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Das neue Russland

Tschingis Aitmatows Roman "Der Schneeleopard" ist hochmoralisch. Der Zynismus seiner jüngeren Schriftstellerkollegen ist ihm fremd. Wie seine Hauptperson Arsen glaubt Aitmatow bedingungslos an das Wahre, Gute, Schöne.

Von Simone Hamm | 28.05.2007
    Der Schneeleopard zieht sich ins Gebirge zurück. Verdrängt von einem jüngeren, stärkeren Tier, verstoßen von seinem Rudel. Er lebt und jagt allein. Er ist nicht mehr so schnell wie einst, seine Bewegungen sind weniger kraftvoll. Obwohl er noch immer ein schönes, mächtiges Tier ist, spürt er den nahenden Tod.

    Der Journalist Arsen Samantschin ist unter Gorbatschow ein gefragter Schreiber gewesen. Jetzt häufen sich die angefangenen Artikel auf seinem Schreibtisch. Zu kritisch geht er mit den Auswüchsen der neuen Marktwirtschaft um. Für dieses System, in dem sich einige wenige schamlos bereichern, haben die Demokratieanhänger nicht gekämpft. Seine Freundin, eine Opernsängerin, hat Arsen an einen windigen Impressario verloren. Sie trällert jetzt Popsongs. Und dabei war es doch beider Traum gewesen, aus der Legende von der "ewigen Braut" eine Oper zu machen. Arsen schmiedet grausame Rachepläne.

    Mit diesen beiden Handlungssträngen beginnt Tschingis Aitmatows Roman "Der Schneeleopard". Das Schicksal, so Aitmatow, wird Mensch und Tier zusammenführen. Arsen steht für eine vergangene Epoche. Er glaubt an das Gute, die Rechtschaffenheit und an seinen Traum von der Oper. So jemand hat keinen Platz, weder im neuen Russland noch im unabhängigen Kirgisien, so wenig wie Platz für einen alten Schneeleoparden im Rudel ist.

    "Hier werden Mensch und Tier zu einem gemeinsamen Schicksal zusammengeführt, denn nicht nur der Mensch, der aus seiner Gesellschaft verstoßen worden ist, ist zum Untergang verurteilt worden ist, sondern auch dieses Tier. Mehr noch: Wir haben es nicht nur mit dem individuellen Tod des Schneeleoparden zu tun, sondern, wenn der Kommerz so weitergeht, wenn die Bedrohung durch die Marktwirtschaft anhält, wird das ganze Geschlecht des Schneeleoparden vom Aussterben bedroht sein. Ja, generell ist die Marktwirtschaft eine Bedrohung für die Umwelt nicht nur für die Schneeleoparden, sondern auch für alle anderen Tiere, alle unsere Brüder mit denen wir dann zusammen untergehen müssen letzten Endes."

    Denn auch die Menschen trachten dem Tier nach dem Leben. Zwei arabische Prinzen lassen sich einfliegen, um auf Schneeleopardenjagd zu gehen, und Arsen soll für sie dolmetschen. Deshalb kehrt er zurück in seine Heimat, in sein Bergdorf, auf den Hof seiner Familie:

    "So entfernte er sich an dem Tag über Hügel und Berge auf der sich dahinschlängelnden Straße in seinem Wagen weiter und weiter von den in der Stadt angespülten Millionen gleichartiger Wesen, die von Gott, falls es ihn gibt, vergessen wurden oder die Gott, falls es ihn gab, vergaßen."

    Arsens Dorf hat sich verändert. Zwar sind die Menschen immer noch bitterarm, aber sie glauben doch an die Kraft des Kapitalismus. Sie verkaufen das einzige, was sie zu verkaufen haben: die Natur. In einer globalisierten Welt, in der die Massenkultur noch den hintersten Winkel in Kirgisien erreicht hat, sind Menschen wie Arsen, die doch die Wahrhaftigkeit suchen, genauso vom Aussterben bedroht wie der Schneeleopard.

    Aitmatow schildert das lange Sterben des Schneeleoparden, seine Schwäche, seine vergeblichen Bemühungen, einen Gebirgspass zu überqueren, einfach großartig. Ebenso gelungen sind seine Naturbetrachtungen. Die Reflexionen über die Wahrhaftigkeit jedoch geraten bisweilen etwas zu pathetisch. Und seine Figuren sind nicht gerade vielschichtig. Arsen ist der gute Mensch, der Impressario verkörpert die Oberflächlichkeit und die Raffgier einer neuen Zeitordnung.

    Aber genauso sieht Aitmatov die Menschen im neuen Russland, im jungen Kirgisien. Er fragt sich, wie man eine Situation ändern könne, in der sich der eine ein ganzes Fußballteam kaufen kann und der andere nicht einmal Schuhe für seinen Sohn? Er lässt seinen Helden Arsen kämpfen.

