als Co-Regisseur geistert durch diesen Abend. Milan Peschel hat für seine Inszenierung des "Mädchen Rosemarie" den Videokünstler Jan Speckenbach gewonnen, den er noch aus Berliner Volksbühnenzeiten kennt. Der Kameramann zeichnet alles auf und überträgt es live. Wobei aufzeichnen nicht wirklich das richtige Wort ist. Speckenbach verfilmt Peschels Inszenierung, während der Inszenierung. Genau genommen sehen wir also kein Theaterstück, sondern die Entstehung eines Films. Das hätte uns stutzig machen sollen, von Anfang an.
Wie auch die drehbare Bühnenbildskulptur, die auf der Rückseite komplett aus einer riesigen, gekrümmten Cinémascope Leinwand besteht. Darüber flackert eine pinkfarbene “24 Stunden” Leuchtschrift. Wie der Werbeslogan für ein Sex-Kino im Bahnhofsviertel sieht das aus.
Das Foyer des "Hotels Frankfurter Hof" ist auf der Vorderseite Detail verliebt nachgebaut. Mit großer Freitreppe, Nierentisch, Piano und Drehtür. Ein stilisiertes Abbild der 50er-Jahre - wie in einer Episode der Fernsehserie Mad Men. Das Set von Rosemaries Wohnung dagegen liegt außerhalb der Sichtweite der Zuschauer. Wir sehen es nur als Sex-Film, wenn sie es dort den mächtigen Wirtschaftsbossen der jungen Bundesrepublik besorgt. Zum Beispiel von hinten in der eingeschäumten Badewanne.
Wie eine Szene aus David Lynchs "Blue Velvet"
Der Kundenstamm von Rosemarie? Das ist eine hochkarätige und durch und durch korrupte Bande. Beim Blowjob übt der Industrie-Präsident eine seiner Sonntagsreden im Nachkriegsdeutschland. Demokratie, Freiheit, neue Zeiten - all das ist den westdeutschen Wirtschaftseliten natürlich völlig egal. Im ebenfalls nicht einsehbaren Hinterzimmer über dem Hotel-Foyer treffen sie sich. Wie eine Szene aus David Lynchs "Blue Velvet" sehen die Bilder aus, die der Kameramann überträgt. Wenn das vorgebliche Isoliermatten-Kartell dort oben hinter blauen Vorhängen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik plant.
Und Rosemarie? Juliane Fisch spielt die blonde Göre als eine junge Frau, die um jeden Preis an dieser korrupten Version des Wirtschaftswunders teilhaben will. Keine ausgebeutete Hure ist sie, sondern eine eiskalt kalkulierende Managerin. Die ihren Marktwert beständig neu taxiert. Erst liegt die Stunde mit ihr bei 500 DM, dann sind es schon 600 DM. Die Wirtschaftsbosse liegen ihr nackt zu Füssen. Ficken, blasen, Geld zählen - die Geschichte dreht sich um sich selbst, wie die Drehbühne.
Der große Bruch kommt zum Glück nach der Pause. Als Milan Peschel, der aufgrund einer Erkrankung im Ensemble die Rolle des Portiers selbst spielt, seine Schauspielerin plötzlich anfaucht, "so haben wir das nicht geprobt". Und das Treiben auf der Bühne plötzlich als das erkennbar wird, was es die ganze Zeit war: Ein Filmset. Das Filmset eben jenes tendenziösen Films von Rolf Thiele, dem 1958 zurecht eine äußerst einseitige Darstellung westdeutscher Verhältnisse vorgeworfen wurde.
"Ich wäre nicht die erste Hure, die einen Bundespräsidenten heiratet"
Über fünfzig Jahre später sind wir da schon weiter. Um sich zu verkaufen, musste der Film damals provozieren, erklärt Regisseur Peschel, der jetzt Regisseur Thiele spielt, bevor die Ebenen vollends verschwimmen. Juliane Fisch wieder zu Rosemarie Nitribitt wird, ihre Bilder auf der Leinwand erstrahlen und irgendwo auch noch eine Theater-Crew der Gegenwart mit der Kamera Rosemarie zu Leibe rückt. Die will inzwischen Präsidentin werden, "ich wäre nicht die erste Hure, die einen Bundespräsidenten heiratet", ruft sie, bevor sie vor allen Augen erwürgt wird. Ihr Mörder - ist der Kameramann. Und damit wir alle, die Rosemaries Schicksal seit Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Medien lustvoll verfolgen. Peschel zeigt das Mädchen Rosemarie als schillernden Medienmythos, der immer wieder neu instrumentalisiert - und verkauft wird. Und dessen Rezipienten das wahre Schicksal der Rosemarie Nitribitt inzwischen völlig egal ist.
Zum Schluss gucken alle auf die Leinwand, auf der Rosemarie auch nach ihrem Bühnentod für immer glänzt. Und applaudieren einer Frau, die nur noch aus Zelluloid und Pixeln besteht. Was war denn jetzt echt, in den letzten drei Stunden? Mit Peschels Abend verhält es sich tatsächlich wie mit den von ihm zitierten Filmen von David Lynch: Nach dem Aha-Effekt zum Schluss, will man sie unbedingt noch einmal sehen.