Schossig: Der Schock ist spürbar. Die Zeitungen am Wochenende sind voller Kommentare dazu. Zum ersten Mal strecken deutsche Pädagogen einer Hauptschule die Waffen. Sie geben den Krieg im Klassenzimmer für verloren. In einem dramatischen Appell bat das Kollegium der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln um Schließung der Anstalt. Die Aggressionen der Schüler gegen das Mobiliar, gegen die Lehrer und gegeneinander seien so gewachsen, dass sie, also die Lehrer, sich der Situation nicht mehr gewachsen sehen. Nun ist guter Rat teuer, niemand scheint mit einer solchen Eskalation anscheinend gerechnet zu haben, in der Politik. Schule unter Polizeischutz nun, aber das kann keine Lösung sein. Was also tun? Als erstes fällt nun das Augenmerk der Kommentatoren immer wieder auf den Tatbestand, dass es an der Rütli-Schule mehr als 80 Prozent Migrantenkinder, beziehungsweise -jugendliche gebe. Zafer Senocak in Berlin, Sie sind Publizist und beobachten auch dies sicherlich, die Schulen. Guten Morgen erstmal.
Senocak: Hallo.
Schossig: Sie sind jemand, der das sozusagen in einem durchaus etwas fremden Blick beobachtet, denn Sie sind in Ankara geboren, dann in Istanbul aufgewachsen und als Kind nach München gekommen. Seit der Wende steuern Sie nun politische Essays auch bei zum deutsch-türkischen Verhältnis. Ist das Projekt der Integration in Berlin gescheitert?
Senocak: Also ich bin, würde ich sagen, mitten drin in diesen Themen und es ist so, ich würde sagen, dieses Projekt hat doch noch gar nicht angefangen. Wir machen uns erst jetzt eigentlich wirklich Gedanken darüber, was das bedeutet, wenn Millionen Menschen ihr Land verlassen, in ein anderes Land kommen, mit ihren Familien. Wenn die Kinder hier geboren werden. Was es eigentlich heißt, hier zu Hause zu sein, sich zu Hause zu fühlen, hier sich entwickeln zu können. Darüber hat man sich lange keine Gedanken gemacht oder nur am Rande der Gesellschaft, weil wir ja gesagt haben, wir sind kein klassisches Einwanderungsland. Deutschland hat nicht diese Migrationspolitik wie andere Länder, wie Frankreich, wie Großbritannien, wie USA, die ja schon seit Jahrzehnten auf Migration eingestellt waren. Das heißt, wir müssen heute anfangen, überhaupt diesen Prozess geistig nachzuholen, aber auch sozial und politisch nachzuholen. Was natürlich sehr schwierig ist, weil wir die versäumte Zeit jetzt eigentlich auch natürlich mit in unsere Rechnung aufnehmen müssen.
Schossig: Wo sind denn nun die Hauptprobleme? Das ist ja sicherlich ein ganz kompliziertes Unterfangen. Sie haben es geschildert: Große Verwerfungen. Kürzlich stand ja die Herbert-Hoover-Schule in Berlin, in Wedding, im Blickpunkt. Da gab es diese enormen Sprachprobleme und da hat man sich in einem Akt von Aufbäumung und Selbstverpflichtung gesagt, jetzt wollen wir erstmal anfangen, die deutsche Sprache hier zu sprechen. Da steht man von draußen davor und sagt: Kann das sein, dass die da bisher nie Deutsch gesprochen haben?
Senocak: Natürlich haben die Deutsch gesprochen. Das Problem ist nur anscheinend, dass wir nach wie vor zu viel Ideologie und zu wenig Pragmatismus haben.
Schossig: Es ist schon ein Sprachproblem.
