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"Das nächste Leben geht aber heute an"

Am 20. Januar jährt sich zum 150. Mal der Todestag von Bettina von Arnim. In der "Romantischen Reihe" erinnert "Essay und Diskurs" an das progressive, ihrer Zeit weit vorauseilende Denken der Dichterin. Zum Auftakt befasst sich Ursula Püschel mit dem Engagement Bettina von Arnims für die Völkerfreundschaft mit Polen.

Von Ursula Püschel | 18.01.2009
    Ursula Püschel ist Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Vormärz-Literatur und das Werk von Bettina von Arnim. Sie promovierte an der Berliner Humboldt-Universität und war über Jahrzehnte als Kritikerin und Essayistin tätig.

    Im November 1839 schrieb Bettina von Arnim einen großen, bitteren Brief an ihren Schwager Savigny, weil er nichts für die Berufung der Brüder Grimm nach Berlin getan hat:

    "Ganz Deutschland würde es Dir Dank gewusst haben und Preußen vielleicht am meisten (...) denn seit der polnischen Revolution konnte nichts die Herzen ihm so versöhnen, als wenn man jenen eine Zuflucht hätte angeboten und Schutz ihnen angedeihen ließ". "

    Jacob und Wilhelm Grimm, die Jugendfreunde und nunmehr berühmte Gelehrte, gehörten zu den sieben Göttinger Professoren, die es nicht hinnahmen, dass König Ernst August bei Herrschaftsantritt die Verfassung außer Kraft setzte, auf die die Professoren ihren Amtseid geleistet hatten.

    Das hatte bedeutenden politischen Stellenwert in der europäischen Großwetterlage, bestimmt durch die Pole reaktionäres Zarenregime und französische Republik. Süd- und südwestdeutsche Staaten hatten in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts das monarchische Gottesgnadentum ein wenig konstitutionell beschränkt; 1837 nun praktizierte der Neue im Königreich Hannover die alte feudale Arroganz.

    Bettina von Arnims Bezug auf die "polnische Revolution" erinnert an den Aufstand 1830/31 im russischen Teil des Landes, das seit 1772 Teilungen zwischen Russland, Österreich und Preußen ausgesetzt war. Der Kampf endete mit einer blutigen Niederlage. Den nach Frankreich Flüchtenden, wo die polnische Emigration ihren Aufenthaltsort hatte, wurde in allen Teilen Deutschlands Sympathie und solidarische Hilfe zuteil. Das war nun einige Jahre her, doch antifeudale Veränderungen blieben auf der Tagesordnung.

    In dieses Koordinatensystem gehörte die "Protestation" der Göttinger Professoren. Den Zusammenhang wahrzunehmen, bewies von einem souveränem politischen Standpunkt. Savigny, als berühmter Jurist Privatlehrer des Thronfolgers, sah die Sache nicht anders, allerdings von entgegengesetzter Position - er missbilligte, dass die Jugendfreunde sich nicht dem königlichen Willen unterordneten:

    " "Ich tadle ihr Benehmen nicht, kann es aber ebenso wenig für das rechte erklären", "

    teilte er seiner Schwägerin im Dezember 1839 mit. Ganz im Sinn des damaligen Innenministers:

    " "Dem Untertanen ziemt es nicht, die Handlungen des Staatsoberhauptes an den Maßstab seiner beschränkten Einsicht anzulegen und sich in dünkelhaftem Übermut ein öffentliches Urteil über die Rechtmäßigkeit derselben anzumaßen."

    Wie aber kommt Bettina von Arnim in ihrer Argumentation auf die polnische Revolution? Es ging ja nicht um Erinnerung an die Solidarität mit den flüchtenden Polen vor neun Jahren, sondern um Einverständnis mit einer Stellungnahme gegen feudale Machenschaften - Zeugnis von politischem Sachverstand wie von politischer Verantwortung. Absichten, ihr gerade das abzusprechen - sowohl bei ihren Zeitgenossen als auch bei Nachfahren - sind außerordentlich und verblüffend.

