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Das Meer Umbriens

Dichter, Windsurfer und Zugvögel - alle fühlen sich gleich wohl am Lago Trasimeno in Umbrien. Ein Spaziergang entlang des Ufers führt in mittelalterliche Städte, Naturschutzgebiete und zu Puccini.

Von Cristiana Coletti |
    Es ist fünf Uhr früh. Der Lago Trasimeno schläft noch unsichtbar in der Dunkelheit. Nur eine Ahnung vom See, ein Geruch vielleicht, schwebt mir in der Luft entgegen. Ich laufe auf einer kleinen Holzbrücke über dem See und freue mich auf den ersten Schimmer des Wassers. Auf den ersten Ruf der Vögel.

    Das Licht malt allmählich die Landschaft. Umgeben von Bergen, silbergrünen Hügeln und alten Dörfern taucht der See wie eine Fata Morgana auf. Sein Wasser glänzt weiß und zart beim Sonnenaufgang, als wäre der See aus reiner Milch. Nicht weit vom Ufer zeichnet sich die feine Kurve eines Profils ab. Die Isola Polvese erscheint in dieser frühesten Stunde wie eine unberührte, mythologische Schönheit. Ringsherum erwacht langsam das Leben.

    Mein Lieblingsspaziergang am Trasimeno beginnt in einem Naturschutzpark im Südosten des Sees. Ich gehe auf einem schmalen Holzsteg im Schilfgebüsch über das Wasser. Eine ungewöhnliche Begegnung wartet auf mich.

    "Schau mal! Wir haben eine Rarität! Ein Blaukehlchen...davon fangen wir nur zwei, drei im Jahr. Es kommt aus Nordeuropa."

    Mario befreit das Vögelchen behutsam aus den Maschen des Netzes, das längs an einer Seite des Stegs gespannt ist. Seine Hände wirken riesig im Vergleich zum winzigen Körper des Blaukehlchens. Doch seine aufmerksamen und geschickten Bewegungen scheinen es nicht zu erschrecken.

    "Schau mal, wie schön es hier unten ist! Es ist ganz hellblau! Das erste Blaukehlchen, das ich dieses Jahr gesehen habe! Es fliegt hier am Trasimeno nur vorbei."

    Ich schaue dem Blaukelchen einen Augenblick noch in die Augen. Es ist für mich wie ein Wunder, dass dieses kleine, zerbrechliche Wesen eine so lange Strecke von Nordeuropa bis Afrika und umgekehrt fliegen kann. Es besitzt nichts. Nur Flügel und Sinne.

    Mario arbeitet im Naturschutzpark "Oasi Naturalistica La Valle". Seine Aufgabe ist die Messung, Beringung und Registrierung der Vögel, die hier jedes Jahr vorbeifliegen oder ihr Nest bauen.

    Mit Mario arbeitet auch Maria Maddalena. Sie möchte mir von einem anderen mutigen Zugvogel erzählen, dem sie vor einigen Jahren begegnet sind:

    "Vor drei Jahren haben wir einen kleinen Sperlingvogel, einen Mariskensänger gefangen. Er hatte einen schwedischen Ring. Dank eines internationalen Netzes konnten wir feststellen, dass der Mariskensänger fünfzehn Tage vorher in Schweden beringt worden war. Er brauchte höchstens fünfzehn Tage, um hierher zu fliegen. Und wir wissen mit Sicherheit, dass sein Ziel Afrika war, denn Mariskensänger bauen ihr Nest in Schweden und überwintern in Afrika."

    Warum war der Mariskensänger am Trasimeno? Maria Maddalena weiß Bescheid:

    "Der Trasimeno liegt in der Mitte zwischen Schweden und Zentralafrika. Dieser Vogel wiegt nur 15 Gramm! Ohne einen Aufenthalt am Trasimeno hätte er es nicht geschafft, bis nach Afrika zu fliegen. Er kann diese unglaubliche Reise nur machen, weil er weiß, dass es einen Ort wie den Trasimeno gibt, wo er ausruhen und wieder Kraft schöpfen kann!"

