Ist das nicht eine schöne, überraschende Spieleröffnung? Dem Tod Modell sitzen, bis er einen ganz fertiggestellt, ganz erkannt hat? Mit diesem keckem hoffmannesken Einfall beginnt die Titelgeschichte in Botho Strauß‘ neuem Erzählband "Das Partikular", und gern nehmen wir dem angeheiterten Ton das Versprechen ab, dass uns hier ein sentimentaler Stoff- das Leben- wieder in einer phantastischen Form dargeboten wird. Damit hat uns der Autor in den letzten Jahren ja nicht gerade verwöhnt. Er war uns gram, wollte der verkehrten Welt nicht länger schmeicheln, indem er sie zum Ausdruck brachte, indem er theatralisch erhöhte, poetisierte, was doch zum Verschwinden gebracht werden müßte. Der faustische Kaplan, der in ihm steckt, ein ins Heilige verliebter Dämon, der sich schon in den frühen Stücken raunend zu Wort meldete, hatte jetzt ganz das Zepter übernommen und las uns im "Spiegel", diesem Vademecum der frommen Lebensart, die Leviten. Die Öffentlichkeit konnte ihrer Beschimpfung trotz der komischen, ja surrealen Seite dieses donquichottischen Vorgangs naturgemäß nichts abgewinnen, und der menschenscheue Prophet entfloh ihren Schlägen in den hortus conclusus ländlicher Abgeschiedenheit, ins innere Exil eines einsamen Priesterkönigtums. Als Nachgeborener und "Schriftfortsetzer" der großen einsamen Höhenwanderer wanderte er über den "Bühel" und suchte Trost am Busen der Natur, die doch längst selbst zur Patientin geworden war. Auch ihre Gaben wurden ja verschmäht. Das Heu nahm niemand mehr von den Wiesen, und die herbstlichen Bäume standen "wie abgedankte Könige in alten Festgewändern" da - wie der von "Einstweh" ergriffene Dichter, der zwischen Schlehen und Pfaffenhütchen der Welt abhanden kam. So las es sich jedenfalls in dem 1997 erschienenen literarischen Protokoll dieser mystischen Entrückung, dem Buch mit dem Titel Die Fehler des Kopisten, und wir fürchteten schon, daß es mit dem Autor, den wir doch brauchen, ein vorzeitig frommes Ende nehmen könnte wie mit Brentano am Krankenbett einer verzückten Nonne.
Doch gottlob, es kam ganz anders. Botho Strauß tut im neuen Prosaband etwas Überraschendes und wunderbar Angemessenes: er holt diesen weltkranken savonarolahaften Eiferer, der uns, vielleicht auch ihm selber im letzten Jahrzehnt etwas zuviel geworden war und der das poetische Vermögen des Autors nach Kräften hintertrieben hat, von seinem Nagelbrett und legt ihn - nicht aufs Krankenbett, aber auf die Couch einer luziden erzählerischen Exploration. Macht ihn zum Fall, zur Figur und läßt nicht zu, daß der so zu Fall Gebrachte sich mit seiner Verstiegenheit, seiner Besessenheit in die Souveränität des Autors einmischt. Und siehe da, vermittels dieser spielerischen Operation romantischer Ironie, sprich: komischen Selbstvernichtung erreichen die neuen Geschichten eine erzählerische Spannung und poetische Fallhöhe wie schon lange nicht mehr.
Komische Selbstvernichtung also. Darum gehts. Der bis zur Verbohrtheit anspruchsvolle Wahrheitssucher, Gottsucher als Narr. Ihn führt uns der selbsterfahrene Autor mit seinen blühendsten Symptom-Varianten vor. Da ist der Mann, der dem Tod Modell sitzt. Auch, wenn man so will, eine therapeutische Sitzung. Der Klient ist aber mißtrauisch. Ist dieser Maler vielleicht nicht begabt genug, um seine ganze Hohlheit, "den ganzen Abgrund an Falschheit und Nichtswürdigkeit" in ihm aufzudecken. Er zwingt ihn, ihn immer besser, immer genauer zu sehen, den "ganzen biographisch spirituellen Komplex" , jede Lebenskrume, Lebensritze an ihm zu studieren. Dem Maler geht er damit gehörig auf die Nerven. Schließlich ist er ja der Tod:
"Das Leben, das Leben! Dem Maler wurde es das ärgste Wort. Wie weit noch sollte er sich vertiefen in dieses Mannes Morast?! Er betrachtete die nackten Männerwaden des Auftraggebers, haarig, mit heruntergerutschten Strümpfen. Er sah ihn Wache sitzen in klobigen Schuhen, schlapper Unterhose im Zebralicht, das durch die Jalousien fiel. Wache sitzen vor ihm, dem Maler, seinem Häftling. Er hörte die Gestalt Speichel schlürfen und sich räuspern. Er hörte das jeder wahren Verlorenheit widersprechende seiner Worte. Jedes Wort war ein zu hoch gegriffenes für die Lage, in der sich der ihm Sitzende befand. Was also war von diesem Wesen auf die Leinwand zu bringen? Ein Verschwundensein, das allein noch der Verschwundene selbst überwachte. Ein Gemälde, von dem aus der Portraitierte jeden zuerst erblickte, der ihn erblicken konnte.. Das Portrait, das der einzigen Obacht des Portraitierten, ungesehen zu bleiben, gerecht werden mußte."