    "Was das Schicksal des zweiten Helden angeht, er ist ein Bewahrer von Werten, wahrer Werte, daher seine Kritik an der Massenkultur, der wir heute alle unterworfen sind, die alles überschwemmt. Er möchte eben die wahren, die ewigen Werte bewahren. Deswegen träumt er von der Oper 'Die ewige Braut', und er möchte diese Werte nicht nur für sich bewahren, sondern das auch weiter tragen, in seiner Umwelt weiter verbreiten, damit das erhalten bleibt."

    Arsen will sich mit dem Ausverkauf seiner Heimat nicht abfinden. Zunächst wiegt sein Zugehörigkeitsgefühl zum Clan stärker, er wird für die arabischen Prinzen dolmetschen.

    Doch seinem alten Klassenkameraden Taschtanaafghan reicht das noch immer nicht. Das "afgan" hat er seinem Namen angehangen, weil er einst in Afghanistan gekämpft hatte. Dort ist er zum müden Zyniker geworden. Er, der als Treiber bei der Jagd mitmachen soll, will noch mehr Geld aus den Prinzen herausschlagen:

    "In seinem Dollarfieber steckte eine stärkere Kraft als in der Ekstase einer tausendköpfigen Menge von Schamanen. Gegen diese Zaubermacht war kein Kraut gewachsen."

    Arsens Schulfreund will die Prinzen gefangen nehmen und sie nur gegen ein hohes Lösegeld freilassen. Arsen soll die Forderungen stellen. Sollte dieser den Plan verraten, wird er ebenso ermordet werden wie die Prinzen. Die Situation scheint ausweglos.

    Arsen ist verzweifelt, da trifft er eine junge Frau und verliebt sich auf der Stelle in sie. Vergessen ist die Popsängerin, verraucht die Wut auf den Impressario. Die junge Frau wettert gegen die Jagd, gegen den Ausverkauf der Natur, gegen das kurzzeitige Denken.

    "Wahre Gefühle, tiefe Empfindungen helfen einem Menschen auch aus aussichtslosen Situationen heraus. Er kann dann richtig handeln, ohne sich immer dessen eigentlich bewusst zu sein. Diese junge Frau hilft Arsen aus der Sackgasse, obwohl sie gar nicht weiß, dass er in einer steckt. Trotzdem ist sie sensibel genug und klug genug, um zu sehen, dass er ein Problem hat. Sie gibt ihm den Anstoß da herauszufinden. So findet die Wahrheit eben ihre Umsetzung im Leben. Und das halte ich für sehr wichtig, dass die Wahrheit letzten Endes siegt."

    Arsen wird ganz pathetisch für das Erkennen und Bewahren dieser Wahrheit mit dem Leben bezahlen. Er verhindert das Attentat. Nie wird jemand davon erfahren, wie nahe die Kirgisen an der Katastrophe vorbeigeschlittert sind. Arsen stirbt gemeinsam mit dem Schneeleoparden. Auf dieses Ende des Romans hat Aitmatow von Beginn an angespielt. Niemand kann den Lauf der Welt, die Auswüchse des Kapitalismus noch aufhalten. Und: niemand kann seinem Schicksal entrinnen. Ist das nicht sehr pessimistisch?:

    "Das Schicksal ist ja etwas Ewiges, das uns immer begleitet und das immer da ist. Immer wieder wird mir vorgeworfen, dass meine Werke so pessimistisch enden. Natürlich möchte der Leser gern etwas Erfreuliches zum Schluss, möchte, dass alles gut ausgeht, möchte etwas Herz Erwärmendes haben. Manche Autoren richten sich danach. Ich bin nicht von dieser Art. Ich möchte den Leser zum Mitleidenden machen, möchte ihn in die Lage versetzten, dass er über die Dinge, die er gelesen hat, weiter nachdenkt, dass das in seiner Seele bleibt. Denn wenn ein Buch gut ausgegangen ist, vergisst man es nach einer Weile, während man, wenn es offen bleibt und man als Leser mitleidet, sich immer wieder und immer weiter damit beschäftigt."

    Tschingsi Aitmatow stellt den Mythen seiner Heimat, den grandiosen Naturbeschreibungen das raffgierige Russland, das verlorene Kirgisien gegenüber. Sein Roman "Der Schneeleopard" ist hochmoralisch. Der Zynismus seiner jüngeren Schriftstellerkollegen ist ihm fremd. Wie seine Hauptperson Arsen glaubt Aitmatow bedingungslos an das Wahre, Gute, Schöne. Auch die fünfzehn Jahre, die er schon in Brüssel lebt als Botschafter seines Landes, wo er jeden Tag aufs Neue auf den Boden der politischen Realität geholt wird, haben daran nichts ändern können.


    Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard
    Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer.
    Unionsverlag, 313 Seiten
    19,90 Euro