Senocak: Ja, aber sehen Sie: was ist das Problem? Was ist denn das Sprachproblem? Das Sprachproblem ist, was wird denn zu Hause gesprochen, meistens? Was ist die Muttersprache dieser Kinder? Die Muttersprache dieser Kinder ist eben nicht Deutsch, sondern Arabisch oder Türkisch. So, jetzt ist das Problem, wenn man sagen würde: Sprecht zu Hause Deutsch. Wer soll das tun? Soll das die Mutter tun, die kaum Deutsch spricht? Soll das ein Deutsch sein, das gar nicht, eigentlich sozusagen, sprechfähig ist? Also eine Sprache, die schlecht gelernt ist, später zu verbessern, ist viel schwieriger, als eine Sprache neu zu lernen. Das Problem ist, dass die Kinder meistens die eigene Muttersprache auch gar nicht gut sprechen. Das heißt, die kommen überhaupt mit schlechten Sprachkapazitäten an die Schule. Das Problem haben wir natürlich auch mit deutschen Kindern. Also jetzt nicht mit Kindern mit Migrationshintergrund, sondern insgesamt. Es ist ja ein Schichtenproblem. Das wird ja oft auch nicht gesehen. Deswegen sage ich, es ist immer noch eine zu ideologische Debatte. Wir müssen sehen, dass es wirklich auch eine Problematik der sozialen Schichtung ist, dass wir zum Beispiel hier in Deutschland mit Kindern aus schwächeren sozialen Schichten auf dem Bildungswege wirklich Probleme haben. Und das wird ja auch diskutiert. Nur pragmatische Lösungen sind eigentlich immer hinten angestellt, wir haben immer sehr große ideologische Debatten, um die Schulform, um die Migration überhaupt.
Schossig: Ja, das Problem verschärft sich ja auch, weil diese Schulform, Sie sprechen es an, Hauptschule, ja sehr stark ins Gerede gekommen ist. Man sagt, es ist eine Restschule, und man kann es ja auch den deutschen Eltern zum Beispiel nicht verdenken, wenn sie sagen, da schick ich mein Kind nicht hin. Da wird es nie Deutsch sprechen lernen. Sollte man vielleicht die Abschaffung der Hauptschule, diese Forderung, mal ins Auge fassen oder halten Sie das für zu weitgehend?
Senocak: Also, ich stell mir das jetzt mal so vor. Stellen Sie sich mal vor, ein Kind kommt auf die Hauptschule. Was hat dieses Kind jetzt für eine Perspektive? Hat dieses Kind wirklich, wenn dieses Kind mit 15, 16 die Hauptschule wirklich abschließt - ja, das kommt ja noch dazu, dass viele, nicht viele, aber ein Drittel etwa, der Migrantenkinder in manchen Städten, diese Schule gar nicht mal abschließt - aber wenn mal diese Schule abgeschlossen wird, was ist denn das für eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt? Fast gar keine. Das ist ein Problem. Das ist wirklich ein Skandal, im Grunde genommen, dass wir Kinder in eine Schule stecken, wo wir ganz genau wissen, dass sie am Ende, nach dem Schulabschluss, überhaupt keine Perspektive haben.
Schossig: Also, wir kommen genau auf den Punkt. Das ist nicht hausgemacht von den Hauptschulen, dass die so schlecht arbeiten, sondern dass die Arbeitsstellen, die früher, im Handwerk zum Beispiel, da waren, auf breiter Front weggebrochen sind.
Senocak: Richtig. Deswegen sag ich ja, weg von der Ideologie. Machen wir doch die Schulproblematik nicht zu einer Ideologie. Das ist wirklich nach wie vor immer so ein bisschen von den politischen Parteien auch so vorgeschlagen. Und ich kenn das ja auch noch, weil ich bin ja in München aufgewachsen und bin dann nach Berlin gekommen. Ich weiß, dass es auch eine Nord-Süd-Ideologie in diesen Fragen gibt in Deutschland. Weg davon! Weg zu Pragmatismus. Überlegen, wie können wir Kinder in eine Situation bringen, aus vor allem sozial schwächeren Familien. Wer schickt denn sein Kind in die Hauptschule? Schauen Sie doch einmal genau hin. Was ist das für ein Hintergrund? Das sind übrigens auch nicht nur die Türken, die Araber und andere, sondern eben auch viele, viele deutsche Familien mit schwächeren sozialen Hintergrund, Arbeitslose, schon in dieser Anlage. Und was wir hier machen ist, im Grunde genommen, Arbeitslosigkeit von einer Generation in die nächste weiterzugeben. Das ist wirklich ein Problem für die Gesellschaft, ja, über diese ganze Migrationsfrage hinaus.
