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Das Paradoxon der Wapiti
Hirschruf mit Doppel-Effekt

Je größer der Körper, desto tiefer sind bei Säugetieren die Rufe: Diese Faustregel gilt bei Elefanten und Mäusen, doch es gibt Ausnahmen wie die Wapitis. Die Männchen dieser nordamerikanischen Rothirsche produzieren hohe, fanfarenartige Klänge, die so gar nicht zu ihrer Körpergröße passen wollen. Erst wenn man genau hinhört, klärt sich das Rätsel.

Von Lucian Haas | 21.04.2016
    Ein röhrender Wapitihirsch auf einer Wiese im Rocky Maintain National Park.
    Ein Wapiti-Hirsch im Rocky Mountain National Park (imago stock&people)
    Es klingt wie das Solo einer Freejazz-Klarinette, ist aber der pfeifende Signalruf der nordamerikanischen Variante eines Rothirsches. Wapitis sind mit einer Widerristhöhe von 1,60 Meter die größten Hirsche der Welt. Eigentlich würde man angesichts ihrer Körperausmaße viel tiefere, röhrende Rufe erwarten.
    "Es gibt da etwas, was wir akustische Allometrie nennen. Das bedeutet, dass große Tiere eher Laute mit tiefen Basisfrequenzen und tiefen Resonanzen produzieren, während kleine Tiere zu hohen Tönen tendieren."
    David Reby ist Bioakustiker an der University of Sussex. Auf der Suche nach einer Erklärung für das akustische Paraxodon der Wapitis, deren Rufe scheinbar nicht zu ihrer Körpergröße passen, schickte er seine Mitarbeiterin Megan Wyman bis nach Neuseeland. Dort gibt es eine Zuchtstation für Wapitis und die Möglichkeit, ihre Klänge aus nächster Nähe aufzunehmen. Bei der Analyse der Tondaten zeigte sich eine Überraschung.
    "Immer, wenn ein Wapiti in der Aufnahme ertönte, röhrte zugleich ein Rothirsch. Nur gab es dort keine Rothirsche. Es war ein einzelnes Tier, das die Rufe von zwei Tieren gleichzeitig produzierte."
    Wapitis kennen auch Bässe
    Angesichts der beeindruckenden hohen Fanfare, war bisher keinem Wissenschaftler aufgefallen, dass die Wapitis auch im tiefen Bass röhren. Umso mehr war David Reby nun angeregt, dem Rätsel der Wapiti-Rufe auf den Grund zu gehen. Zum einen startete er detaillierte Audio-Analysen und konnte so nachweisen, dass sich die Rufe tatsächlich aus einem Doppelklang zusammensetzen, deren Frequenzen sich völlig unabhängig voneinander entwickeln.
    "Wenn man das hohe Pfeifen aus den Rufen ausfiltert, bleibt nur das tiefe Rothirschröhren übrig. Das klingt ganz normal für ein Tier dieser Größe."
    Die tiefen Töne produzieren die Wapitis mit ihren Stimmbändern. Das fanfarenartige Pfeifen muss allerdings einen anderen Ursprung haben und scheint wie der Ton eines Blasinstruments beim Auspressen der Atemluft zu entstehen. David Reby ließ mit einem Computertomografen die Öffnungen im Schädel eines toten Wapitis vermessen und stellte anschließend akustische Modellrechnungen an.
    "Als wir in unserem Modell als Parameter das Lungenvolumen eines Wapitis, die Größe der Resonanzräume und die Geschwindigkeit des Luftstroms einsetzten, zeigte sich, dass ein Blasinstrument mit diesen Werten im gleichen Frequenzbereich tönen würde wie die Fanfare der Wapitis."
    Zwei Rufe in einem
    Warum die Wapitis ihre Doppel-Lautgebung entwickelten, ist unklar. David Reby hat eine Theorie: Das tiefe Röhren dient wie bei anderen Hirschen als Signal der Körpergröße. Allerdings ist es nicht so laut und nur im näheren Umfeld der Tiere zu hören. Mit ihrer durchdringenden Fanfare könnten die Wapitis wiederum in den weiten Landschaften Nordamerikas sich auch über größere Distanzen Gehör verschaffen.
    Der Forscher ging auch noch einer weiteren Frage nach: Warum haben andere Studien das Röhren der Wapitis nicht beachtet, sondern immer nur das hohe Tuten behandelt?
    "Es war interessant, die früheren Studien nochmals anzuschauen. Der tieffrequente Teil der Rufe war in den Daten präsent, aber die Forscher haben ihn nicht bemerkt. Das wirft ein interessantes Licht auf die Wissenschaft: Wir tendieren dazu, nur das zu sehen, wonach wir auch suchen.
    Wenn man nun weiß, dass es da ist, ist das Röhren der Wapitis neben dem Tuten nicht mehr zu überhören.