Die Redaktion, in der mich Simone Arous empfängt, erscheint für deutsche Verhältnisse winzig. Ein ehemaliger Handwerksbetrieb im Hinterhof, gerade mal fünf bescheidene Räume, vollgestellt mit Tischen, Stühlen, Computern und Regalen. Überall wuchern Papier- und Bücherberge. Gerade dieses "familiäre" Ambiente empfindet Simone Arous als besonders motivierend. So sei es möglich gewesen, für die November-Ausgabe des "Magazine littéraire" ein bereits fertiggestelltes Dossier zur Literatur des Mittelalters in nur acht Tagen durch ein 48seitiges Dossier über Günter Grass zu ersetzen: eine fundierte, vielstimmige, mit Fotos und Grass-Graphiken aufgelockerte Runduminformation zum neuen Literaturnobelpreisträger. Das werbefreie Dossier, dessen Thema die Titelseite bestimmt, ist der Lockvogel des "Magazine littéraire". Für den Frankfurter Journalisten Lothar Baier, der in den achtziger Jahren mit seinen beiden Essay-Bänden "Französische Zustände" und "Firma Frankreich" provozierende Töne anschlug, ist es eine wichtige Informationsquelle. Dazu der Essayist Lothat Bayer.
"Was ich schätze, von Zeit zu Zeit, ist, wenn´s mich halt interessiert vom Thema her, sind die Dossiers. Dann hat man ´ne Bibliographie des Autors, um den es da geht, oder manchmal ist es ja nicht nur ´n Autor, sondern es ist zum Beispiel, sagen wir mal, nordafrikanische Literatur. Das sind Sachen, über die man - hier zum Beispiel - sich sehr schwer informieren kann. Und da hab´ ich aus dem "Magazine littéraire" einfach schon sehr viele Hinweise entnommen, die ich woanders nicht bekommen habe. Und Simone Arous:
"Das Herzstück ist größer und größer geworden. Es ist ein ausgewachsenes, ein voluminöses Herzstück. Anfangs war das Dossier mehr eine Cover Story, irgendein Thema, das behandelt wurde. Dann hat es an Tiefe gewonnen. Wir versuchen, es so gut wie möglich auszustaffieren. Denn es ist in der Tat zum Dreh- und Angelpunkt der Zeitschrift geworden. Die literarische Aktualität, der Roman, die Meinungsdebatten, die Interviews mit Schriftstellern sind jedoch unentbehrlich."
Neben Akademikern, Lehrern und Studenten gehören, wie Simone Arous betont, auch viele Autodidakten zu den Abonnenten - passionierte Leser, die sich einen Überblick über Neuerscheinungen und Trends verschaffen wollen. Die Spezialisierung des "Magazine littéraire" reicht bis in die Werbung hinein, die - von wenigen Ausnahmen abgesehen - aus Verlagsanzeigen besteht. Für die wirtschaftliche Unabhängigkeit, die deutsche Beobachter so erstaunt, gibt es aber noch andere Gründe, wie Lothar Baier ausführt:
"Um den Erfolg von dem "Magazine littéraire" zu erklären, muß man natürlich schon ein bißchen auf die andere, auch geographisch andere Situation hinweisen. Wie ich weiß, ich kenn´ Leute aus der Redaktion, ist ein Großteil der Abonnenten, das sind Leute, die in der Provinz sitzen, in einer Provinz mit schlechten Buchhandlungen, schlecht sortierten Buchhandlungen, und die lesen auch nicht jede Woche die Literaturbeilage von "Le Monde". Aber einmal im Monat kommt das "Magazine littéraire". Also was weiß ich: Leute, die halt lesen, Lehrer oder auch andere, [...] die abonnieren das und haben dann das Gefühl, "ich bin so halbwegs auf dem Laufenden", man kann die Dinger ja mit ihren Dossiers dann auch aufheben und mal wieder nachlesen [...] Und in Deutschland ist es natürlich insofern anders, weil die - mit ´nem Land, was sehr viel mehr mit Großstädten übersät ist als Frankreich - die Leute dann eher das Gefühl haben, "ich kann mich ja sowieso aus der Zeitung oder im Buchladen selber informieren".
