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Das neue Europa entsteht in Litauen

Wer oder was ist Marjampole? Ein Getränk, ein Fluss, eine Vogelart? Marjampole ist eine ganz und gar gewöhnliche Provinzstadt in Litauen, eine Stadt, wie es in Osteuropa viele gibt. Aber spricht man sie wirklich so aus?

Von Brigitte van Kann | 09.02.2006
    Schlögel: " Marjampole. Gestern sagte jemand, der eine Litauerin gefragt hatte: Marjampolé. Wahrscheinlich ist beides möglich. Ich habe den Eindruck, dass dort immer drei Sprachen im Raume sind, was ja auch angenehm ist - also ich glaube, man kann beides sagen. "

    Dass der Historiker und Osteuropa-Forscher Karl Schlögel die litauische Stadt zur Titelheldin seines neuen Buchs gemacht hat, verdankt Marjampole einem auf den ersten Blick trivialen Umstand: Vor etwa einem Jahrzehnt ist hier, am Knotenpunkt großer Verkehrstrassen von Nord nach Süd, von West nach Ost, einer der größten Gebrauchtwagenmärkte des Kontinents entstanden. Hier, an einem so unscheinbaren Ort wie Marjampole sieht Karl Schlögel das neue Europa im Werden begriffen, ein gemeinsamer, nicht mehr in Blöcke geteilter Raum der freien Zirkulation, des Austauschs von Waren und Ideen, wie er vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts einmal gewesen ist.

    "Es gibt", schreibt Karl Schlögel in seinem neuen Buch, "ein Europa, das wächst: lautlos, fast unbemerkt, unspektakulär. Es wird kaum abgebildet, hat kaum Resonanz, weil es von Selbstverständlichkeiten handelt, mit denen sich Berufseuropäer und Konferenzprofis nicht abgeben." In der Tat verschlägt es einen EU-Beamten wohl kaum an die ungemütlichen Orte, an denen Karl Schlögel reisend dem neuen Europa bei der Verfertigung seiner selbst zugesehen hat: in Zügen, auf Basaren, an Grenzübergängen und Busbahnhöfen. Aus den gebündelten Erfahrungen der Schaffner und Grenzer, der Fahrer, Spediteure und Händler entstehen die "Kriechströme", wie Schlögel die schwer zu fassenden, ebenso langsamen wie unaufhaltsamen Dynamiken des Wandels nennt, "aus deren Energie sich das neue Europa speist".

    Karl Schlögels "Marjampole oder die Wiederkehr Europas aus dem Geist der Städte" ist kein Buch aus einem Guss. Von fünf Originalbeiträgen abgesehen, versammelt es Aufsätze, Vorträge und Artikel aus den letzen Jahren, etwa für Lettre, die Frankfurter Allgemeine oder die Neue Zürcher Zeitung. Die gefürchtete Sammelband-Redundanz, das Wiederkäuen ein- und desselben abgestandenen Lesefutters, bleibt in diesem Fall aus: Auch wenn die meisten Beiträge von den großen Veränderungen handeln, die der Fall des Eisernen Vorhangs in den Städten Osteuropas ausgelöst hat und immer noch auslöst - die Gegenstände, an denen der Wandel dingfest gemacht wird, sind nicht nur vielfältig, sondern für einen Professor der Osteuropäischen Geschichte auch erstaunlich alltagskonkret.