Schossig: Nun haben wir ja ein altes deutsches Modell, die so genannte Arbeitsschule, das gab es ja auch in der frühen Sowjetunion. Man sperrt die Kinder nicht in der Schule ein, sondern sagt, ihr sollt mit den Händen arbeiten. Und das wäre ja ganz unideologisch gedacht, wenn man sagt, sie sollen dann eben etwas machen, was ihnen Spaß macht. Denn man sieht diesen Jugendlichen ja an, sie wollen etwas tun. Sie sind nur in dieser, aufs Theoretisieren oder auf irgendwelches Auswendiglernen ausgerichteten Schule, überhaupt völlig falsch. Man müsste da doch ganz drastisch reagieren und ihnen etwas anbieten.
Senocak: Ja, man muss natürlich, man muss alternative - ich meine, ich bin kein Pädagoge, da müssen wirklich die Pädagogen ran - es gibt ja auch wirklich Vorschläge darüber, es wird ja auch seit Jahren über diese Themen diskutiert. Wir tun ja jetzt so, als hätten wir jetzt ein ganz neues Thema entdeckt. Diese Schule hatte schon, zum Beispiel diese Schule, die jetzt im Gespräch ist, hat ja schon vor zwei Jahren, oder vor einem Jahr einen Appell gerichtet, an den Senat. Was damals irgendwie kaum gehört wurde. Also es muss im Grunde genommen jetzt wirklich pragmatischer an diese Dinge herangegangen werden. Wirkliche Lösungsmöglichkeiten und ich muss sagen, es ist natürlich auch so, es muss auch darüber nachgedacht werden, wie kann man Autorität wiederherstellen, in bestimmten Situationen. Also, es ist auch so, wenn die Kinder wirklich so weit gehen, dass sie einfach die Schule zerstören, Lehrer bedrohen, dass gegenseitig überhaupt kein Respekt mehr vorhanden ist, dann ist das natürlich nicht nur eine Frage des nicht vorhandenen Arbeitsplatzes, sondern auch eine Frage, dass da im Grunde genommen der ganze Diskurs Richtung Werte und Verhaltensformen nicht mehr funktioniert.
Schossig: Das kann man im Augenblick ja auch durch Polizeischutz nur etwas kitten, aber doch nicht wirklich lösen. Brauchen wir mehr Streetworker an den Schulen?
Senocak: Wir brauchen viel mehr Streetworker. Wir haben ja auch viel abgebaut in diesen Sachen. Das muss man auch sehen. In den letzten Jahren, im Zuge der ganzen Wirtschaftsreformrhetorik, hat man sich gerade in diesen Feldern viel abgebaut. Und jetzt kriegen wir eigentlich die Rechnung dafür, das ist wirklich schlecht gespartes Geld. Wir brauchen auch viel mehr Lehrer mit Migrationshintergrund. Das ist jetzt auch entdeckt worden. Seit Jahren haben eigentlich immer wieder Vereine, die in dieser Richtung arbeiten, das zum Thema gemacht. Aber es wurde wenig gemacht in dieser Richtung. Die Kinder, die aus diesen Familien kommen, die studieren, die gibt es ja auch, wenn man mal daran erinnern auch. Das sind etwa zwölf Prozent, die Abitur machen. Immer noch zu wenig, aber doch eine ganze Menge. Die studieren dann Medizin und Jura und technische Berufe. Man müsste die mehr für die Lehrerberufe anwerben. Weil, diese Kinder können natürlich auch mit dem kulturellen Hintergrundwissen, vielleicht anders auf diese Problemfälle zugehen, als die deutschen Lehrer.
Schossig: Herr Senocak, ganz zum Schluss noch eine kleine Frage, Sie sagten, Sie sind kein Pädagoge. Sie sind Romanschriftsteller. Kann es sein, dass wir alle unter einem kollektiven Wahn irgendwie leiden. Wir kucken uns Filme an wie "Tal der Wölfe" oder Detlev Bucks "Knallhart". Könnte es sein, dass wir die Realität ausblenden zu Gunsten der Traumwelt der Medien und das nicht mehr sehen wollen?