    Wegen seiner geografischen Lage ist der Trasimeno also eine wichtige Etappe für die lange Reise der Zugvögel. Aber nicht nur das macht seine Bedeutung aus.

    "Der Trasimeno ist international wichtig, weil er ein ganz weites Feuchtgebiet mit niedrigem Gewässer bildet. Sein Wasser ist nur sechs Meter tief. Deswegen wachsen hier unglaublich viele Pflanzen und Algen. Und es gibt viele Fische und Vögel. Eine Explosion des Lebens! In tieferen Seen kann es so etwas nicht geben, weil die Pflanzen sich dort nicht so entwickeln können wie hier."

    In der Entstehungsgeschichte des Trasimeno liegt die Erklärung dafür, warum der See so niedrig ist, aber manchmal auch über seine Ufer treten kann.

    "Ein Erdbeben hat vor 10.000 Jahren ein Tal hinterlassen und ein in der Nähe liegender See floss in dieses Tal. Der Trasimeno hat keine natürlichen Zuflüsse und Abflüsse. Sein Wasserspiegel steigt oder fällt je nach der Menge des Regens."

    In früheren Zeiten bedeutete starker Niederschlag eine Gefahr. Heute leidet der See eher unter zu wenig Regen. Doch einige Menschen erinnern sich noch an Tage, als das Wasser des Trasimeno bis zu den ersten Häusern der Dörfer kam. Das erfahre ich in San Feliciano, dem weiter östlich gelegenen, alten Fischerdorf.

    "Mein Großvater war Schuster. Sein Fenster öffnete sich drei Meter über der Straße. Als der See anstieg, brachte ihm sein Großvater einige Spinnen als Köder und bat ihn, aus dem Fenster zu fischen. Mein Großvater machte es und konnte am Tag gleichzeitig Schuhe reparieren und drei, vier Fische für seinen hungrigen Großvater fangen, der ihn so sehr darum gebeten hatte!"

    Der alte Fischer Rino Cocchini sitzt auf einem Stuhl am See. Mit neun Jahren hat Rino angefangen, als Fischer zu arbeiten. Nachts war er auf dem Boot im Trasimeno, tagsüber ging er zur Schule. Er weiß über verschiedene, uralte Fischereitechniken Bescheid und kann genau erzählen, wie einst die Etrusker hier fischten oder was man in früheren Zeiten bei dichtem Nebel tun musste, um den Weg nach Hause zu finden.

    "Der Fischer wirft den Anker aus und wartet. Wenn die Nacht kommt und der Nebel noch dicht ist, dann geht seine Familie zum Pfarrer und lässt ihn die Glocken läuten. Der Fischer hört die Glocken und rudert langsam in die Richtung, woher der Klang kommt. Und die Glocken läuten weiter, bis er das sichere Ufer erreicht hat!"

    Wegen seines Fischreichtums war der Trasimeno früher zwischen zwei mächtigen Städten Mittelitaliens, Arezzo und Perugia, heftig umstritten. Dass der See heute zu Umbrien gehört, kann die Toscana immer noch kaum verwinden! Aber mein Trasimeno hat noch ganz andere Geschichten zu erzählen. Nächste Etappe ist Monte del Lago, ein kleines, mittelalterliches Dorf einige Kilometer weiter nördlich von San Feliciano. Es liegt auf einem Hügel, der eine Art Halbinsel bildet.

    Ich laufe einen schmalen, steilen Weg hinunter, zwischen niedrigen alten Häusern aus Stein. Der Weg führt an der kleinen Kirche von Sant´Andrea, dem Schutzheiligen der Fischer, vorbei bis zum See. Alles ist still, fast regungslos. Nur noch verblasste Spuren sind von der glänzenden, fast mondänen Vergangenheit Monte del Lagos geblieben.

