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Das neue Europa als Heimat für viele

"Europa ist ein gemeinsames Haus", verkündete einst Michail Gorbatschow. Nur dämmert Europa nach seiner letzten Erweiterung politisch momentan eher vor sich hin. Wie aber steht es um die Transformationsprozesse in Rumänien, Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern? Alle fünf Jahre kommen Osteuropa-Historiker und Politologen zu einem Weltkongress zusammen.

Von Natascha Freundel |
    Von einer Kulturgeschichte der Haustiere in Russland bis zu den Transformationen Tatarstans reichen die 1300 Forschungsbeiträge, die noch bis Sonnabend in Berlin vorgestellt werden. Der Internationale Rat für Mittel- und Osteuropäische Studien wurde vor 31 Jahren gegründet und womöglich waren die zurückliegenden drei Dekaden nur ein Prolog – das glaubt jedenfalls der Generalsekretär des Dachverbands, der Kanadier Stanislav Kirschbaum: ein Prolog zur heute so dringlichen kulturellen Selbstfindung der Europäischen Union.

    " Auf einer Seite haben Sie Länder, die gerade 50 Jahren in einem Bereich waren, wo die Definition ganz klar war. Sie waren kommunistisch, sie waren sowjetisch, sie hatten eine Identität, mit der sie nicht zufrieden waren, aber das war schon eine Identität. Und sie sind daran gewöhnt und man sieht das z.B. nachdem das System brach, dass sie eine neue Identität gesucht haben, das heißt eine nationalistische Identität, ja. "

    Auf der anderen, westlichen Seite kam es nun zu der, auch auf diesem Kongress immer wieder mit leichtem Schaudern erwähnten Verfassungskrise: "Europa – ein gemeinsames Haus?" Der 7. Weltkongress der Mittel- und Osteuropaforschung ist vom Glauben an eine Mission beseelt: nämlich der Politik durch die Wissenschaft Gehhilfen zu verpassen, ohne die sie offenbar nicht vorankommt. Die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropaforschung, Rita Süssmuth:

    " Europa endet nicht an der Grenze der 10 erweiterten Staaten. Wenn Sie einmal den Beitrag der Polen sehen zur Ukraine, zu den baltischen Staaten, selbst zu Russland, zu dem sie historisch ein ganz schwieriges Verhältnis haben, dann sind diese Brücken, die nicht abreißen, auch bei einem Rückgang von Demokratisierungsprozessen für uns alle von größter Bedeutung. "

    Die Ukraine, dieser unbequeme Nachbar mit seinen hierzulande so gefürchteten Prostituierten und seiner so bestaunten Orangenen Revolution, ist nur ein Schwerpunkt des Kongresses. Die Entwicklungen auf dem Balkan, die Aufarbeitung des Kalten Krieges, die Rolle der Religionen und immer wieder Putins Russland werden ebenso en detail analysiert.

    Dabei führt die Europaseligkeit immer wieder zu erstaunlichen Verbrüderungen: Wünschte sich der noch amtierende polnische Präsident Aleksander Kwasniewski am Eröffnungsabend einen EU-Beitritt der Ukraine unter dem Motto "Ja zur Risikogesellschaft", so kritisierte der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion Friedbert Pflüger ebendort die "Achse Berlin-Paris-Moskau". Mit nicht zufällig orangefarbenem Schlips. Die Farbe der ukrainischen Revolution, die gestern noch die Farbe der ukrainischen Kriminalität war, eignet sich plötzlich hervorragend zum Wahlkampf.

    " Europa ist der beste aller Kontinente – schwärmte der litauische Lyriker Tomas Venclova, der Nachfolger Vladimir Nabokovs auf dem Slavistik-Professorenstuhl an der Yale-University. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Vielfältigkeit auf so engem Raum. Und eben dies ist die Schönheit und Besonderheit Europas."

    Tomas Venclova, der mit Anna Achmatova und Joseph Brodsky befreundet war, hat in sich selbst den Slawophilen und den Westler glücklich vereinigt. Doch in den wissenschaftlich-politischen Debatten des Kongresses setzt sich der alte europäische Konflikt zwischen Ost und West mit neuen Fragen fort. Alexej Simonow aus Russland, Filmemacher und Verteidiger der Meinungsfreiheit, die unter Gorbatschow den Titel "Glasnost" erlangte, kritisierte die Europaseligkeit scharf. Wenn Europa so weit, so grenzenlos, so brüderlich gedacht wird, handelt man sich enorme Probleme ein, so Simonow:

    " An jedem herrlichen Tag ereignen sich in dem wunderbar europäischen Russland Katyn-ähnliche Massaker, und zwar in Tschetschenien. Dort werden Menschen nur deshalb ermordet, weil sie Tschetschenen sind. Also Sie wollen dieses Europa wirklich gemeinsam mit diesem Russland bauen? "