Senocak: Ich glaube, dass wir alle sehr überfordert sind. Weil die Realität teilweise so komplex geworden ist, dass wir die eigentlich tatsächlich nur noch in Form dieser leicht erzählten Geschichten oder auch klaren Mustern uns zuführen können. Wenn wir die Realität genau anschauen, zum Beispiel die Situation in den Schulen, dann sehen Sie, es gibt so viele verschiedene Facetten des Themas und des Problems. Die Vermittlung ist schwieriger geworden, aber nicht unmöglich, aus meiner Sicht.
Schossig: Das war der Berliner Publizist Zafer Senocak über die Ursachen der Anarchie im Klassenzimmer und über mögliche Wege ihrer Überwindung. Vielen Dank nach Berlin.
Senocak: Bitte sehr!
Senocak: Hallo.
Schossig: Sie sind jemand, der das sozusagen in einem durchaus etwas fremden Blick beobachtet, denn Sie sind in Ankara geboren, dann in Istanbul aufgewachsen und als Kind nach München gekommen. Seit der Wende steuern Sie nun politische Essays auch bei zum deutsch-türkischen Verhältnis. Ist das Projekt der Integration in Berlin gescheitert?
Senocak: Also ich bin, würde ich sagen, mitten drin in diesen Themen und es ist so, ich würde sagen, dieses Projekt hat doch noch gar nicht angefangen. Wir machen uns erst jetzt eigentlich wirklich Gedanken darüber, was das bedeutet, wenn Millionen Menschen ihr Land verlassen, in ein anderes Land kommen, mit ihren Familien. Wenn die Kinder hier geboren werden. Was es eigentlich heißt, hier zu Hause zu sein, sich zu Hause zu fühlen, hier sich entwickeln zu können. Darüber hat man sich lange keine Gedanken gemacht oder nur am Rande der Gesellschaft, weil wir ja gesagt haben, wir sind kein klassisches Einwanderungsland. Deutschland hat nicht diese Migrationspolitik wie andere Länder, wie Frankreich, wie Großbritannien, wie USA, die ja schon seit Jahrzehnten auf Migration eingestellt waren. Das heißt, wir müssen heute anfangen, überhaupt diesen Prozess geistig nachzuholen, aber auch sozial und politisch nachzuholen. Was natürlich sehr schwierig ist, weil wir die versäumte Zeit jetzt eigentlich auch natürlich mit in unsere Rechnung aufnehmen müssen.
Schossig: Wo sind denn nun die Hauptprobleme? Das ist ja sicherlich ein ganz kompliziertes Unterfangen. Sie haben es geschildert: Große Verwerfungen. Kürzlich stand ja die Herbert-Hoover-Schule in Berlin, in Wedding, im Blickpunkt. Da gab es diese enormen Sprachprobleme und da hat man sich in einem Akt von Aufbäumung und Selbstverpflichtung gesagt, jetzt wollen wir erstmal anfangen, die deutsche Sprache hier zu sprechen. Da steht man von draußen davor und sagt: Kann das sein, dass die da bisher nie Deutsch gesprochen haben?
Senocak: Natürlich haben die Deutsch gesprochen. Das Problem ist nur anscheinend, dass wir nach wie vor zu viel Ideologie und zu wenig Pragmatismus haben.
Schossig: Es ist schon ein Sprachproblem.
Senocak: Ja, aber sehen Sie: was ist das Problem? Was ist denn das Sprachproblem? Das Sprachproblem ist, was wird denn zu Hause gesprochen, meistens? Was ist die Muttersprache dieser Kinder? Die Muttersprache dieser Kinder ist eben nicht Deutsch, sondern Arabisch oder Türkisch. So, jetzt ist das Problem, wenn man sagen würde: Sprecht zu Hause Deutsch. Wer soll das tun? Soll das die Mutter tun, die kaum Deutsch spricht? Soll das ein Deutsch sein, das gar nicht, eigentlich sozusagen, sprechfähig ist? Also eine Sprache, die schlecht gelernt ist, später zu verbessern, ist viel schwieriger, als eine Sprache neu zu lernen. Das Problem ist, dass die Kinder meistens die eigene Muttersprache auch gar nicht gut sprechen. Das heißt, die kommen überhaupt mit schlechten Sprachkapazitäten an die Schule. Das Problem haben wir natürlich auch mit deutschen Kindern. Also jetzt nicht mit Kindern mit Migrationshintergrund, sondern insgesamt. Es ist ja ein Schichtenproblem. Das wird ja oft auch nicht gesehen. Deswegen sage ich, es ist immer noch eine zu ideologische Debatte. Wir müssen sehen, dass es wirklich auch eine Problematik der sozialen Schichtung ist, dass wir zum Beispiel hier in Deutschland mit Kindern aus schwächeren sozialen Schichten auf dem Bildungswege wirklich Probleme haben. Und das wird ja auch diskutiert. Nur pragmatische Lösungen sind eigentlich immer hinten angestellt, wir haben immer sehr große ideologische Debatten, um die Schulform, um die Migration überhaupt.