    Ein maßgebliches Beispiel: Heinrich von Treitschke in seiner "Deutschen Geschichte im 19.Jahrhundert". Er lobt Bettina von Arnims Erstling "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde" und befindet:

    "Bettinas Stärke lag da, wo das Genie der Weiber immer liegt, in der Kraft des Verstehens und Empfangens; sie wusste das und blieb immer der Efeu, der sich am festen Stamm emporrankt. Männerarbeit zu tun hat sie sich nie erdreistet; was sie später noch schrieb, erhob nicht den Anspruch, für eine selbständige Schöpfung zu gelten". "

    Wir sind hier Zeugen einer der vielen Tricks, die Schriftstellerin in die Unverbindlichkeit zu loben. Was sie später noch schrieb, das waren unter anderem 1843 "Dies Buch gehört dem König", 1852 dessen zweiter Teil, "Gespräche mit Dämonen" und, 1849 im Januar anonym erschienen, die Polen-Broschüre - "An die aufgelöste Preußische National-Versammlung".

    Ihre Lebenszeit fiel in die eines gewaltigen historischen Umbruchs - die feudale Gesellschaft verwandelte sich in einem langen Prozess in eine bürgerliche. Veränderung als Zeitgefühl: Bettina von Arnim befand sich damit in Übereinstimmung. Es ist wohl die Quelle ihres Optimismus, der in manchen Phasen ihrer Schriftstellerexistenz geradezu Bewunderung verlangt.

    Das Publizieren von Frauen galt noch als Normverstoß, erst recht deren Beschäftigung mit Politik. Als ihr erstes Buch 1835 erschien, "Goethes Briefwechsel mit einem Kinde", war die Autorin Fünfzig. Sie hatte enorme Standhaftigkeit für ihr Vorhaben aufbringen müssen.

    Bettina von Arnim hoffte für die Zukunft, dass einst allen Menschen solche Möglichkeiten zustehen werden. Nun erschlossen sich neue Kommunikationen. Oppositionelle junge Leute, vornehmlich Studenten - zu der Zeit ein politischer Faktor - wurden Bettinas Gäste.

    Für 1846 hatte die "Demokratische Gesellschaft" Polens, von Emigranten Ende der dreißiger Jahre in Paris gegründet, einen Aufstand geplant, und zwar im Großherzogtum Posen, dem preußisch okkupierten Teil, und in Krakau, das noch als Freistaat existierte. Der Aufstand wurde im Großherzogtum durch Verrat vereitelt, und nun Jagd auf Polen gemacht. Im August 1847 begann der Polen-Prozess in Berlin gegen 254 Angeklagte, an erster Stelle Ludwik Mieroslawski, von der Zentralisation in Versailles als Führer entsandt.

    An Bettina von Arnim übermittelte ihre französische Übersetzerin Hortense Cornu die Bitte, sich beim König einzusetzen, dass er nicht an Russland ausgeliefert werde, das würde seinen Tod bedeuten. Friedrich Wilhelm IV. teilte mit, dass an eine Auslieferung nicht gedacht sei. Aber als im Dezember die Urteile gesprochen wurden, war für Mieroslawski statt einer Hinrichtung in Russland eine Hinrichtung in Preußen vorgesehen - er war wiederum der erste auf der Liste der acht zum Tode verurteilten Angeklagten.

    Dem Polen-Prozess wurde in Berlin große Anteilnahme zuteil und auf Freispruch gehofft. Nach dem Urteil wandte sich Bettina von Arnim an den König - sie hatte bereits einen Plan dafür vorbereitet. Ein Schreiben in Sachen Magistratsprozess gehörte dazu, in dem sie wegen Beleidigung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt worden war.