    Karl Schlögel: " Ich brauche für die Vorstellung, dass Europa ein Kontinent der Mobilität und der Vernetzung ist, ganz spezifisches Material, das es in Buchform überhaupt nicht gibt.Ich habe eine riesige Sammlung von timetables, scedules ... Ich sammle diese Fahrpläne, die jedes halbe Jahr herauskommen. Jetzt am Münchner Hauptbahnhof habe ich bemerkt, es gibt so eine Korona von Reisebüros um den Hauptbahnhof herum, mit atemberaubenden Verbindungen. Man muss für bestimmte Sachen sehr spezifische Materialien heranziehen, man kann sie gebrauchen für den jeweiligen Zweck, das jeweilige Kapitel, aber danach verfallen sie und dann geht’s ins Archiv... "

    Ein wenig langlebiger dürfte das viersprachige Fernfahrer-Handbuch sein, das der Autor ausgerechnet in der Universitätbuchhandlung in Vilnius aufgestöbert hat: Es bietet Vokabeln und Mustersätze für sämtliche Situationen, in die ein europäischer Berufsfahrer geraten kann: Zoll, Abfertigung, Pannen, Verkehrskontrollen und Notfälle aller Art. "Es gibt eine neue Europa-Literatur", konstatiert Karl Schögel: "Sie wird eifrig gekauft, gelesen, aber nicht rezensiert. Sie taucht in keinem Feuilleton und keiner Bestenliste auf. ... Es sind weniger Bücher als Broschüren mit einem Verfallsdatum, das dem Tempo der Übergangszeit Rechnung trägt." Die Rede ist von kleinen, preiswerten Reiseführern wie "The City in your pocket", die es heute auch für Städte gibt, in die man zu kommunistischen Zeiten nicht reiste, weil die Visaformalitäten umständlich waren, weil der Individualtourist vor Ort keinerlei Hilfe und Bequemlichkeiten vorgefunden hätte, weil man, wenn überhaupt, nur in gegängelten und bespitzelten Gruppen reisen durfte. Zwangsherrschaft und Urbanität gehen nun einmal nicht zusammen. Karl Schlögel ist sicher, dass sich in der noch ungeschriebenen Geschichte von Untergang und Wiederkehr der Kaffeehäuser die Geschichte des Ostblocks offenbaren könnte.

    Überall sieht der Autor Kräfte und Interessen am Werk, die "das gerissene Netz", wie er es nennt, neu knüpfen. Städte wie Krakau, Lemberg und Riga, Posen, Bratislava und Zagreb kehren auf die gemeinsame Landkarte Europas zurück. Und mit ihnen die verschüttete Erinnerung an die bedeutenden deutschen Kulturleistungen im östlichen Europa, nicht zuletzt an das Deutsche als lingua franca. Ein Thema, an dessen Befreiung aus engstirnigem "Volkstumsmiefs" Karl Schlögel lebhaften Anteil nimmt. Er ist überhaupt ein leidenschaftlicher Autor, der die von ihm erforschte Welt liebt und jeden Fortschritt, den er verbuchen kann, freudig begrüßt. Die "Wiederkehr Europas aus dem Geist der Städte" erfüllt ihn mit Genugtuung, auch wenn vieles, was osteuropäische Städte heute wieder liebenswert und urban macht, aus dem Westen stammt. Wo Kritiker vor dem nivellierenden Vormarsch der Konzerne, vor der Übernahme der Städte durch McDonalds und Co. warnen, bleibt Karl Schlögel zuversichtlich.

    Karl Schlögel: " Ich habe in der Eröffnung von McDonalds-Filialen in Moskau nie eine Bedrohung gesehen, sondern ich habe darin einen ungeheuren Fortschritt gesehen. In einem Land, wo man für alles anstehen musste, wo der Service so heruntergekommen war, wo man als Klient oder Kunde wie der letzte Dreck behandelt worden ist, fand ich es eine regelrechte Revolution im Alltag, dass man freundlich bedient wird, dass das Personal geschult wird. Um seine Produktivität und Kreativität zu halten, kann man nicht vier Stunden am Tag in der Schlange stehen ... Dass man einen Fraß vorgesetzt bekommt in irgendwelchen Mensen, das ist auch eine Form der Menschenverachtung. Und deswegen habe ich die Entwicklung einer Servicekultur - in welcher Form auch immer - als sehr, sehr bedeutend empfunden. Ich kann diese Skepsis nicht teilen. Wahrscheinlich halte ich diese Kulturen und Städte für stärker, ich glaube, dass die das verkraften. "

