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Das Phänomen des Erinnerns

Die vielleicht schönste und lohnendste Wiederentdeckung der letzten Jahre ist das Werk des russischen Schriftstellers Iwan Bunin, der 1933 den Literaturnobelpreis erhielt. Zu dieser Zeit lebte Bunin als Emigrant in Paris.

Von Karla Hielscher | 23.09.2010
    Das Projekt des Züricher Dörlemann Verlages, in lockerer Folge, sorgfältig ediert und neu übersetzt seine "Ausgewählten Werke in Einzelbänden" herauszugeben, ist deshalb sehr zu begrüßen. Am Beginn stand der Band mit der bezaubernden Erzählung "Ein unbekannter Freund" von 1923. Es folgten sein erschütterndes Revolutionstagebuch "Verfluchte Tage", das die politische Hellsichtigkeit des vor der Oktoberrevolution flüchtenden Bunin demonstriert, danach "Der Sonnentempel" mit seinen unübertrefflichen literarischen Reisebildern. Und nun beginnt eine chronologisch angeordnete Reihe seiner Prosa mit den frühen Erzählungen von 1890 bis 1909. Sie dokumentiert die literarische Entwicklung des zunächst als Lyriker bekannt gewordenen Schriftstellers von seinen Anfängen bis zum gefeierten Puschkinpreisträger.

    Der Band enthält von Dorothea Trottenberg feinfühlig übersetzte Erzählungen und impressionistische Prosastücke, einige davon Erstübersetzungen, andere in der vorliegenden Fassung erstmals ins Deutsche übertragen.

    Der aus einem alten Adelsgeschlecht stammende, jedoch völlig verarmte Aristokrat Bunin lässt in diesen hochpoetischen Prosatexten die Welt seiner Kindheit und Jugend erstehen, das ländliche Leben der kleinadeligen Gutsbesitzer in der vertrauten Landschaft Zentralrusslands - eine Welt, die sich zu dieser Zeit bereits im Untergang befand.

    Schon in diesen frühen Erzählungen des noch jungen Schriftstellers ist das Grundthema, das Bunins Werk entscheidend geprägt hat, die Erinnerung. Das Phänomen des Erinnerns wird hier zum konstitutiven literarischen Konstruktionsprinzip, von der Erzählergestalt verarbeitet in Form der Rückerinnerung, der Vergegenwärtigung von Momenten der Vergangenheit. Dadurch entsteht schon in dieser frühen Prosa Bunins jenes unfassbare, schwebende, von tiefer Wehmut getragene Gefühl der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Lebens, das seine gesamte Prosa durchzieht. Und gegen das er - die Schönheit der Welt im Wort beschwörend - ein Leben lang angeschrieben hat.

    In der berühmten Erzählung "Antonäpfel" von 1900 heißt es:

    "Die Schubladen meines Schreibtischs sind voller Antonäpfel, und ihr kräftiges Aroma - ein Duft nach Honig und herbstlicher Kühle - versetzt mich auf die Landgüter, in jene Welt, die verkümmert und zerfallen ist, die zugrunde geht und von der man in fünfzig Jahren nur aus unseren Erzählungen wissen wird (...) Ich erinnere mich an einen frühen, kühlen, stillen Morgen ... Ich erinnere mich an den großen, ganz goldenen, trockener und lichter gewordenen Garten, an die Ahornallee, das feine Aroma des abgefallenen Laubs - und an den Duft der Äpfel. Die Luft ist so klar, als sei sie überhaupt nicht da, durch den Garten hallen Stimmen und das Knarren von Leiterwagen."

    In einer kraftvollen, sinnlichen Sprache beschreibt Bunin dann mit allen Nuancen von Farben, Geräuschen, Gerüchen und konkreten Details der Hauseinrichtung, Kleidung und der landwirtschaftlichen Geräte, wie er die Menschen und ihr Leben im Dorf in einem guten Erntejahr im Gedächtnis hat.