Der Maler ist seinem Auftraggeber schon ganz schön auf den Grund gekommen, doch lassen wir diesen selbst noch zu Wort kommen mit der beeindruckenden Rechtfertigung seines "saturnischen" Temperaments, sprich seiner Verbiestertheit
"An den Rand des Größenwahns treibt mich das geringste Kompliment.. so daß in einem solchen Augenblick mein beständiges Unglücksgefühl als aus der Luft gegriffen, als von jeher falsch empfunden erscheint. Es genügt ein winziger heller Ton und der liebe schwarze Horizont reißt entzwei und quillt von goldnem Morgen über... Doch es dauert nicht lange und ich bin doppelt zerknirscht über den Seitensprung meines Herzens, ich schäme mich für die hastig vollzogene Untreue, mit der ich meinen aufrichtigen Kummer hinterging, der es immer gut mit mir meinte, Saturns mustergültigem Sproß."
Bleiben wir noch einen Moment bei den saturnischen Charakteren, bevor wir zu den lunatischen kommen. Eine Frau versteht ihren Mann nicht. In Gesellschaft ist er groß in Form, ein attraktiver Unterhalter der Runde, gewandt, schlagfertig, bewegt, richtig erotisch in seiner sicheren animalischen Selbstbehauptung. Dochkaum zuhause, leugnet er das alles ab, die ganze schöne Rolle vor den anderen, die ihn so anziehend machte, denunziert er als Lüge, Notwehr, Unwahrheit, der elende Wahrhaftigkeitsnarr und zersetzt damit alle Erotik.. Die Sünde der Melancholie gegen das Leben, die Liebe, so kann man es sehen. So sieht es die Frau.
"Wozu muß er sein Ansehen schmücken, das er, kaum zu Haus, mir gegenüber, für null und nichtig erachtet? Er wird sich die Brust aufreißen und sagen: Ich hatte das Gefühl, ich könnte in dieser Minute nur mit einem geschickt gewählten Beispiel, mit einer verblüffenden Erfindung überzeugen, nur deshalb griff ich zur Unwahrheit. Um zu überzeugen ist ja nur eines ausschlaggebend: Tonfall, Stimme, Timbre... Anklang! Daran fehlt es mir. Nur die Art, in der man spricht, überzeugt. Und meine Art überzeugt eben nicht. >Aber du hast schließlich die ganze Gesellschaft unterhalten!< werde ich dann einwenden.>Was blieb mir anderes übrig? ..Meine bis heute ungeklärte Begabung: jede auch noch so simple Angelegenheit in unendliche Nuancen aufzulösen, bis jeder Sinn, jeder feste Umriss ihr entwichen ... Hohe Auflösung! ... Wahrhaftig! ... Diese erbärmliche Begabung, die mich zwingt, immer feiner und fiebriger zu sprechen, unbedingt zu Ende zu sprechen, was ich einmal zu sprechen begonnen habe, lassen sie ungerührt uber sich ergehen, und diese Töne ernst genommen haben lassen sie mich emsig in Halbtöne, in Zwischen- und Untertöne zerlegen, ohne mir irgendeinen Glauben zu schenken, will er sich endlos schuppen? Diese Frage sehe ich quer über ihre Stirn geschrieben - und muß um so emsiger weiterreden, muß nochmals teilen und spalten."
Wenn die Lüge in der Liebe von einer gewissen Anmut und Unschuld ist und eine wohl notwendige Produktivkraft, um das Rad des Lebens in Bewegung zu halten, so wäre dies in der Kunst eine gewisse poetische Unbefangenheit, sprich Freiheit von allzu blässendem Bewußtsein, das -nach Kleist zur "Ziererei" führt, da die Seele aus dem Schwerpunkt ihrer Bewegung gerutscht ist. "Welche Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen das Bewußtsein anrichtet"- so Kleist- davon hat uns Botho Strauß schon manches Beispiel gegeben. Und doch: dieses Zergliedern, die "hohe Auflösung", der wir auch diese schöne selbstkritische Passage soeben verdanken, ist der einzige Weg, um das Rätsel der Ganzheit aufscheinen zu lassen, das die fröhlich affirmativen Schilderer, von denen wir ja in der Literatur viele haben, in ihrer Zerstreutheit nicht mal streifen. Das ist die schwierige doppelte Wahrheit.