    Es existiert ein Brieffragment aus der Zeit des Prozesses mit dem Wunsch, der möge verloren gehen, damit sie die Polen retten könne. Sie beruft das königliche Privileg, Gnade zu gewähren, und schildert in glühenden Farben einen Herrscher, der dieses sein Recht ausübt:

    " "O wie sehr muss ein König die lieben, die es bedürfen, daß er groß an ihnen handle! Wenn sie nicht wären, wie könnte die Geschichte der Nachwelt ein geprüftes Zeugnis geben von dieser seltensten der königlichen Eigenschaften: der Selbstverläugnung."

    Es geht nicht um Straftäter im System preußischer Justiz - es geht um

    "den gnadebedürftigen Heldencharakter, der in der Raserei der Vaterlandsleidenschaft sich dem Beil verpfändete...Wir jubeln auf mit unserm König, der eine Stufe der Unsterblichkeit hinansteigt im Angesicht aller Völker, und milde ausspricht: Ihr seid frei!"

    Bettina von Arnim zeichnet Friedrich Wilhelm IV. ein großartiges Bild vom König - der er nicht ist, jedoch der er sein könnte. - Als sie am 26. Dezember 1847 veranlasst ist, noch einmal zu schreiben wegen Mieroslawskis Schwester, die Repressionen ausgesetzt ist und den Bruder noch immer nicht sehen konnte, antwortete der König auf der Stelle und mit einer scharfen Zurechtweisung. Damit war die Tolerierung des Briefeschreibens zu Ende.

    Der große Polen-Brief enthält einen Abschnitt, in dem sie den Adressaten, den König, verlässt und sich direkt an Polen wendet. Diese Ungehörigkeit in einer Korrespondenz zeugt davon, dass die Schriftstellerin ihre Intervention nicht als eine individuelle versteht, sondern als öffentliche. Der kleine Abschnitt geht über den Appell zur Begnadigung hinaus:

    "Wenn es aber nicht sein sollte, Ihr Polen, wenn seine Friedensfahnen nicht über Euerm Haupt zusammenschlagen, wenn Ihr denen verfallen seid, die am Beil schleifen (...) - dann glaubt daran, dass wie die Blüte ihren befruchteten Staub weit in fremde Lande sendet und dort einheimisch sich niederlässt, so wird der Besseren Kraft Euch nachschweben, mit Euch seufzen, mit Euch den ernsten Trauerweg wandeln und die Hoffnung mit Euch richten dahin, wo kein Bote der Verzweiflung sie mehr verjagen darf."

    Das an den König. Aus seiner Antwort:

    "Dieses Blatt und ein anderes beweisen mir, dass Sie, wie es dem Weibe wohl ansteht, sich fern von der Tragödie des großen Prozesses gehalten haben, ja von dem selben gar nichts wissen und dass nur der edle Drang, Leiden zu mildern, Sie in Bewegung setzt."

    Und dann schüttet er polnische Missetaten aus, unterhalb des Niveaus eines Staatsoberhaupts, ferner Pläne, den Zaren zu ermorden und zwar fünfmal, und vor allem, was für niedrige Charaktere die Angeklagten sind: alle haben gelogen, Meineide bezahlt, sich als Feige erwiesen. - Der Briefanfang initiiert, wie mit Bettina von Arnims Parteinahme umgegangen werden wird: Nicht politische Sachlichkeit ist es, sondern edle Weiblichkeit, die Leiden einzelner mildern will. Das sagt nicht nur ein König, das sagen auch Literaturwissenschaftler.

    Wie Bettina mit der Behauptung fertig wird, sie sei kenntnislos, das hat komödiantische Größe: Ihrem Antwortbrief legt sie Mieroslawskis Verteidigungsrede bei, die würde "dem Sinn und den Ausdrücken" entsprechen, die Majestät bei den Angeklagten vermisse. Der Text ist in Mieroslawskis Handschrift.