Schossig: Ja, das Problem verschärft sich ja auch, weil diese Schulform, Sie sprechen es an, Hauptschule, ja sehr stark ins Gerede gekommen ist. Man sagt, es ist eine Restschule, und man kann es ja auch den deutschen Eltern zum Beispiel nicht verdenken, wenn sie sagen, da schick ich mein Kind nicht hin. Da wird es nie Deutsch sprechen lernen. Sollte man vielleicht die Abschaffung der Hauptschule, diese Forderung, mal ins Auge fassen oder halten Sie das für zu weitgehend?
Senocak: Also, ich stell mir das jetzt mal so vor. Stellen Sie sich mal vor, ein Kind kommt auf die Hauptschule. Was hat dieses Kind jetzt für eine Perspektive? Hat dieses Kind wirklich, wenn dieses Kind mit 15, 16 die Hauptschule wirklich abschließt - ja, das kommt ja noch dazu, dass viele, nicht viele, aber ein Drittel etwa, der Migrantenkinder in manchen Städten, diese Schule gar nicht mal abschließt - aber wenn mal diese Schule abgeschlossen wird, was ist denn das für eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt? Fast gar keine. Das ist ein Problem. Das ist wirklich ein Skandal, im Grunde genommen, dass wir Kinder in eine Schule stecken, wo wir ganz genau wissen, dass sie am Ende, nach dem Schulabschluss, überhaupt keine Perspektive haben.
Schossig: Also, wir kommen genau auf den Punkt. Das ist nicht hausgemacht von den Hauptschulen, dass die so schlecht arbeiten, sondern dass die Arbeitsstellen, die früher, im Handwerk zum Beispiel, da waren, auf breiter Front weggebrochen sind.
Senocak: Richtig. Deswegen sag ich ja, weg von der Ideologie. Machen wir doch die Schulproblematik nicht zu einer Ideologie. Das ist wirklich nach wie vor immer so ein bisschen von den politischen Parteien auch so vorgeschlagen. Und ich kenn das ja auch noch, weil ich bin ja in München aufgewachsen und bin dann nach Berlin gekommen. Ich weiß, dass es auch eine Nord-Süd-Ideologie in diesen Fragen gibt in Deutschland. Weg davon! Weg zu Pragmatismus. Überlegen, wie können wir Kinder in eine Situation bringen, aus vor allem sozial schwächeren Familien. Wer schickt denn sein Kind in die Hauptschule? Schauen Sie doch einmal genau hin. Was ist das für ein Hintergrund? Das sind übrigens auch nicht nur die Türken, die Araber und andere, sondern eben auch viele, viele deutsche Familien mit schwächeren sozialen Hintergrund, Arbeitslose, schon in dieser Anlage. Und was wir hier machen ist, im Grunde genommen, Arbeitslosigkeit von einer Generation in die nächste weiterzugeben. Das ist wirklich ein Problem für die Gesellschaft, ja, über diese ganze Migrationsfrage hinaus.
Schossig: Nun haben wir ja ein altes deutsches Modell, die so genannte Arbeitsschule, das gab es ja auch in der frühen Sowjetunion. Man sperrt die Kinder nicht in der Schule ein, sondern sagt, ihr sollt mit den Händen arbeiten. Und das wäre ja ganz unideologisch gedacht, wenn man sagt, sie sollen dann eben etwas machen, was ihnen Spaß macht. Denn man sieht diesen Jugendlichen ja an, sie wollen etwas tun. Sie sind nur in dieser, aufs Theoretisieren oder auf irgendwelches Auswendiglernen ausgerichteten Schule, überhaupt völlig falsch. Man müsste da doch ganz drastisch reagieren und ihnen etwas anbieten.