Wie hat der Maler Tod das Portait des saturnischen Mannes schließlich auf die Leinwand gebannt? Als schweren nach vorne gesunkenen grauen Männerkopf, der auf Knabenschultern ruht. Schwer und grau von Metaphysik, von bohrenden Fragen und heißem Bemühn. Man kann sich denken, daß dieser verhinderte Priester und noch viel verhindertere Weltmann sich schwertut mit der "Frau Welt". Er sucht das ihn erlösende ganz Andere, das ihm zum Paradies fehlt und wählt am liebsten die, die garantiert, daß er es wieder verlieren wird: die Verführerin, die Schlange, die Nymphomanin, schöne Melusine. Kopftier und Naturdämon, sie stürzen sich ineinander, zwei entgegengesetzte Zwitterwesen, die doch eben deshalb nicht zueinander finden können.
"Die Schönheit, bei all ihren vergeblichen Versuchen, Bitternis sich einzuverleiben, wird diese dennoch niemals besitzen, niemals verstehen - weil sie eben die Schönheit ist. So wenig wie das Feuer bei all seinem Geist irgendeine Möglicjkeit besitzt, das dunkle Wasser zu verstehen - sie gehören im Urgrund zusammen, soviel ist beiden Elementen erinnerlich, und wissen doch, daß ihre Beschaffenheit kaum mehr als eine flüchtige Berührung zuläßt."
Er nennt sie vielleicht "seine Alliierte", sie ihn "mein Einziger", doch sie sind schon im Anfang Entzweite und bleiben "einander Ungeschickte". Sie können nicht miteinander leben, aber oft auch nicht voneinander loskommen. Oder nur gewaltsam über Jahre endlos "ermattenden Kreisens im Problemkreis", schmerzlich mißtönend wie Klettverschlüsse, die man sehr langsam auseinanderreißt.
Ja, sie war ganz Ohr; auch wenn sie sich erkundigte und durch alle freundlichen Fragen nur die eine große Frage nach meinem Verderben stellte. Auch wenn sie sprach, klang ihr Gehör, und aus ihrem Gehör vernahm ich den Grundton der Verurteilung, der mörderischen Bitternis und Trauer."
Die "mörderische Bitternis" war schon das beherrschende Sujet der beiden Prosabände Niemand Anderes von 1987 und Wohnen Dämmern Lügen von ‘94. Da gab es Frauen, die buchstäblich "das entsetzte Nachsehen" hatten, nach der Trennung gleichsam ihr Leben lang auf der Bettkante sitzen blieben und alt wurden mit ihrer ewig jungen Kränkung im Herzen. Die -wie man nachtragenden Elefanten nachsagt- noch nach Jahren, Jahrzehnten in ihrer maßlosen Treue zuschlugen, ihren entlaufenden Fern-Idolen säuselnde Rachebriefe zur neuen Hochzeit sandten oder selber als femme fatale-Seniorin plötzlich in der Tür standen, um den alten Kampf wieder aufzunehmen.Im neuen Erzählband gibt es allerdings ein Beispiel einer, wenn auch späten Einsicht
"Antonie sprach noch einmal von der unendlich leichten Fracht, die ihr sterbender Mann auf ihren Armen war, und meinte, daß sie ihn erst ganz zum Schluß als das fremde Wesen erkannt habe, das er ihr längst hätte sein können, wenn ihnen rüde Vertraulichkeiten nicht den Blick aufeinander verstellt hätten."
