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Das neue Europa

Das Düsseldorfer Schauspielhaus ist weit im Westen der Republik gelegen, weshalb man, zwecks näherer Anschauung und auch aus Gründen des Kulturaustauschs, die künftigen Nachbarn erst mal für sich arbeiten lässt. Der erste Trupp Gastarbeiter am kam aus Polen, brachte ein paar Saxofone, eine Flasche Whiskey und ein kleines Video mit und mischte damit erst mal die streng frontale Sitzordnung an blütenweißem Leinen im Theater auf. Hier ging es schließlich um nicht weniger, als das neue Europa noch vor dem 1. Mai den Bürokraten und Wirtschaftsfachleuten zu entreißen und in seiner uralten Bedeutung wieder zu beleben, als Kultur-Kreis. Das "Warten auf die Barbaren", wie der polnische Schriftstellers Andrzej Stasiuks die Osterweiterung provokant bezeichnete, wurde hier und mithilfe der originalen Übersetzung zu einem sehr lustigen und friedlichen Akt. Die "Fremden" – was Barbaren eigentlich bedeutet – haben Texte mitgebracht. Und tatsächlich kommt da einiges auf uns zu, etwa bei einer nächtlichen Reise.

Karin Fischer |
    Der magische Realismus des Ostens! Andrzej Stasiuk hat in seinem Roman Die Welt hinter Dukla erforscht, und diesen leeren, wilden Ort so in dichte Wort-Materie gepackt, dass das Dorf in Südpolen am Rande der Karpaten von der Kritik zur "neuen Hauptstadt der Literatur" erkoren wurde. Für die Düsseldorfer Intendantin Anna Badora, eine Landsfrau, hat sich der 1960 geborene vielseitige Schriftsteller – er ist auch Lyriker, Drehbuchautor und Journalist – an das polnische Nationalepos von Adam Mickiewicz, "Dziady", angelehnt, in dem man in der Nacht auf den 1. November die Geister der Verstorbenen ruft und in dem es, ähnlich wie in Goethes "Faust", auch ums nationale Vermächtnis, vulgo um Klischees geht. Seine kurze Stück-Skizze handelt von Jungs, die wie die Nomaden durch die Straßen cruisen, die schnelle deutsche Autos klauen und leichte polnische Mädchen kaufen wollen, und von einem Unglück – einer der Jungs wird beim ‚Bruch’ in einen Juwelierladen erschossen.

    Grund genug, über die Einbrecher-Qualitäten bspw. von Russen zu sinnieren, die bei den Polen offenbar "Hundefresser" heißen, aber wenigstens besser auf die geklauten Autos aufpassen, weil man nämlich Angst vor ihnen hat... Ganz nebenbei entsteht so eine überaus sympathische und selbstironische Hierarchie der Underdogs aus dem Osten. Der Tote tritt indes in einem Dialog mit seiner Seele, die er leider wegen der tollen Basslautsprecher im Auto nicht verstehen kann, was er selbst auch schade findet, und so geht diese anarchische Vision vom Neuen Europa so fort, und am Ende haben wir gelernt, dass "Piwo" Bier und "Kurva" Nutte heißt. Die Lesung mit verteilten Rollen auf deutsch wurde nämlich von einem Mini-Video der kooptierten Regiewerkstatt Krakau ergänzt, doch erst Andrzej Stasiuk zeigte zusam-men mit dem Saxophonisten Nikolaj Trzaska, was "den Unterschied macht". Er schreibe nicht fürs Theater, sondern poetische Texte, die einen Klang haben. Wir hörten ein polnische Liturgie.

    Über Europa und die Politik wollte der Schriftsteller nicht übermäßig lange reden, aber was dann kam, immer staubtrocken-humorig und ernst gemeint zugleich, demonstrierte anschaulich den Blickwechsel, den der Westen im neuen Europa endlich zu vollziehen hat.

    Sollen sie kommen, die Barbaren. Im Juli gibt es die nächste Begegnung mit ihnen im Düsseldorfer Schauspielhaus.