    Obwohl überwiegend für Zeitungen und Zeitschriften entstanden, sind die Beiträge in "Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte" keine Eintagsfliegen, keine impressionistischen Reportagen für Reise-Rubriken. Es sind aus Anschauung gewonnene Zeitanalysen, die über den Tag hinaus Bestand haben. Karl Schlögel gelingt es, die unmittelbare Gegenwart und die Alltagswelten der Menschen für die Geschichtswissenschaft hoffähig zu machen.

    Wie aber bekommt er die - um eine der schönen Schlögelschen Wendungen zu benutzen - "davonstürzende Zeit" zu fassen? Nicht nur die gegenwärtige, sondern auch die fernerer Zeiten? Karl Schlögel hat, fast möchte man sagen, einen 'Trick’ gefunden: Er hält die flüchtige Zeit an einem bestimmten, mit Geschichte gesättigten Ort fest. Wie mit einer Bohrsonde fördert er die Zeitschichten zutage, die sich an solchen Orten abgelagert haben. "Im Raume lesen wir die Zeit" - der Titel eines seiner Bücher benennt bündig diese ebenso anregende wie fruchtbare Methode.

    Karl Schlögel: " Ich fange eigentlich immer mit Zeichnungen an. (...) Keine Karten im strengen Sinne ... Es geht mir nicht um die Gliederung, sondern um die Linien, um konkrete Begegnungen, Prozesse, die an bestimmten Orten zusammengekommen sind. Nehmen wir Vilnius oder Wilna, das war so, dass ich zunächst die Orte eingetragen habe, die für die Russen wichtig waren, die Orte, die für die Juden wichtig waren, die Orte, die für die Wehrmacht wichtig waren ... Dann ergibt sich eine mehrschichtige Kart, da laufen dann Dinge zusammen, die zum Teil auch Themen sin ... die Geschichte, dass Brodskij oft in Vilnius war, die Geschichte der Dissidenten, die Geschichte der Synagoge oder was immer ... Die Frage ist, wie man das in eine Erzählung bringen kann. Erzählung heißt ja, dass man etwas auf eine Reihe bringt, man muss es nacheinander erzählen, während die Karte, die ich mir zurechtlege, eine des Nebeneinanders ist. Bis man dann diesen Punkt hat, von wo aus sich diese Übersicht zwanglos erzählen lässt, das ist ein sehr spannender Vorgang. Es läuft letztlich alles in der Frage nach dem ersten Satz zusammen. Ich kann immer erst anfangen ein Stück zu schreiben, wenn ich den Ton habe, und das ist immer der erste Satz. Wenn er zu hoch ist, und man kann den Ton nicht halten, dann wird es entweder zu pathetisch oder zu angestrengt. Wenn er zu tief ist, wird es spannungslos und langweilig und man muss dann irgendwelche künstlichen Steigerungen einbauen ... "

    Überlegungen des Schriftstellers Karl Schlögel, der sich seit einem Vierteljahrhundert, seit seiner ersten aufsehenerregenden Studie "Moskau lesen", der chronotopischen Vermessung Osteuropas verschrieben hat. Als Historiker musste er sich des Vorwurfs "Wer schön schreibt, der lügt" erwehren - ausgesprochen hat ihn ein Kollege mit standesgemäßem Mißtrauen gegen literarische Qualität in der Wissenschaft. Für sein Werk, in dem wissenschaftliche Genauigkeit und analytische Kraft in spachlicher Brillanz zusammenschießen, hat Karl Schlögel am 23. Januar den renommierten Lessing-Preis der Hansestadt Hamburg bekommen. Herzlichen Glückwunsch nachträglich!

    Karl Schlögel, Marjampole oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte
    Carl Hanser Verlag, München 2005, 318 Seiten.