    Die einzigartigen Naturschilderungen in jeder Erzählung künden vom immerwährenden beseligten Staunen über die Herrlichkeit der Welt. Das heißt aber nicht etwa, dass das Landleben als Idylle gezeichnet wird. Bunin beschreibt illusionslos und mit scharfem sozialen Blick auch die Schrecken dieses Lebens, die große Kluft zwischen Dorfarmen, reichen Bauern und adeligen Gutsbesitzern während der grausamen Hungersnöte der 90er-Jahre: den Auszug einer Wagenkolonne aus dem heimatlichen Dorf unter Klagerufen und Schluchzen in der Hoffnung auf Neuland im fernen Sibirien; das philosophische Gespräch eines Studenten mit einem kranken Bettler, dessen Leichnam, dem ein Tier bereits den Hals zernagt hatte, am nächsten Tag erfroren im Schnee gefunden wird; die Geschichte, in der ein junger, inzwischen in der Stadt lebender Gutsbesitzer die Nachricht erhält, dass der engste Freund seiner Kinderjahre "mit dem er früher wie mit seinem leiblichen Bruder in seinem Kinderbett gelegen, fröhlich geschwatzt, im Teich gebadet und Kaulquappen gefangen hatte" in seinem Dorf an Hungertyphus gestorben ist.

    Die Geschichten erzählen von der ersten Liebe des Gymnasiasten in den Sommerferien beim Onkel auf dem Dorf; vom einsam lebenden alternden Gutsbesitzer, der immer gedacht hatte, "etwas Wichtiges, Wesentliches läge noch vor ihm" und der nun erfährt, dass die große, unerwiderte Liebe seines Lebens gestorben ist; von einem zerstrittenen Ehepaar, das in einer mondhellen Winternacht im verlassenen, nach Schimmel und Winterfeuchte riechenden Elternhaus übernachtet, und dabei ein kurzes, vergängliches Aufflackern ihrer früheren Liebe erlebt.

    In Bunins Erzählwelt verbinden sich in der Erinnerung aufleuchtende Glücksmomente auf unnachahmliche Weise mit einer tief melancholischen Grundstimmung.

    Und auch wenn der Erzählstoff in allen Geschichten aus dem Landleben im Russland der vorigen Jahrhundertwende geschöpft ist, geht es doch immer um mehr: Es geht um das ewige, unerklärliche Geheimnis von Leben, Liebe und Tod.

    Beispielhaft die Titelerzählung "Am Ursprung der Tage", in der sich der Erzähler als kleinen drei bis vierjähriger Jungen sieht, der im Spiegel den Moment der Bewusstwerdung des eigenen Ich erlebt.

    "Entzückt sah ich mich um ... Ja, zweifellos, im Spiegel war alles das, was auch hier war, um mich herum - die Wände, die Stühle, der Boden, das Sonnenlicht, der Junge, der mitten im Zimmer stand ... Wir waren zwei, die einander verwundert ansahen! Da schloss einer von uns plötzlich die Augen - und alles verschwand: Nur helle Flecken waren noch da, die im Dunkeln umherwirbelten ... Dann schlug er die Augen auf und sah von Neuem alles, was er schon gesehen hatte ... Aber ist es nicht seltsam, dass das Zimmer im Spiegel kippt, auf mich herabstürzt?"

    Und er spürt wieder die Gefühle des verwirrten Kindes, als sich etwas Unsagbares im Haus ereignet, die verweinte Njanja ins Zimmer stürzt und ein Stück schwarzen Stoff über den Spiegel wirft.

    "Der Tod ist im Haus! Jenes Entsetzliche, dessen Name lautet - Geheimnis!"

    Als Kind hat er an der Rückseite des Spiegels gekratzt, um wenigstens einen Blick zu erhaschen auf das Unbekannte, Unbegreifliche:

    "Und von meinen Versuchen, das Leben zu enträtseln, bleibt nur eine Spur: ein Kratzer auf einer mit Quecksilber bestrichenen Glasscheibe."


    Iwan Bunin: "Am Ursprung der Tage. Frühe Erzählungen 1890-1909". Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob, Dörlemann Verlag Zürich 2010, 286 Seiten, 24,90 Euro.