    Wie ist sie wohl dazu gekommen? Mieroslawski nennt sich darin Sprecher der demokratischen Emigration und bekennt alle Verantwortung für die Ereignisse des Jahres 1846. Er legt die Pläne der demokratischen Emigration und ihre Ziele dar und schildert leidenschaftlich der Leiden und Schmerzen seines Vaterlands. Die Anklage gegen 254 Polen weist er als willkürlich zurück:

    "Führt also ganz Polen vor die Schranken dieses Gerichtes, führt her alle unsere Heiligen und alle unsere Helden, führt her alles, was wütet, alles, was tobt, alles, was den Tag seiner Geburt und den Schoß seiner Mutter in diesem großen Land der Sklaverei, das man Polen nennt, verflucht, - dehnen Sie den Umfang dieses Saales bis an die vier Weltenden aus; denn die Gebeine der für die Erlösung ihres Vaterlandes gestorbenen Polen rufen überall Helfer und Rächer herbei."

    Die Polen wurden nicht begnadigt. Die Hinrichtung fand nicht statt - bis der König zur Begnadigung gezwungen wurde, als in Moabit die Gefängnistüren bereits geöffnet waren. Das war am 20. März 1848. Die Berliner bekränzten einen Wagen, spannten die Pferde aus und führten Karol Libelt und Ludwik Mieroslawski jubelnd durch die Stadt. Libelt - Philosoph, der in Berlin studiert hatte - sprach Deutsch, Mieroslawski Französisch - Dank an die deutschen Brüder, die mit ihrem Blut auf den Barrikaden auch die Befreiung der Polen erwirkt hatten, und das Versprechen ewiger Freundschaft der beiden Brüdernationen.

    Am Schloss musste der König die ehemals Gefangenen begrüßen. Die revolutionären Ereignisse in Europa schufen nun Fronten. Welche Allianz würde Preußen eingehen? Traditionell hielt es zu Russland - wofür auch das geteilte Polen ein Grund war. Jetzt aber stand die Forderung des Großherzogtums nach Unabhängigkeit im Raum. Ein Krieg gegen Russland gehörte in dieser Lage, in der vieles noch nicht entschieden war, zu den naheliegenden politischen Möglichkeiten.

    Friedrich Wilhelm IV. vermied eine Entscheidung, indem er dem Großherzogtum "nationale Reorganisation" gewährte. Was mit diesen Etikett zugesagt war, ließ sich ohne viel Aufwand verändern. So gehörten zu den wichtigsten polnischen Forderungen eigene Streitkräfte. Das wurde gebilligt - die Truppen glaubten zunächst, nun ginge es zusammen mit den preußischen gegen Russland. Aber dann folgten entwürdigende Forderungen, Entwaffnung wurde verlangt, Preußens Truppen gingen gegen die polnischen vor. Die Gefangenen, für die es keine Lager gab, wurden einer brutalen, menschenverachtenden Maßnahme ausgesetzt, sie wurden mit Höllenstein gekennzeichnet.

    Mieroslawski hatte den Zusagen des Königs nicht getraut und war überzeugt, dass es zu militärischen Auseinandersetzungen kommen würde. Trotz zeitweiliger Erfolge wurden die Polen schließlich von den militärisch überlegenen Preußen besiegt. Mieroslawski kam als Gefangener in die Festung Posen. Von dort schrieb er an Bettina:

    "Anstelle jener zuversichtlichen und siegessicheren Vorhut der europäischen Freiheit, die ich der Berliner Bevölkerung vom Balkon der Berliner Universität herab versprochen hatte, fand ich nackte, halbverhungerte, mit Forken und spitzen Stöcken bewaffnete Haufen vor, die von den preußischen Bajonetten bereits zurückgeworfen wurden und in den Wäldern und Sümpfen eingekesselt waren wie Vieh, das man billiger töten als durchfüttern kann. Schlimmer noch als die pommersche Landwehr drangen schon von allen Seiten Mord, Brand, Beschimpfung und Verläumdung auf uns ein, um uns zu vernichten, ehe noch Europa erführe, worum es sich hier handelt."

