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Das "Neue Hörspiel" ist nun auch schon 40 Jahre alt

Für Erneuerung steht das Jahr 1968. Und das auch im Hörspiel. Nach Jahren, in denen sich die Rückkehrer aus dem totalen Krieg die Wunden leckten in inneren Bildern und rätselhaften Träumen, in denen sie die gerade überwundenen Ungeheuerlichkeiten oft ebensosehr verschleierten wie zu verarbeiten versuchten, erwachte das Hörspiel Ende der Sechziger Jahre aus seinem zwar publikumswirksamen, aber nicht eben innovationsfreudigen Dornröschenschlaf und fand damit den Anschluss an eine Entwicklung, die andere Künste schon weit vorangetrieben hatten.

Von Frank Olbert |
    Nach der Neuen Musik und der Konkreten Poesie, der Happening- und Fluxus-Bewegung und den taumelnden Blumenkindern in Woodstock, nach dem Aufstand der Nouvelle Vague gegen die Ästhetik Hollywoods und dem Abschied des Neuen deutschen Films von Papas Kino.
    Herr Meissner, was hat das Jahr 1968 dem Hörspiel gebracht?
    Das Jahr 1968 ist als Geburtsjahr des Neuen Hörspiels in der Hörspielszene bekannt geworden. Die Bedeutung dieses Epochenumschwungs kann man daran ermessen, was dadurch in Vergessenheit geraten ist, nämlich alles was vorher war. Vom Hörspiel der Sechziger Jahre ist im kollektiven Gedächtnis nicht viel übrig geblieben. Man erinnert sich noch an Günter Eich, aber das war es auch schon.
    Wie kam es zu dieser Entwicklung?
    Es gibt mehrere Voraussetzungen, die erfüllt werden mussten, damit das Neue Hörspiel entstehen konnte. Das eine war eine technische Voraussetzung: die Einführung der Stereophonie. Sie hatte direkten Einfluss auf die Theorie des Hörspiels, denn was vorher insbesondere von dem Hamburger Dramaturgen Heinz Schwitzke als Innerlichkeit oder eine Art Kino im Kopf propagiert wurde, das spielte sich jetzt woanders ab, nämlich im Hörraum selber, zwischen den Lautsprechern. Heinz Schwitzke als Theoretiker des Hörspiels der Fünfziger Jahre wurde abgelöst von Friedrich Knilli, der die Theorie des "totalen Schallspiels" entwarf. Weitere Anstöße kamen von der Neuen Musik und durch das Originalton-Hörspiel. Schließlich kam ein neues Personal. Aus Argentinien kam Mauricio Kagel nach Köln, John Cage kam nach Deutschland. Kaum zu unterschätzen ist die Bedeutung der Dramaturgen, die den neuen Strömungen auch Sendeplätze verschafften, allen voran Klaus Schöning beim Westdeutschen Rundfunk.
    Erweiterte das "Neue Hörspiel" außer der Ästhetik, auch die Inhalte des Radiogenres?
    Ja, das hat sich zweifellos auch geändert. Früher hieß es noch mit Werner Höfer 'Mir geht kein Arbeiter unkommentiert über den Sender'. Als die Studenten vor den Fabriktoren Revolution machten, gab es dann auch den Arbeiter im Original-Ton im Radio. Erika Runges "Bottropper Protokolle" sind dafür ein prominentes Beispiel. Wobei man nicht verkennen darf, dass es avantgardistische Literaten gab, die schon viel früher angefangen hatten: Paul Wühr, Ludwig Harig, Jürgen Becker, die alle schon Mitte der Sechziger Jahre experimentell gearbeitet haben, die aber dann erst nach 68 auch als Hörspielautoren bekannt wurden.
    Welche Bedeutung haben die damals entwickelten Hörspielformen heute?
    Es gibt eine Traditionslinie, die sich ästhetisch fortbewegt. Es gibt auch heute traditionell erzählte Hörspiele, aber das was einen weiterbringt, ist das, was man experimentell nennen könnte.

    Drei Hörspiele nicht von, sondern über 1968 hat der Westdeutsche Rundfunk zu einer kleinen Reihe zusammengestellt: So beschäftigt sich Mareike Maage am Montag, den 3. März in ihrem Beitrag "Idee und Realisation" mit Marcuse, und zwar am Montag, den 3. März um 23.05 Uhr auf WDR 3 und am Dienstag, den 11. März um 23 Uhr auf 1Live.
    Leslie Rosin fragt im Mai: "Wa wa was ist los? - `68 und das Hörspiel". Im April ist Christoph Schlingensiefs parodistisches Hörspiel "Rocky Dutschke `68" wiederzuhören. Der Theaterregisseur, Performancekünstler und Filmemacher hat es teilweise in seinem Wohnzimmer aufgenommen - unter Protest der Nachbarn. WDR 3 sendet es am Montag, den 7. April um 23.05 Uhr. Auf 1Live ist es am Dienstag, den 8. April um 23 Uhr zu hören