Das ist unser Problem. Wir wollen nichts Fremdes, Mythisches mehr anerkennen. Haben ja alles längst erkannt, alle Poren mit gleichgültigem Wissen verstopft, sind zu stolzen nüchternen Gefühlsanalphabeten geworden. Unser kalt taxonomischer Verwertungsblick hat uns selber entwertet. Das sind für Botho Strauß Kardinalsünden der Gegenwart. Er möchte die mythische Zeit, die um und in uns ist, in der unsere Gebärden, Ängste und Verlorenheiten wurzeln in allem sichtbar machen. Uns wie ein Mystagoge mit einer reicheren wunderbareren Wirklichkeit vertraut machen, für die wir kein Sensorium mehr haben. Im "Nebel unserer Erklärungen" glauben wir dies oder jenes zu sein und sind doch ganz andere. Wir hören uns dies oder jenes sagen und können es doch nicht deuten
"Ich bitte dich...! Eine immerzu Bittende, Flehende war sie geworden, doch war nie zu hören, worum sie bat. "Ich bitte dich...! Nur immer die Ellipse, der Ausruf, die Ermahnung, die Aufforderung, Einhalt zu leisten.. Aber wenn er nun einhielt, ihr Zeit zum Sprechen ließ, dann kam nichts von ihr. Sie blieb still und hörte, als spräche er noch. "
Ein Tierchen in der Falle, das den Ausgang sucht? Eine der wunderbar gesehenen, erfundenen lunatischen Stromerinnen bei Botho Strauß. Wie Lotte in Groß und Klein oder wie die "schöne Melusine", unerlöste Körperwesen in der männlichen Sphäre, "streunend sehr Zerstreute", die unentwegt etwas verlieren, zu Boden fallen lassen, verlegen, vergessen, unentwegt suchen, was sie doch nicht finden können.
"Wie sie hockt oder kauert auf ihrem Stuhl, die Knie unter die verschränkten Arme zieht, den Mund auf den rechten Bizeps preßt, sich rund macht, um sich zu verbergen, zu verschließen, und dabei die dunkle Scham anhebt, schutzlos bietet, die Runde nackt auf ihrem Stuhl. Während das Gesicht sich abwendet von ihm, zeigt sie die Scham, der Mund beißt kindisch in den eigenen Armmuskel, da nichts mehr zu erwidern ist auf seine Worte ..."
Irgendwann hocken und kauern sie alle irgendwo, auf einem Bänkchen nachts im Hobbykeller des Mannes, auf der Kuppe eines Pollersteins, der Uferböschung mit dem Rücken zur Schnellstraße, als säßen sie dem Tod, dem sie gleichgültig sind, Modell.
"Figur werden, dachte sie, unbeweglich nahezu, endlich angekommen in diesen Gliedern.. Als wenn man nicht längst erstarrt wäre... Das Leben verbraucht den Kraftstoff Zeit, um damit den Stillstand zu erzeugen. Erstarrmaschine. Braucht eine Unmenge an Gehüpftem, braucht Grapschen, Schlingen, Gedankenblitze, schnelle Beine, um schließlich diese erhaben ruhende Skulptur hervorzubringen. Man laokoonisiert, langsam, ganz allmählich geht das Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit über."
Die letzte Passage stammt aus dem Prosaband Wohnen Dämmern Lügen. Vielleicht bemerkt man, daß sie unsinnlicher, konstruierter, etwas outrierter wirkt als die zitierten Momentaufnahmen aus dem neuen Buch. Diese Differenz gilt im Ganzen. Botho Strauß hat seine elliptische Erzählform -wie ich finde- ungemein verfeinert, radikalisiert, von neologistischem Zierat und Erklärungs-Ballast weitgehend befreit. Ein filmisch- photographischer Blick mit Fokus auf dem scheinbar Ephemeren, schnelle Schnitte, erzählerische Positionswechsel in den bis zu dreißig, vierzig Seiten langen assoziativ komponierten Geschichten. Dafür "lange Momente" wie bei Robert Wilson- "Stupor-Pausen", gelähmte Zeit, die zu Raum wird. Das ist Programm. Naturgeschichte, Mythos, "Tiefenerinnerung", Geburt und Tod - alles ist gleichzeitig da. Wie in den früheren Prosa-Bänden haben wir wieder einen Reigen kleiner Skizzen, Szenen, "Denkbilder", Gleichnisse. Dazwischen gleichsam als Bekenntnis zur mythischen Dichtung ein artifizielles Dialog-Poem über Liebe und Entsagung eines keltischen Ritters, eine Kafka-Replik, eine delikate Satire auf Sloterdijk und drei kleine "kondensierte Romane", die alle drei sehr schön, von feinem poetischen Takt sind. Daß der Autor sich diesmal wieder mit in den Käfig der Zeit gesperrt hat, macht ihn wieder zu einem Vornehmsten der Unfreien.