    Dieser Brief - vom 16.Mai 1848 - ist nicht der einzige Schmerzenstext in Bettina von Arnims Polen-Papieren. Sie selber hatte im gleichen Monat an eine Freundin nach Rom geschrieben - nach ihrem Bericht über die Revolutionstage:

    "Was ist dies Alles gegen den scheußlichen politischen Verrat, der an den Polen verübt wird! Niemals sind in den Kämpfen des Mittelalters solche Grausamkeiten geschehen wie dort von den Preußen an Polen; ein Blutbad über das andere! Ja, das hat die Regierung schrecklich ergrimmt, als sie durch das Volk gezwungen ward, die gefangenen Polen freizugeben, ihnen die Wiederherstellung ihres Reiches zu gewähren. Nun lässt man diese Polen, die man früher gezwungen losgeben mußte, durch heimliche Späher banditenmäßig überfallen und morden. Ein armer junger Pole, für dessen Mutter ich selbst die Bittschrift für Begnadigung ihres Sohnes gemacht, wird im Angesicht dieser Mutter von einer wilden Bande preußischer Soldaten im Bett massakriert."

    Die Schilderungen setzt sie noch fort; das Beispiel von der Bittschrift wirft die Frage auf, welche Verbindungen zwischen Posen und Berlin ihr zur Verfügung standen, und es zeigt, wie sehr Bettina von Arnim mit den polnischen Vorgängen verbunden war. Der große Fundus ihrer Kontakte stand ihr für die Arbeit an der Polen-Broschüre zur Verfügung. Diese Schrift erschien im Januar 1849 unter den Bedingungen des Belagerungszustands. Sie war "Der Frau Bettina von Arnim gewidmet", als Druckorte wurden Berlin und Paris angegeben, eine Widmung im Namen der Polen war mit dem Pseudonym von Hortense Cornu unterzeichnet. Die Nationalversammlung, die im Titel angeredet wird, wurde am 5.Dezember aufgelöst.

    Wann sich Bettina zu dieser Schrift entschlossen hat, ist nicht zu ermitteln. Gewichtiges wurde unternommen, um die Autorenschaft der Bettina von Arnim zu negieren, ja sogar zu verleugnen. In einem wichtigen germanistischen Nachschlagewerk, dem sogenannten "Goedeke", schrieb Reinhold Steig:

    "Gegen Bettinas Autorenschaft spricht der Stil."

    Es ist davon auszugehen, dass er es besser wusste. Er genoss das Vertrauen der Familie von Arnim, konnte aus den Papieren des Nachlasses von Achim und Bettina wichtige Publikationen vorlegen, und schrieb einst an Lujo Brentano, dass er in Wiepersdorf - dem Arnimschen Schlösschen, wo sich der Nachlass befand - jedes Blatt kenne. Eben dort wurden handschriftliche Entwürfe zur Polenbroschüre gefunden, als dieser Nachlass der Akademie der Künste der DDR als ein Bettina-von-Arnim-Archiv übereignet wurde.

    Die Polen-Papiere konnten Steig seinerzeit nicht entgangen sein. In den zwanziger Jahren hatte sich Otto Mallon mit Frage nach der Autorschaft befasst. Er entdeckte zwei Exemplare der Broschüre im Nachlass Varnhagens in der Berliner Staatsbibliothek mit dessen Vermerk "Von Bettina vom Arnim". Dort befand sich auch der Briefwechsel Bettina von Arnims mit Hortense Cornu, darunter jener Brief, in dem sie sich wegen der ungefragten Benutzung von deren Pseudonym für die Polen-Broschüre entschuldigt. Mallons Aufsatz erschien 1933 im 45.Band der "Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte" und blieb an diesem Ort beinah unbekannt. Seine Feststellung:

    "Dass Steig die Broschüre nicht als Bettinas geistiges Eigentum anerkannte, hat wie bei so manchen Fragen der Arnim-Forschung vielleicht weniger seinen Grund in seiner tatsächlichen Überzeugung als in seiner Rücksicht auf Bettinas Nachkommen (...), denen aus verständlichen Prestigerücksichten die Einreihung dieser regierungsfeindlichen, fast revolutionären Tendenzschrift in Bettinas Werk nicht willkommen sein konnte."

