Archiv


Das Phänomen der Infantilisierung der Pop-Musik

Michael Jackson steht vor Gericht: die Ruine eines Popstars, dessen Karriere längst zu Ende ist. Ginge es hier nur um eine Schmuddelgeschichte, um skurrile Pädophilie im Milieu der oberen Zehntausend, man könnte das Thema der Boulevardpresse überlassen. Aber Jackson ist eben mehr als ein präsumtiver Kinderschänder. Gerade in seiner Zombiehaftigkeit und sexuellen Unreife ist er der Repräsentant einer Popindustrie, deren Zielgruppe sich spätestens seit Mitte der 80iger Jahre immer mehr verjüngt hat und deren CDs immer weniger in den Händen Erwachsener als vielmehr direkt im Kinderzimmer landen.

Von Christian Gampert |
    Da ist auch Michael Jackson stets geblieben, der Peter Pan der Popmusik, trotz seiner wohl eher als Fake zu sehenden Ehe mit der Tochter Elvis Presleys. Natürlich ist Jackson selbst ein missbrauchtes Kind, das von einem überehrgeizigen, autokratischen Vater, gemeinsam mit den Geschwistern, in die Popmusik geprügelt wurde: jeden Tag üben, sonst setzt es was. Die Jackson-Five, eine Kindergruppe, die erste Boygroup überhaupt, standen aber noch in der Tradition der alten Motown-Bewegung, die den schwarzen Soul in den USA überhaupt erst durchsetzte.

    Popmusik war damals eine Sache der erwachsenen Jugend, nicht der Kinder. Eine als orgiastisch erlebte Sexualität, ein durch Drogen erweiterter Realitätsbegriff und strikte Abgrenzung gegen das politische Establishment spiegelten sich in den Endsechziger und Siebziger Jahren auch im musikalischen Ausdruck – freilich bei Gefahr frühen Ablebens. Jimi Hendrix und Janis Joplin bewegten sich in der Ekstase, nicht im Kindergarten. Der selbstzerstörerische Jim Morrison und später, in frühen Achtziger Jahren Patti Smith hielten es mehr mit Arthur Rimbaud als mit Peter Pan.

    Dann kamen Michael Jackson und Madonna. Es begann das Zeitalter der popmusikalischen Industrieprodukte. Die Plattenfirmen kauften einfach die besten Studiomusiker ein und designten eine immer attitüdenhafter werdende Bühnen-Sexualität – oder, im Falle Jacksons, extra-terrestrische Infantilität. Aber während Madonna zur Geschäftsfrau wurde, blieb der ungleich musikalischere Michael Jackson immer ein Halbwüchsiger. Er wurde von den Firmen zum Superstar aufgebaut, zum Umsatzgaranten, der den Moonwalk zelebrierte und sich beim Tanzen lasziv in den Schritt fasste. Dass dies nur eine pseudoerotische Pose sein könnte, eine Erfindung der Choreographen, dass die Privatperson Jackson im Stadium sexueller Unreife verblieben war, im Märchenreich der Neverland-Ranch, darauf wollte, trotz alarmierender Berichte aus dem Freizeitleben des Sängers, offenbar niemand achten.

    So ist der Prozess gegen Jackson auch ein Desaster für die Musikindustrie – und für das fanatisierte, zu kultartiger Jackson-Anbetung neigende Publikum. Wie weit die Heldenverehrung gediehen ist, der Wunsch nach einem König, zeigt etwa die mentale Verwirrtheit der "Süddeutschen Zeitung", die Jackson allen Ernstes mit Ludwig II. vergleicht, statt den behandlungsbedürftigen Patienten zu sehen.

    Das Bedürfnis nach Kitsch ist offenbar unstillbar. Hier der Bayernkönig, da die Christus-artig leidende androgyne Pop-Ikone, die in einer Bühnenshow einst sogar einem Panzer mutig entgegentrat. Die Verlogenheit solcher Inszenierungen wird nun durch Jacksons offenbar armseliges Sexualleben und durch sein immer akuter werdendes Bedürfnis nach kindlicher Zärtlichkeit in ein grelles Licht gerückt. Das durch vielfache Gesichtsoperationen zerstückelte und wieder neu zusammengesetzte Gesicht des Sängers ist eben auch die Fratze eines Industriezweigs, der nach perfekter Schönheit giert und dabei plastilene Homunkuli auf den Markt wirft.

    Michael Jackson wird eine milde Strafe bekommen; mit Geld lässt sich nicht nur in den USA da einiges machen. Das Urteil über den Popstar Jackson aber ist längst gesprochen: er ist schon tot. Der letalen Operation auf offener Bühne hat alle Welt beigewohnt. Das ist beschämend - für uns alle.