Wenn der kulturkritische Dämon in den Texten wieder missionieren will, kommen ein paar -nicht nur taktisch eingesetzte Gegenstimmen zu Wort. Sogar das Mythisieren hat diesmal nichts Angestrengtes mehr wie noch inWohnen Dämmern Lügen, sondern etwas experimentell Spielerisches, das sich mit der Beobachtung, der Feineinstellung des erzählerischen Partikulars durchaus verträgt. Was ist damit gemeint: Partikular? Es hat nichts mit Partikeln oder "Partikularteilen" zu tun, wie schon mißverstanden wurde. Der Mann, der dem Tod Modell sitzt, beschreibt, worum es geht
.Was sieht das Auge des Todes von mir? Nur mein mühseliges Entgegenkommen. Nichts als ablaufende Zeit. Gesehen aber, wahrhaftig gesehen werde ich nur durch Sein Partikular. Das Partikular, durch das der Ewige uns sucht, erfaßt uns ohne zeitliches Brimborium, ohne geschichtliche Ergänzung oder Verfälschung. Erkennt jeden in seiner göttlichen Vereinzelung."
"Die Stärkung des Einzelnen; des armen Kierkegaardschen Einzelnen", wie es in einem früheren Text einmal heißt, war schon immer Botho Strauß‘ Anti-Programm gegen die Kaltschnäuzigkeit der Geschichte. Der kostbare Einzelne in seiner vollständigsten Signatur, "nichts fehlt" - das erinnert auch an das Konzept der Enzyklopädie der Toten von Danilo Kis. Das Andenken und die Liebe, die bei Kis den Toten gehört, gehört bei Botho Strauß der unsterblichen Realpräsenz des Mythischen.
Doch gottlob, es kam ganz anders. Botho Strauß tut im neuen Prosaband etwas Überraschendes und wunderbar Angemessenes: er holt diesen weltkranken savonarolahaften Eiferer, der uns, vielleicht auch ihm selber im letzten Jahrzehnt etwas zuviel geworden war und der das poetische Vermögen des Autors nach Kräften hintertrieben hat, von seinem Nagelbrett und legt ihn - nicht aufs Krankenbett, aber auf die Couch einer luziden erzählerischen Exploration. Macht ihn zum Fall, zur Figur und läßt nicht zu, daß der so zu Fall Gebrachte sich mit seiner Verstiegenheit, seiner Besessenheit in die Souveränität des Autors einmischt. Und siehe da, vermittels dieser spielerischen Operation romantischer Ironie, sprich: komischen Selbstvernichtung erreichen die neuen Geschichten eine erzählerische Spannung und poetische Fallhöhe wie schon lange nicht mehr.
Komische Selbstvernichtung also. Darum gehts. Der bis zur Verbohrtheit anspruchsvolle Wahrheitssucher, Gottsucher als Narr. Ihn führt uns der selbsterfahrene Autor mit seinen blühendsten Symptom-Varianten vor. Da ist der Mann, der dem Tod Modell sitzt. Auch, wenn man so will, eine therapeutische Sitzung. Der Klient ist aber mißtrauisch. Ist dieser Maler vielleicht nicht begabt genug, um seine ganze Hohlheit, "den ganzen Abgrund an Falschheit und Nichtswürdigkeit" in ihm aufzudecken. Er zwingt ihn, ihn immer besser, immer genauer zu sehen, den "ganzen biographisch spirituellen Komplex" , jede Lebenskrume, Lebensritze an ihm zu studieren. Dem Maler geht er damit gehörig auf die Nerven. Schließlich ist er ja der Tod:
"Das Leben, das Leben! Dem Maler wurde es das ärgste Wort. Wie weit noch sollte er sich vertiefen in dieses Mannes Morast?! Er betrachtete die nackten Männerwaden des Auftraggebers, haarig, mit heruntergerutschten Strümpfen. Er sah ihn Wache sitzen in klobigen Schuhen, schlapper Unterhose im Zebralicht, das durch die Jalousien fiel. Wache sitzen vor ihm, dem Maler, seinem Häftling. Er hörte die Gestalt Speichel schlürfen und sich räuspern. Er hörte das jeder wahren Verlorenheit widersprechende seiner Worte. Jedes Wort war ein zu hoch gegriffenes für die Lage, in der sich der ihm Sitzende befand. Was also war von diesem Wesen auf die Leinwand zu bringen? Ein Verschwundensein, das allein noch der Verschwundene selbst überwachte. Ein Gemälde, von dem aus der Portraitierte jeden zuerst erblickte, der ihn erblicken konnte.. Das Portrait, das der einzigen Obacht des Portraitierten, ungesehen zu bleiben, gerecht werden mußte."
Der Maler ist seinem Auftraggeber schon ganz schön auf den Grund gekommen, doch lassen wir diesen selbst noch zu Wort kommen mit der beeindruckenden Rechtfertigung seines "saturnischen" Temperaments, sprich seiner Verbiestertheit
"An den Rand des Größenwahns treibt mich das geringste Kompliment.. so daß in einem solchen Augenblick mein beständiges Unglücksgefühl als aus der Luft gegriffen, als von jeher falsch empfunden erscheint. Es genügt ein winziger heller Ton und der liebe schwarze Horizont reißt entzwei und quillt von goldnem Morgen über... Doch es dauert nicht lange und ich bin doppelt zerknirscht über den Seitensprung meines Herzens, ich schäme mich für die hastig vollzogene Untreue, mit der ich meinen aufrichtigen Kummer hinterging, der es immer gut mit mir meinte, Saturns mustergültigem Sproß."