    Die loyale Vermutung gegenüber Steig erwies sich als unzutreffend. In einem Brief von ihm an einen Enkel Bettinas, versuchte er zu verhindern, dass sein Berufskollege Ludwig Geiger Material bekommt zur Publikation von Bettinas Briefwechsel mit dem König - der Geiger sei ein Jude,

    "und zwar einer der 'betriebsamsten' widerwärtigsten Literaturjuden, die es geben kann."

    Ein Fall, bei dem einmal sichtbar wird, was als Tendenz in der Geschichtsschreibung wirksam ist: Fakten existieren nicht, wenn sie unerwünscht sind, und finden also keinen Raum im öffentlichen Bewusstsein. So blieb auch Bettina von Arnims Verhältnis zu Polen lange Zeit nahezu unbekannt und wurde ohne die gebotene Sorgfalt behandelt - gerade die Materie, an der sich ihre Qualität als politische Schriftstellerin erweist.

    Mitte der vierziger Jahre standen existenzielle politische Fragen permanent auf der Tagesordnung - Polen war eine davon. Eine andere die Rolle des Volkes als eigenständige gesellschaftliche Kraft. Beide kulminierten in der Revolution 1848. - In einem Vorentwurf der Polenbroschüre ist vom Volk die Rede:

    "Jetzt, da die Revolution sein Dasein endlich zur Hauptfrage gemacht, da dies unterdrückte Volk mit seinem besten Blut für die gerechte Sache gesiegt und für alle das Heil erkämpft hat, - denn ohne es hätten wir nimmer mehr die Preßfreiheit, wären noch immer an die Sklavenfessel der Polizei gekettet, Justiz und Regierungsintrigen hielten uns noch immer zum Narren, ließen immer noch uns wie die heulenden Bären mit einem Ringe in der Nase nach der Pfeife tanzen... jetzt, wo es nach allen Beweisen, wie viel von ihm abhängt, wie alles hingegeben ist in den Schoß seiner noch unentwickelten Macht, jetzt möchte man es mit seinen durch die Notwendigkeit gebotenen und doch so geringen Ansprüchen unter den Trümmern eines Erdbebens begraben."

    Hier klingt schon die Niederlage der Revolution an. Zum Ende des Jahres hatten sich Kämpfe erneuert, um das Errungene zu bewahren, das die Reaktion zunichte machen wollte. Bettina von Arnim setzte voraus, dass das Dasein des Volkes zur Hauptfrage der Revolution geworden war. Im September 1848, als die Gefahr einer reaktionären Regierung drohte, hat sie sich trotz Abbruch der Beziehungen zum König entschlossen, ihm dennoch zu schreiben - mit dem Vorschlag, die Regierungsverantwortung an Theodor von Schön zu geben, den ostpreußischen Liberalen, den - wie sie sagt - die Rechte wie die Linke akzeptieren würden.

    Erst vor kurzem wurde bekannt, dass dieser Vorschlag nicht die Idee der Bettina von Arnim war, wie sie beteuert. Sie war beteiligt an in einem Plan junger Engagierter, tätig für linke Abgeordnete der Nationalversammlung. Die Darstellung dieses Plans, welcher der preußisch-deutschen Geschichte einen anderen Verlauf hätte geben können, neben der Arbeit an der Polen-Broschüre, dieser Schrift von historischem Gewicht, diese immense Arbeit wurde geleistet von einer als unpolitisch erklärten Person.