Vor den Kopf stößt das "Magazine littéraire" niemanden. Es ist eine Publikumszeitschrift der zahmen, der beschaulichen Töne. Man stellt die Stärken der vorgestellten Bücher und Autoren heraus, nicht ihre Schwächen. Simone Arous aus dem Redaktionsstab erklärt das so:
"Wir haben uns dazu entschieden, weil es so viel Bücher gibt, die herauskommen. Vielleicht ist das ein Irrtum, ich weiß es nicht. Für Polemiken fehlt uns letzten Endes der Platz, denn es gibt schon so viel Texte im "Magazine". Kämen noch mehr hinzu, wären wir übersättigt. Also haben wir uns entschieden, über Bücher zu sprechen, die wir verteidigen und nicht runtermachen wollen."
Parteiisch ist die Redaktion des "Magazine littéraire" nur in ihrer Vorauswahl. Leidenschaftliche Lobreden sucht man so vergeblich wie Verrisse. Auch dem Frankreich-Kenner Lothar Baier fehlt da das Salz in der Suppe: "Also, was die Rezensionen angeht, die da in dem "Magazine littéraire" drinstehen, da bin ich natürlich nicht so begeistert, aber das liegt nicht an dem "Magazine littéraire", sondern liegt daran irgendwie, daß ich von französischen Rezensionen in der Regel überhaupt nicht begeistert bin. Das ist irgendwie weder Fisch noch Fleisch häufig."
Schriftsteller und Literaturkritiker haben in Frankreich normalerweise einen Brotberuf. Meist arbeiten sie als Lehrer, Dozenten oder Professoren. Auch hier liegt wohl ein Grund für die akademische Beschaulichkeit der französischen Literaturkritik. Zu den wenigen Kritikern der herrschenden Kritiklosigkeit gehört der Romancier Luc Lang. Sein vierter, im Kunstmann Verlag gerade auf deutsch erschienener Roman "1600 Bäuche" ist im "Magazine littéraire" über den Klee gelobt worden. Luc Langs Unmut kann das freilich nicht bremsen:
"Das ist in erster Linie Gefälligkeitskritik, keine Kritik im eigentlichen Sinne. Wirkliche Kritiken gibt es heute in Frankreich kaum noch. Das Buch wird einem nacherzählt, dann folgt ein Autorititätsentscheid. Da wird einem gesagt, ob das gut oder schlecht ist, ohne daß man weiß warum. Denn die Kritik hat völlig demissioniert. Für mich ist das eher Werbung, die als Zeitungsartikel daherkommt, das heißt man begnügt sich mit einer Zusammenfassung des Buches. Das ist natürlich eine Katastrophe, weil die Leute dann über den Roman sprechen können, ohne ihn gelesen zu haben. Es gibt kein Argument, auf dem das Urteil fußt. Wenn das in Deutschland weiter der Fall ist, dann ist das sehr gut. In Frankreich macht man das leider nicht mehr, außer in ein paar Medien, zum Beispiel in "Les Inrockuptibles". Da gibt es noch Leute, die kritisieren, aber das findet sehr, sehr wenig Unterstützung."
Im geistigen Zentrum Frankreichs auf dem linken Ufer der Seine, das die Pariser Intellektuellen so gern ihr "Dorf" nennen, werden derzeit kaum radikale Töne angeschlagen. So bedient das "Magazine littéraire" in seiner wohlinformierten Beschaulichkeit besser denn je die Bedürfnisse des nicht erst seit gestern erlahmten literarischen Zeitgeistes. Man pickt sich die Rosinen aus dem Kuchen der Neuerscheinungen, den Rest regelt das Karussel der Literaturpreise, das immerhin 1850 Auszeichnungen bereithält. Die Streitkultur darbt derweil. So verwundert es nicht, daß Michel Houellebecq den Pariser Literaturbetrieb mit seinem Roman "Elementarteilchen" ein halbes Jahr auf Trab halten konnte. Ein paar Seitenhiebe gegen die "political correctness" und schon steht die französische Kritikergilde Kopf.
Das "Magazine littéraire" gilt in Frankreich als Institution. Seine Solidität ist nicht anzuzweifeln. Jedem, der sich hierzulande vor Beginn der Frühjahrs- und Herbstsaison mit den gesammelten Kritiker-Lob-Sprüchen in der deutschen Verlagswerbung konfrontiert sieht, dürfte es jedoch wie Schuppen von den Augen fallen. Denn das "Magazine littéraire" beweist, wie leicht, ja beinahe selbstverständlich die Literaturkritik auf Klappentextniveau absacken kann, wie leicht Literaturkritik und Literatur-PR ununterscheidbar werden.