    An der Wand eines alten, heute vergessenen Restaurants entdecke ich nostalgische Fotos von berühmten Sängerinnen der 60er-Jahre, die hier vor einem begeisterten Publikum auftraten: Mina, Rita Pavone und sogar die Kessler-Zwillinge. Aber nicht nur diese Erinnerungen machen den Charme von Monte del Lago aus. Es gibt noch etwas Anderes. Etwas, das ich mir heute nur vorstellen kann:

    "Wenn ich die Briefe von Puccini an Schnabl wieder lese! Wie Puccini ihm schreibt: 'Dein wunderschönes Paradies ... Ich komme nächste Woche aus Viareggio in dein wunderschönes Paradies!"

    Andrea Palombaro, Architekt aus Rom, ist Besitzer der einzigen Jugendstilvilla im sonst mittelalterlichen Monte del Lago. Hier wohnte der große Komponist Giacomo Puccini, wenn er seinen engen Freund Riccardo Schnabl am Lago besuchte.

    "Der Geist des Hauses, den wir hier draußen, aber auch innen spüren, ist die Persönlichkeit von Schnabl. Ein eleganter Herr deutsch-italienischer Herkunft, der die Villa bauen ließ. Er liebte die Jagd, war ein sehr begabter Geiger und erfahrener Musikwissenschaftler. Er war Ansprechpartner von Puccini für dessen Konzerte in Nord-Europa, vor allem in Deutschland."

    Es wird erzählt, dass Puccini hier auch komponiert habe. Vielleicht ist das nur eine Legende. Aber ich möchte daran glauben. Vor allem jetzt vor dieser paradiesisch gelegenen Villa mit ihrer schlichten gelben Fassade, der eleganten Treppe und Terrasse mit Blick auf den See. Ich setze mich in den schönen Palmengarten und lausche.

    "Vor meinem offenen Fenster / Durch das die Frühlingsluft hereinweht, leise /
    Hör‘ ich auf einmal eine Gitarre klingen."


    In meiner Erinnerung tauchen Verse wie dieser von Vittoria Aganoor auf. Eine heute fast unbekannte, damals wichtige Dichterin aus Venedig, die hier Anfang des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Monte del Lago war die Heimat ihres Mannes, des einflussreichen Politikers Guido Pompilj. Sie liebte es, an der Schwelle zur Terrasse vor der Landschaft des Trasimenosees zu sitzen und zu schreiben. Diese Aussicht von der "terrazza della poetessa" ist aber nicht der einzige poetische Blick auf Monte del Lago und den See.

    "Als Bayer muss ich hier einfügen, dass dort in Monte del Lago die Geliebten von meinem ... nicht meinem ... doch meinem König Ludwig I. von ihm besucht wurden. Und ich denke jedenfalls immer daran, wenn ich drüber schaue. Es liegt direkt links von unserer Pergola aus."

    Der Dichter Paul Wühr zählt zu den bedeutendsten deutschen Lyrikern. Er wurde sogar mit dem Petrarca Preis geehrt. Vor über 25 Jahren kam er mit seiner Frau Inge Poppe-Wühr, Mitbegründerin der ersten deutschen Autorenbuchhandlung, aus München nach Umbrien. Er erinnert uns an diese ungewöhnliche Liebesgeschichte von Monte del Lago. Aber Inge muss den Dichter korrigieren: Dort wohnten nämlich nicht die Geliebten, sondern die Geliebte des bayerischen Königs. Aber wer war sie?

    "Marianna Florenzi war eine sehr gebildete Frau. Sie hat die Briefe von Schelling ins Italienische übersetzt. Und es gibt zwischen Ludwig I. und Marianna Florenzi einen großen Briefwechsel und ihr Porträt hängt selbstverständlich in der Schönheitsgalerie im Schloss Nymphenburg in München."

    Wir sitzen unter einem Granatapfelbaum im Garten ihres von alten Olivenbäumen umgebenen Hauses. Es liegt auf einem hohen Hügel bei Passignano, einem der Hauptorte des Sees im Nordosten. Der Blick von hier auf den Trasimeno und Monte del Lago ist atemberaubend!