    Die Polen-Broschüre ist wie alle Publikationen Bettina von Arnims dialogisch, wenn wir es so verstehen wollen, dass die Abgeordneten der Nationalversammlung von Polen angeredet werden. Die Polen sind anonym, Inhaber eines hohen Standpunkts, einer internationalen Übersicht, deren Maßstab die Verfassung der Menschheit ist. Ihre Zukunft hängt ab vom Heute, vom Jetzt:

    "Seht wie den Polen, so wird's Euch ergehen! In ihren schauerlichen Geschicken spiegelt sich das Eure. Man wird Euch knuten, bis Ihr zu Kreuze kriecht, der Russe wird kommen gleich wie von ungefähr und wird eindringen in das Herz von Deutschland... Die Franzosen werden von der anderen Seite sich einfinden, zu denen die Rheinstädte aufseufzen gegen den militärischen Übermut... So erkennt doch Eure Polenbrüder, die ebenso wie Ihr um die erkämpften Rechte des 18.März betrogen sind."

    In bewegenden Worten wie in einer großen Ansprache, in der nicht jeder Satz gelungen ist, beschwört Bettina von Arnim das politisch Notwendige. Dabei müssen heutige Leser - selbst Spezialisten - das Tagesaktuelle gelegentlich erst entziffern, sie gewinnen jedoch den Eindruck des historisch Bedeutenden, das damit verbunden ist. So werden die Abgeordneten angeredet:

    "Legt diese große Geschichtsfrage, diese Polenfrage, dem Volke vor. Denn sie ist eine Volksfrage! ... Das ist die Schule des souveränen Volkes, daß es sich hingebe, den Verrat der Volksunterdrücker auszugleichen ... sei es für eine der Vernichtung preisgegebene Nation, sei es durch Prüfung der eigenen Stellung gegen die Willkür, die Belagerungszustände verhängt wie ein erbitterter Mentor über seine Zöglinge, die ihm über den Kopf wachsen."

    Für die Polen-Broschüre erlangte das Eintreffen der polnischen demokratischen Publizistin Julia Woykowska in Berlin Bedeutung, die einen Weg zu Bettina von Arnim fand. Sie war im August mit ihrem Mann gekommen, um während der "nationalen Reorganisation" gefangenen Polen beizustehen. Ihr möglicher Einfluss auf die Polen-Broschüre hat die polnische Literaturwissenschaft mehr beschäftigt als die deutsche, obwohl Woykowkas Briefe und die Papiere für Bettina von Arnim bei der Versteigerung ihres Nachlasses 1929 von Reichsarchiv in Potsdam aufgekauft wurden, wo sie nun lagen oder ruhten.

    Die erste und einzige, die sie dort in die Hand nahm, war Hilde Wyss für ihre Arbeit über "Bettina von Arnims Stellung zwischen der Romantik und dem Jungen Deutschland", 1935 veröffentlicht. Aber sie, die sich mit "Bettinas sozialen und politischen Ideen" befasste, hat festgestellt, dass die Schriftstellerin unpolitisch war:

    "Im gewöhnlichen Sinn des Wortes versteht Bettina nichts von Politik, das heißt, sie versteht nicht, mit realen Möglichkeiten zu rechnen, die Ursache politischer Zustände zu begreifen, Wege des Vorgehens gegeneinander abzuwägen."

    Solch ein Politikverständnis gehört in ein bedenkliches Gedankensystem. Ein Jahr nach Bettina von Arnims letztem Buch, "Gespräche mit Dämonen", erschien 1853 Ludwig August von Rochaus Schrift "Grundsätze der Realpolitik". Offenbar hat sich die Zweckmäßigkeit des Begriffs Realpolitik erst um diese Zeit erwiesen. Der Herausgeber einer Neuauflage 1972, Hans-Ulrich Wehler, schreibt in seiner Einleitung:

    "Die 'Grundsätze der Realpolitik' 1853 beginnen mit einer schroffen Absage an den weltfremden Idealismus des liberalen Bürgertums, mit dem es 1848/49 allenthalben gescheitert sei.... Er verkündet das Naturgesetz der Macht ... Macht wird durch Erfolg legitimiert. 'Denn der Erfolg', schreibt er später einmal, 'ist der Urteilsspruch der Geschichte, das 'Weltgericht' der höchsten Instanz, von der es keine Appellation - <berufung> - in menschlichen Dingen gibt.'"