Bleiben wir noch einen Moment bei den saturnischen Charakteren, bevor wir zu den lunatischen kommen. Eine Frau versteht ihren Mann nicht. In Gesellschaft ist er groß in Form, ein attraktiver Unterhalter der Runde, gewandt, schlagfertig, bewegt, richtig erotisch in seiner sicheren animalischen Selbstbehauptung. Dochkaum zuhause, leugnet er das alles ab, die ganze schöne Rolle vor den anderen, die ihn so anziehend machte, denunziert er als Lüge, Notwehr, Unwahrheit, der elende Wahrhaftigkeitsnarr und zersetzt damit alle Erotik.. Die Sünde der Melancholie gegen das Leben, die Liebe, so kann man es sehen. So sieht es die Frau.
"Wozu muß er sein Ansehen schmücken, das er, kaum zu Haus, mir gegenüber, für null und nichtig erachtet? Er wird sich die Brust aufreißen und sagen: Ich hatte das Gefühl, ich könnte in dieser Minute nur mit einem geschickt gewählten Beispiel, mit einer verblüffenden Erfindung überzeugen, nur deshalb griff ich zur Unwahrheit. Um zu überzeugen ist ja nur eines ausschlaggebend: Tonfall, Stimme, Timbre... Anklang! Daran fehlt es mir. Nur die Art, in der man spricht, überzeugt. Und meine Art überzeugt eben nicht. >Aber du hast schließlich die ganze Gesellschaft unterhalten!< werde ich dann einwenden.>Was blieb mir anderes übrig? ..Meine bis heute ungeklärte Begabung: jede auch noch so simple Angelegenheit in unendliche Nuancen aufzulösen, bis jeder Sinn, jeder feste Umriss ihr entwichen ... Hohe Auflösung! ... Wahrhaftig! ... Diese erbärmliche Begabung, die mich zwingt, immer feiner und fiebriger zu sprechen, unbedingt zu Ende zu sprechen, was ich einmal zu sprechen begonnen habe, lassen sie ungerührt uber sich ergehen, und diese Töne ernst genommen haben lassen sie mich emsig in Halbtöne, in Zwischen- und Untertöne zerlegen, ohne mir irgendeinen Glauben zu schenken, will er sich endlos schuppen? Diese Frage sehe ich quer über ihre Stirn geschrieben - und muß um so emsiger weiterreden, muß nochmals teilen und spalten."
Wenn die Lüge in der Liebe von einer gewissen Anmut und Unschuld ist und eine wohl notwendige Produktivkraft, um das Rad des Lebens in Bewegung zu halten, so wäre dies in der Kunst eine gewisse poetische Unbefangenheit, sprich Freiheit von allzu blässendem Bewußtsein, das -nach Kleist zur "Ziererei" führt, da die Seele aus dem Schwerpunkt ihrer Bewegung gerutscht ist. "Welche Unordnungen in der natürlichen Grazie des Menschen das Bewußtsein anrichtet"- so Kleist- davon hat uns Botho Strauß schon manches Beispiel gegeben. Und doch: dieses Zergliedern, die "hohe Auflösung", der wir auch diese schöne selbstkritische Passage soeben verdanken, ist der einzige Weg, um das Rätsel der Ganzheit aufscheinen zu lassen, das die fröhlich affirmativen Schilderer, von denen wir ja in der Literatur viele haben, in ihrer Zerstreutheit nicht mal streifen. Das ist die schwierige doppelte Wahrheit.
Wie hat der Maler Tod das Portait des saturnischen Mannes schließlich auf die Leinwand gebannt? Als schweren nach vorne gesunkenen grauen Männerkopf, der auf Knabenschultern ruht. Schwer und grau von Metaphysik, von bohrenden Fragen und heißem Bemühn. Man kann sich denken, daß dieser verhinderte Priester und noch viel verhindertere Weltmann sich schwertut mit der "Frau Welt". Er sucht das ihn erlösende ganz Andere, das ihm zum Paradies fehlt und wählt am liebsten die, die garantiert, daß er es wieder verlieren wird: die Verführerin, die Schlange, die Nymphomanin, schöne Melusine. Kopftier und Naturdämon, sie stürzen sich ineinander, zwei entgegengesetzte Zwitterwesen, die doch eben deshalb nicht zueinander finden können.