    Puccini und Schnabl, Vittoria Aganoor und Guido Pompilj, Ludwig I. und Marianna Florenzi. Die Geschichten dieser außergewöhnlichen Begegnungen in Monte del Lago sind eine Bereicherung, meint Inge:

    "Das ist ganz sicher eine Ergänzung der Landschaft. Dazu gehört im Westen gelegen, an der Grenze zwischen dem damaligen Großherzogtum Toskana und dem Kirchenstaat, La Dogana, wo eine Gedenktafel angebracht wurde, an die berühmten Reisenden, die hier am See vorbei kamen: von Galileo Galilei über Goethe natürlich, Michelangelo, Christian Andersen ... Also es hat hier immer außergewöhnliche Begegnungsorte gegeben."

    Und wie fühlen sich die beiden nach so vielen Jahren hier am Trasimeno?

    "Der deutsche Dichter Rudolf Borchert, der zeitweilig in der Nähe, in Perugia gelebt hat, sagte einmal: Jeder Deutsche hat zwei Vaterländer, das seine und Italien."

    "Aber bei uns war es nun so, dass wir zunächst nach Frankreich wollten, weil wir in Urlaub immer nach Südfrankreich in die Provence fuhren. Aber dann ergab sich aus Zufall diese neue Möglichkeit Italien. Also jedenfalls hat sich hier letztlich ein Kinderwunsch erfüllt. Ich sitze jetzt schon 25 Jahre über einem See. Genau so, wie ich es mir am Tegernsee vorgestellt habe, ne?"

    Und jetzt erfüllt der Dichter Paul Wühr mir einen Wunsch: Er liest ein Gedicht, das er dem Trasimeno gewidmet hat, also dem See, an dem ich als Kind immer wieder war und von dem ich manchmal träume, gerade wenn ich in Deutschland bin.

    "Längs tiefer Schuld / Nicht einmal Anmerkungen im seichten Wasser davon / weiß schon das Ufer kein Wort mehr / Der Trasimeno liest sich leicht als unbeschriebenes Blatt / In aller Unschuld weiß geworden."

    "Der Trasimeno hat wunderschöne Farben, wenn man im Wasser ist. Es wechselt vom intensiven Grün bis zum Himmelblau oder dunklem Braun, wenn es heftig bewegt ist. Es sind wirklich wunderschöne Farben! Wenn du im Wasser bist, siehst du Dinge, die vom Ufer aus nicht zu sehen sind. Du siehst plötzlich riesige Wellen! Du siehst die Wasservögel fliegen und Fische springen. Ein wunderschönes natürliches Panorama!"

    Luca, Leiter des Trasimeno-Windsurf Clubs, treffe ich an einer Bucht bei Monte del Lago. Wie oft habe ich mich hier in das Gras gelegt und die leichten Bewegungen der Segel auf dem Wasser und im Himmel beobachtet! Es scheint so, als würden sie im Wind tanzen.

    "Siehst Du, wie viele bunte Segel im Himmel und auf dem Wasser sind? Wir treiben hier zwei Sportarten: Windsurfen und Kitesurfen. Die Windsurfer sieht man auf dem Wasserspiegel mit ihren blitzenden Segeln, wie da drüben z. B. dieses Segel, das in der Sonne glänzt! Und dann die ganzen fliegenden Segel der Kitesurfer? Die sehen wie bunte Drachen aus! Es ist wirklich schön!"

    Dieses Bild erfüllt mich mit Freude und ich vergesse die Zeit. Langsam färbt sich der Himmel feuerrot. Jeder Sonnenuntergang am Trasimeno ist eine Überraschung, wie Ludmila aus Russland sagt. Ich genieße meinen Prosecco vor einem Schauspiel aus Farben, Himmel und Wasser und freue mich auf die ersten Sterne des Abends.