Senocak: Ja, man muss natürlich, man muss alternative - ich meine, ich bin kein Pädagoge, da müssen wirklich die Pädagogen ran - es gibt ja auch wirklich Vorschläge darüber, es wird ja auch seit Jahren über diese Themen diskutiert. Wir tun ja jetzt so, als hätten wir jetzt ein ganz neues Thema entdeckt. Diese Schule hatte schon, zum Beispiel diese Schule, die jetzt im Gespräch ist, hat ja schon vor zwei Jahren, oder vor einem Jahr einen Appell gerichtet, an den Senat. Was damals irgendwie kaum gehört wurde. Also es muss im Grunde genommen jetzt wirklich pragmatischer an diese Dinge herangegangen werden. Wirkliche Lösungsmöglichkeiten und ich muss sagen, es ist natürlich auch so, es muss auch darüber nachgedacht werden, wie kann man Autorität wiederherstellen, in bestimmten Situationen. Also, es ist auch so, wenn die Kinder wirklich so weit gehen, dass sie einfach die Schule zerstören, Lehrer bedrohen, dass gegenseitig überhaupt kein Respekt mehr vorhanden ist, dann ist das natürlich nicht nur eine Frage des nicht vorhandenen Arbeitsplatzes, sondern auch eine Frage, dass da im Grunde genommen der ganze Diskurs Richtung Werte und Verhaltensformen nicht mehr funktioniert.
Schossig: Das kann man im Augenblick ja auch durch Polizeischutz nur etwas kitten, aber doch nicht wirklich lösen. Brauchen wir mehr Streetworker an den Schulen?
Senocak: Wir brauchen viel mehr Streetworker. Wir haben ja auch viel abgebaut in diesen Sachen. Das muss man auch sehen. In den letzten Jahren, im Zuge der ganzen Wirtschaftsreformrhetorik, hat man sich gerade in diesen Feldern viel abgebaut. Und jetzt kriegen wir eigentlich die Rechnung dafür, das ist wirklich schlecht gespartes Geld. Wir brauchen auch viel mehr Lehrer mit Migrationshintergrund. Das ist jetzt auch entdeckt worden. Seit Jahren haben eigentlich immer wieder Vereine, die in dieser Richtung arbeiten, das zum Thema gemacht. Aber es wurde wenig gemacht in dieser Richtung. Die Kinder, die aus diesen Familien kommen, die studieren, die gibt es ja auch, wenn man mal daran erinnern auch. Das sind etwa zwölf Prozent, die Abitur machen. Immer noch zu wenig, aber doch eine ganze Menge. Die studieren dann Medizin und Jura und technische Berufe. Man müsste die mehr für die Lehrerberufe anwerben. Weil, diese Kinder können natürlich auch mit dem kulturellen Hintergrundwissen, vielleicht anders auf diese Problemfälle zugehen, als die deutschen Lehrer.
Schossig: Herr Senocak, ganz zum Schluss noch eine kleine Frage, Sie sagten, Sie sind kein Pädagoge. Sie sind Romanschriftsteller. Kann es sein, dass wir alle unter einem kollektiven Wahn irgendwie leiden. Wir kucken uns Filme an wie "Tal der Wölfe" oder Detlev Bucks "Knallhart". Könnte es sein, dass wir die Realität ausblenden zu Gunsten der Traumwelt der Medien und das nicht mehr sehen wollen?
Senocak: Ich glaube, dass wir alle sehr überfordert sind. Weil die Realität teilweise so komplex geworden ist, dass wir die eigentlich tatsächlich nur noch in Form dieser leicht erzählten Geschichten oder auch klaren Mustern uns zuführen können. Wenn wir die Realität genau anschauen, zum Beispiel die Situation in den Schulen, dann sehen Sie, es gibt so viele verschiedene Facetten des Themas und des Problems. Die Vermittlung ist schwieriger geworden, aber nicht unmöglich, aus meiner Sicht.
Schossig: Das war der Berliner Publizist Zafer Senocak über die Ursachen der Anarchie im Klassenzimmer und über mögliche Wege ihrer Überwindung. Vielen Dank nach Berlin.
Senocak: Bitte sehr!