    1848, in der Polen-Debatte der Frankfurter Nationalversammlung, hat der Linke Wilhelm Jordan verkündet:

    "Es ist hohe Zeit für uns, endlich einmal zu erwachen aus jener träumerischen Selbstvergessenheit, in der wir schwärmten für alle möglichen Nationalitäten ... zu erwachen zu einem gesunden Volksegoismus, um das Wort einmal gerade herauszusagen, welcher die Wohlfahrt und Ehre des Vaterlandes in allen Fragen oben an stellt."

    Als im europäischen Sturmjahr das Werden von Nationen - unter anderem in den Kämpfen des österreichischen Vielvölkerstaats - eine bedeutende Rolle spielte, entstanden scharfe Fronten - die einen forderten "gesunden Volksegoismus", die anderen erwarteten Völkerverbrüderung. Zu denen gehörte Bettina von Arnim, die sie als Daseinsform der Menschheit begriff - eine, in der es keine Kriege mehr gibt.

    Es soll festgehalten werden, dass zu einer Zeit, als in Deutschland vorgesehen wurde, einen zweiten Weltkrieg anzustiften, in dem das polnische Volk ausgelöscht werden sollte, der Schriftstellerin Bettina von Arnim attestiert wurde, von Politik nichts zu verstehen.

    In ihrem letzten Buch, den "Gesprächen mit Dämonen" hat sie Menschheitsfragen, für die es in der Polen-Broschüre aktuellen Anlass gab, weitergeschrieben. Das Volk, also der Teil einer Nation, der nichts besitzt und sich durch Arbeit ernährt und erhält, ist es, der in anderen Nationen Brüder zu finden in der Lage ist, während der nunmehr herrschende Teil, die Bourgeoisie, bereits Feinde braucht. Das Bekenntnis zum eigenen Vorteil, zum "Volksegoismus" ist in den folgenden Jahrzehnten selten so unverhüllt ausgesprochen worden.

    Aber der Dämon der Schriftstellerin, die "nichts von Politik versteht", der Namensgeber ihres letzten Buches, schildert das Einssein von Volk und Heimat für alle auf dem Wolkenplan vereinten Geister - Magyar, Pole, Lombarde, Gallier, Germane:

    "Hat das Volk ein Naturgepräg, so hat es auch einen Charakter, der selbst in heimatlichen Gewittern sich entladet, der in der Natur mitatmet, in seinen Strömen, seinen Fluren und Wäldern und Bergen und in den Sternen über seinem Haupt. Dem einen die weite Ebne, dem andern die engen Felskammern; dem der öde Meeresstrand und jenem wieder die fruchtbringenden Ufer der süßen Wässer; kalte und warme Zonen, alle von Menschen gleich geliebt - die Sinne eingenommen jedem von dem Land, ihm das edelste, worin er geboren. Er tränkt es mit seinen Tränen - trunken taumelt er von Wehmut, wenn er es verlassen muss, angehaucht von der Natur, die (...) das Vergangene an seine ganze innere Zukunft bindet; ihr Mund ist die Pforte, der die Geister entschweben, die immer wieder zu derselben Kühnheit ihn entflammen fürs Vaterland. Heimatgefühl - Wiegen an der Mutterbrust!"

    Vielleicht ist das ein Anlass, daran zu erinnern, dass es im 21.Jahrhundert unter den sechs Milliarden Erdenbewohnern etwa zweihundert Millionen Flüchtlinge gibt - ohne Heimat. -

    Die Polen-Broschüre vermittelt die Lehre, dass ein Volk nicht frei sein kann, wenn es fortfährt, andere zu unterdrücken. Der Schlusssatz in Bettina von Arnims Polenbroschüre, 1849, tut weh, weil er aktuell geblieben ist:

    "Werden wir's erleben, daß Brüdernationen die Sünden einander vergeben, die ihnen eingeimpft waren? - werden sie Festigkeit gewinnen und Vertrauen zu einander, das nicht wie leichte Spreu im Winde verfliegt?"</berufung>