Mittwoch, 24. April 2024

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Das Massaker von Katyn

Ein Lehrstück manipulierter Geschichtsschreibung führt uns der Politikwissenschaftler Victor Zaslavsky vor. Der Autor hat das Massaker von Katyn im Jahre 1940 neu aufgerollt und ist dabei auf einen Abgrund von politischem Verbrechen, diplomatischem Opportunismus und gigantischen Vertuschungsmanövern gestoßen. Norbert Seitz:

Am Mikrofon: Hermann Theißen | 26.11.2007
    Der den USA und Italien lehrende Exilrusse Victor Zaslawsky schildert die Offenlegung der Wahrheit über Katyn als eine zeitgeschichtliche Odyssee, die erst mit dem Fall der alten Sowjetunion im Dezember 1991 enden sollte.

    Begonnen hat sie nach dem Hitler-Stalin-Pakt im September 1939, als Molotow die "Deutsche Reichsregierung" für den Überfall auf Polen beglückwünschte. Gleichzeitig erhielt das sowjetische Militärkommando die Weisung, die polnischen Streitkräfte gefangen zu nehmen und die Offiziere zu vernichten.

    Am 5. März 1940 begründete der Volkskommissar für innere Angelegenheiten, Lawrenti Berija, in einem Brief an Stalin, wie auf Vorschlag des NKWD mit den inhaftierten Offizieren zu verfahren sei:

    In den Kriegsgefangenenlagern des NKWD der UDSSR und in den Gefängnissen der Westukraine und des westlichen Weißrusslands befindet sich derzeit eine große Anzahl ehemaliger Offiziere der polnischen Armee, ehemaliger Mitarbeiter der polnischen Polizei und der Geheimdienste, Mitglieder polnischer nationalistischer konterrevolutionärer Parteien und konterrevolutionärer Widerstandsorganisationen, Verräter und andere. Sie alle sind eingeschworene Feinde der Sowjetmacht, hasserfüllt gegen das sowjetische System. Die kriegsgefangenen Offiziere und Polizisten in den Lagern versuchen, ihre konterrevolutionären Aktivitäten fortzusetzen und antisowjetische Agitation zu betreiben. Sie alle warten nur darauf freizukommen, um sich aktiv am Kampf gegen die Sowjetunion zu beteiligen.

    Damit war das Todesurteil gesprochen über 25.700 polnische Offiziere und Kriegsgefangene, die im Wald von Katyn in der Region Smolensk per Genickschuss gemordet wurden.

    Mit bestürzender Klarheit arbeitet Zaslawsky heraus, wie sehr der Aufklärung des Verbrechens hernach die Tatsache diplomatisch im Wege stand, dass die Massengräber von deutschen Wehrmachtsangehörigen entdeckt wurden.
    Warum sollten auch die Regierungen der Westalliierten der Propaganda des gemeinsamen Feindes mehr Glauben schenken als den Lügen ihrer sowjetischen Kriegsgefährten?

    So maßregelte Präsident Roosevelt einen US-Diplomaten, der die Schuld der Sowjets für bewiesen hielt und damit an die Öffentlichkeit wollte:

    Ich wünsche es nicht nur nicht, ich verbiete Ihnen ausdrücklich, über einen Verbündeten irgendeine Information oder irgendeine Ansicht zu veröffentlichen, die während Ihrer Dienstzeit als Gesandter oder als Offizier der US-Marine zu Ihrer Kenntnis gelangt sein mag.
    Zaslawsky resümiert präzise, wie über ein halbes Jahrhundert alle Register gezogen wurden, um das Massaker von Katyn zu verschleiern. So klammerte man den Fall aus dem Verfahren der Nürnberger Prozesse aus, nachdem die sowjetischen Ankläger zunächst die angeklagten Naziverbrecher für die Untat hatten haftbar machen wollen.

    Und in der Ära Chruschtschow wurde trotz aller vorgeblichen Entstalinisierung an der Propagandalüge festgehalten, faschistische deutsche Invasoren hätten die gefangen genommenen polnischen Offiziere umgebracht.

    Hart geht der Autor am Ende auch mit Reformer Gorbatschow ins Gericht, der sich scheute, die nicht mehr zu leugnende Faktenlage wegen ihrer befürchteten öffentlichen Brisanz bekannt zu machen.

    Erst unter Boris Jelzin legte man das Dokument mit dem mörderischen Politbürobeschluss offen und entschuldigte sich offiziell beim polnischen Präsidenten Walesa.

    Dagegen herrscht unter Nachfolger Putin wieder die Tendenz, vom Kurs eines offenen Umgangs mit den historischen Fakten abzugehen und alles zu verschweigen, was einer neuerlichen Glorifizierung der Geschichte der Sowjetunion im Wege stehen könnte.

    Doch Victor Zaslavsky tut sich schwer damit, das immer noch unbegreifliche Verbrechen auch analytisch auf den Punkt zu bringen. Wofür steht das Massaker von Katyn? War es ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ein Massenmord? Muss man von einem Genozid im Sinne der Ausrottung einer ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppe ausgehen?

    Um diese politische Strategie des Stalinismus genauer zu untersuchen, haben sich Begriffe wie "Klassensäuberung". "Klassengenozid" oder "Klassizid" als brauchbar erwiesen. Ich habe in meinen Arbeiten stets den Terminus "Klassensäuberung" bevorzugt, um Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede zu dem geläufigeren Begriff der "ethnischen Säuberung" zu betonen. Die Klassensäuberung ist eine Strategie der planmäßigen und systematischen Vernichtung einer ganzen sozialen Klasse durch totalitäre Regime, deren grundlegende Ideologie der Marxismus-Leninismus ist.
    Sehr überzeugend wirken solche terminologischen Eingrenzungsversuche nicht. Zumal gegen die Annahme eines Völkermordes das allzu formale Argument ins Feld geführt wird, dass sich an den Exekutionen auch polnische Kollaborateure beteiligt und sich die Repressionen im Unterschied zum Holocaust der Nazis nicht gegen die Polen als Volk gerichtet hätten.

    Außerdem muss Zaslawsky zugeben, dass in der Praxis des Stalinismus durchaus ein enger Zusammenhang zwischen der Klassensäuberung und ethnischen Säuberungen bestand.

    So bleibt es gewiss verdienstvoll, dass der Autor dem Leser mit neuen Dokumenten ein Jahrhundertverbrechen und seine skandalöse Vernebelung ins Gedächtnis ruft. Dagegen lässt sein Versuch einer angemessenen politikwissenschaftlichen Einordnung der Tragödie nach wie vor Fragen offen. Der Horror von Katyn scheint sich aller gängigen Kategorisierung zu widersetzen.

    Norbert Seitz über Victor Zaslavsky, "Klassensäuberung: Das Massaker von Katyn. Der Band wurde von Rita Seuß aus dem Italienischen übersetzt. Er ist erschienen im Berliner Wagenbach Verlag, umfasst 142 Seiten und kostet Euro 10.90