"Die Schönheit, bei all ihren vergeblichen Versuchen, Bitternis sich einzuverleiben, wird diese dennoch niemals besitzen, niemals verstehen - weil sie eben die Schönheit ist. So wenig wie das Feuer bei all seinem Geist irgendeine Möglicjkeit besitzt, das dunkle Wasser zu verstehen - sie gehören im Urgrund zusammen, soviel ist beiden Elementen erinnerlich, und wissen doch, daß ihre Beschaffenheit kaum mehr als eine flüchtige Berührung zuläßt."
Er nennt sie vielleicht "seine Alliierte", sie ihn "mein Einziger", doch sie sind schon im Anfang Entzweite und bleiben "einander Ungeschickte". Sie können nicht miteinander leben, aber oft auch nicht voneinander loskommen. Oder nur gewaltsam über Jahre endlos "ermattenden Kreisens im Problemkreis", schmerzlich mißtönend wie Klettverschlüsse, die man sehr langsam auseinanderreißt.
Ja, sie war ganz Ohr; auch wenn sie sich erkundigte und durch alle freundlichen Fragen nur die eine große Frage nach meinem Verderben stellte. Auch wenn sie sprach, klang ihr Gehör, und aus ihrem Gehör vernahm ich den Grundton der Verurteilung, der mörderischen Bitternis und Trauer."
Die "mörderische Bitternis" war schon das beherrschende Sujet der beiden Prosabände Niemand Anderes von 1987 und Wohnen Dämmern Lügen von ‘94. Da gab es Frauen, die buchstäblich "das entsetzte Nachsehen" hatten, nach der Trennung gleichsam ihr Leben lang auf der Bettkante sitzen blieben und alt wurden mit ihrer ewig jungen Kränkung im Herzen. Die -wie man nachtragenden Elefanten nachsagt- noch nach Jahren, Jahrzehnten in ihrer maßlosen Treue zuschlugen, ihren entlaufenden Fern-Idolen säuselnde Rachebriefe zur neuen Hochzeit sandten oder selber als femme fatale-Seniorin plötzlich in der Tür standen, um den alten Kampf wieder aufzunehmen.Im neuen Erzählband gibt es allerdings ein Beispiel einer, wenn auch späten Einsicht
"Antonie sprach noch einmal von der unendlich leichten Fracht, die ihr sterbender Mann auf ihren Armen war, und meinte, daß sie ihn erst ganz zum Schluß als das fremde Wesen erkannt habe, das er ihr längst hätte sein können, wenn ihnen rüde Vertraulichkeiten nicht den Blick aufeinander verstellt hätten."
Das ist unser Problem. Wir wollen nichts Fremdes, Mythisches mehr anerkennen. Haben ja alles längst erkannt, alle Poren mit gleichgültigem Wissen verstopft, sind zu stolzen nüchternen Gefühlsanalphabeten geworden. Unser kalt taxonomischer Verwertungsblick hat uns selber entwertet. Das sind für Botho Strauß Kardinalsünden der Gegenwart. Er möchte die mythische Zeit, die um und in uns ist, in der unsere Gebärden, Ängste und Verlorenheiten wurzeln in allem sichtbar machen. Uns wie ein Mystagoge mit einer reicheren wunderbareren Wirklichkeit vertraut machen, für die wir kein Sensorium mehr haben. Im "Nebel unserer Erklärungen" glauben wir dies oder jenes zu sein und sind doch ganz andere. Wir hören uns dies oder jenes sagen und können es doch nicht deuten
"Ich bitte dich...! Eine immerzu Bittende, Flehende war sie geworden, doch war nie zu hören, worum sie bat. "Ich bitte dich...! Nur immer die Ellipse, der Ausruf, die Ermahnung, die Aufforderung, Einhalt zu leisten.. Aber wenn er nun einhielt, ihr Zeit zum Sprechen ließ, dann kam nichts von ihr. Sie blieb still und hörte, als spräche er noch. "
Ein Tierchen in der Falle, das den Ausgang sucht? Eine der wunderbar gesehenen, erfundenen lunatischen Stromerinnen bei Botho Strauß. Wie Lotte in Groß und Klein oder wie die "schöne Melusine", unerlöste Körperwesen in der männlichen Sphäre, "streunend sehr Zerstreute", die unentwegt etwas verlieren, zu Boden fallen lassen, verlegen, vergessen, unentwegt suchen, was sie doch nicht finden können.
