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Das Modell Merkel für Fernost

In Taiwan, das von China beansprucht wird, könnte bald eine Frau demokratisch zur Präsidentin gewählt werden. In der Politik pragmatisch und als Rednerin etwas spröde, wirkt Tsai Ing-wen dabei ein bisschen wie die frühe Angela Merkel, made in Taiwan.

Von Klaus Bardenhagen | 28.05.2011
    Sie ist keine Frau der großen Auftritte. Wenn Tsai Ing-wen auf die Bühne tritt und das Blitzlichtgewitter über sie hereinbricht, ist ihr anzusehen, dass sie sich nicht ganz wohl fühlt in ihrer Haut. Doch da muss sie durch, schließlich will sie hoch hinaus: Die 55-jährige Juristin, zierlich, randlose Brille, unauffällige Frisur, will Präsidentin des Landes werden.

    Wohler fühlt sie sich, wenn sie in Ruhe ihre Pläne für Taiwan erläutern kann. Ihr Englisch verdankt Tsai amerikanischen und britischen Eliteuniversitäten. Ihre Chancen auf die Präsidentschaft dagegen Taiwans Demokratie, die die kleine Insel so grundlegend vom riesigen China auf dem Festland unterscheidet.

    "Wir müssen der Welt klarmachen, dass wir anders sind. Wir teilen universelle Werte wie Umweltschutz, Menschenrechte und Demokratie. Das macht Taiwan wertvoll für die Welt."

    Wie Angela Merkel kam Tsai Ing-wen als Wissenschaftlerin und Seiteneinsteigerin zur Politik. Mit 43 wurde die Professorin für Wirtschaftsrecht ins Kabinett berufen. Und so wie Merkel erst durch Helmut Kohls Spendenskandal an die CDU-Spitze katapultiert wurde, hat auch Tsai ihre Chance genutzt, als ihre Partei am Boden lag.

    2008 verlor ihre Partei, die Demokratische Fortschrittspartei DPP, die Präsidentenwahl deutlich. Parteichef Chen Shui-bian wanderte wegen Bestechlichkeit aus dem Präsidentenpalast ins Gefängnis. Weil sie nicht zur alten Garde gehörte, wurde Tsai zur Parteivorsitzenden gewählt. Als Oppositionsführerin gab sie der DPP ein modernes Profil und errang einige Achtungserfolge. Um im Januar Präsidentin werden zu können, muss sie aber nicht nur den politischen Gegner überwinden. Sie muss auch gegen gesellschaftliche Vorbehalte angehen, dem Druck aus China standhalten und Skeptikern in den eigenen Reihen Paroli bieten.

    Die DPP wurde einst gegründet von Dissidenten und Aktivisten, als Taiwan noch per Kriegsrecht regiert wurde. Ihr Ziel Nummer eins, die Demokratisierung des Landes, hat sie erreicht. Aber Ziel Nummer zwei, die formelle Unabhängigkeit von China, liegt noch in weiter Ferne. Und viele Parteiveteranen haben wenig Geduld mit dem eher gemäßigten Kurs ihrer Vorsitzenden.

    "Unsere älteren Parteimitglieder sehen sich eher als Revolutionäre. Und sie sind keine besonders guten Diplomaten."

    Ohne Diplomatie aber ist für die Wahlen im Januar keine Mehrheit in Sicht. In Taiwan stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber: Tsais DPP und die Regierungspartei Kuomintang, die ihre Wurzeln auf dem chinesischen Festland hat. Sie legt großen Wert darauf, dass Taiwan sich offiziell noch immer Republik China nennt, und knüpft immer engere wirtschaftliche Bande zu Peking. Bisheriger Höhepunkt war ein umfassendes Handelsabkommen.

    Das führe zum schleichenden Ausverkauf von Taiwans Demokratie, warnen eingefleischte DPP-Anhänger. Sie fordern, das Abkommen wieder zu kündigen. Dazu lasse Tsai Ing-wen sich aber nicht hinreißen, sagt der Professor für politisches Recht in Taipeh, Chen In-chin. Die Parteichefin wolle unentschlossene Wechselwähler nicht abschrecken.

    "Sie ist sehr pragmatisch. Einerseits hat sie die Sorge der DPP um zu enge Beziehungen zwischen Taiwan und China ausgedrückt. Andererseits hat sie gesagt, dass sie auch als Präsidentin das Handelsabkommen nicht einfach aufkündigen könne, sondern den Willen der Mehrheit der Bevölkerung respektieren muss."

    Wenig Respekt vor dem Willen der Taiwaner beweist jedoch der große Nachbar China. Die demokratische Insel ist Peking ein gewaltiger Dorn im Auge. Die aktuelle Regierung wird gerade noch toleriert, aber Tsais DPP betreibe Separatismus, so Peking. Unverhohlen warnt es die Taiwaner davor, ihr Kreuz an der "falschen Stelle" zu machen. Tsai Ing-wen dagegen versichert, sie lege Wert auf ein gutes Verhältnis zu China.

    "Wir sind gegenüber der internationalen Gemeinschaft verpflichtet, mit China stabile und friedliche Beziehungen zu führen. Das ist uns völlig klar. Es ist nicht so, dass wir mit China nichts zu tun haben wollen. Wir wollen ganz normal Handel miteinander treiben, auf der Grundlage internationaler Regeln."

    Eine Frau an der Spitze Taiwans? Viele sind skeptisch. Bei der jungen Generation führt Tsai Ing-wen die Umfragen an. Bei Älteren, vor allem bei Frauen, ist sie wenig beliebt. Das zeige den tiefgreifenden Wandel in Taiwans Gesellschaft, sagt Elena Song, 35 und Lehrerin in Taipeh.

    "Den meisten in meinem Alter ist es egal, ob eine Frau oder ein Mann Präsident ist. Wenn eine Frau kompetent genug ist, dann kann sie auch ein Land regieren. Die Generation meiner Eltern denkt aber meist noch, Männer sollten an der Spitze stehen und Frauen sich um die Familie kümmern und eine traditionelle Rolle übernehmen."

    Ginge es nach den Vorstellungen der älteren Generation, müsste Song mit 35 längst verheiratet sein. Tsai Ing-wen ist 55 und ledig. Für einen ehemaligen Vorsitzenden ihrer eigenen Partei war das kürzlich Grund genug, sie aufzufordern, ihre sexuelle Orientierung offenzulegen. Zwar hagelte es dafür aus allen Lagern Kritik. Taiwans Wahlkämpfe aber sind berüchtigt dafür, dass sie gern in Schlammschlachten ausarten. Wenn Tsai Ing-wen das Modell Merkel auf Taiwan übertragen will, muss sie sich eine dicke Haut zulegen.