"Wie sie hockt oder kauert auf ihrem Stuhl, die Knie unter die verschränkten Arme zieht, den Mund auf den rechten Bizeps preßt, sich rund macht, um sich zu verbergen, zu verschließen, und dabei die dunkle Scham anhebt, schutzlos bietet, die Runde nackt auf ihrem Stuhl. Während das Gesicht sich abwendet von ihm, zeigt sie die Scham, der Mund beißt kindisch in den eigenen Armmuskel, da nichts mehr zu erwidern ist auf seine Worte ..."
Irgendwann hocken und kauern sie alle irgendwo, auf einem Bänkchen nachts im Hobbykeller des Mannes, auf der Kuppe eines Pollersteins, der Uferböschung mit dem Rücken zur Schnellstraße, als säßen sie dem Tod, dem sie gleichgültig sind, Modell.
"Figur werden, dachte sie, unbeweglich nahezu, endlich angekommen in diesen Gliedern.. Als wenn man nicht längst erstarrt wäre... Das Leben verbraucht den Kraftstoff Zeit, um damit den Stillstand zu erzeugen. Erstarrmaschine. Braucht eine Unmenge an Gehüpftem, braucht Grapschen, Schlingen, Gedankenblitze, schnelle Beine, um schließlich diese erhaben ruhende Skulptur hervorzubringen. Man laokoonisiert, langsam, ganz allmählich geht das Geschlinge in den Zustand, in die Reglosigkeit über."
Die letzte Passage stammt aus dem Prosaband Wohnen Dämmern Lügen. Vielleicht bemerkt man, daß sie unsinnlicher, konstruierter, etwas outrierter wirkt als die zitierten Momentaufnahmen aus dem neuen Buch. Diese Differenz gilt im Ganzen. Botho Strauß hat seine elliptische Erzählform -wie ich finde- ungemein verfeinert, radikalisiert, von neologistischem Zierat und Erklärungs-Ballast weitgehend befreit. Ein filmisch- photographischer Blick mit Fokus auf dem scheinbar Ephemeren, schnelle Schnitte, erzählerische Positionswechsel in den bis zu dreißig, vierzig Seiten langen assoziativ komponierten Geschichten. Dafür "lange Momente" wie bei Robert Wilson- "Stupor-Pausen", gelähmte Zeit, die zu Raum wird. Das ist Programm. Naturgeschichte, Mythos, "Tiefenerinnerung", Geburt und Tod - alles ist gleichzeitig da. Wie in den früheren Prosa-Bänden haben wir wieder einen Reigen kleiner Skizzen, Szenen, "Denkbilder", Gleichnisse. Dazwischen gleichsam als Bekenntnis zur mythischen Dichtung ein artifizielles Dialog-Poem über Liebe und Entsagung eines keltischen Ritters, eine Kafka-Replik, eine delikate Satire auf Sloterdijk und drei kleine "kondensierte Romane", die alle drei sehr schön, von feinem poetischen Takt sind. Daß der Autor sich diesmal wieder mit in den Käfig der Zeit gesperrt hat, macht ihn wieder zu einem Vornehmsten der Unfreien.
Wenn der kulturkritische Dämon in den Texten wieder missionieren will, kommen ein paar -nicht nur taktisch eingesetzte Gegenstimmen zu Wort. Sogar das Mythisieren hat diesmal nichts Angestrengtes mehr wie noch inWohnen Dämmern Lügen, sondern etwas experimentell Spielerisches, das sich mit der Beobachtung, der Feineinstellung des erzählerischen Partikulars durchaus verträgt. Was ist damit gemeint: Partikular? Es hat nichts mit Partikeln oder "Partikularteilen" zu tun, wie schon mißverstanden wurde. Der Mann, der dem Tod Modell sitzt, beschreibt, worum es geht
.Was sieht das Auge des Todes von mir? Nur mein mühseliges Entgegenkommen. Nichts als ablaufende Zeit. Gesehen aber, wahrhaftig gesehen werde ich nur durch Sein Partikular. Das Partikular, durch das der Ewige uns sucht, erfaßt uns ohne zeitliches Brimborium, ohne geschichtliche Ergänzung oder Verfälschung. Erkennt jeden in seiner göttlichen Vereinzelung."
"Die Stärkung des Einzelnen; des armen Kierkegaardschen Einzelnen", wie es in einem früheren Text einmal heißt, war schon immer Botho Strauß‘ Anti-Programm gegen die Kaltschnäuzigkeit der Geschichte. Der kostbare Einzelne in seiner vollständigsten Signatur, "nichts fehlt" - das erinnert auch an das Konzept der Enzyklopädie der Toten von Danilo Kis. Das Andenken und die Liebe, die bei Kis den Toten gehört, gehört bei Botho Strauß der unsterblichen Realpräsenz des Mythischen.