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"Das psychologische Moment ist wirklich ganz entscheidend"

Anlässlich der heute beginnenden Schachweltmeisterschaft in der Bonner Bundeskunsthalle geht der Schachkolumnist Helmut Pfleger von einem spannenden Wettkampf aus. Titelverteidiger Viswanathan Anand und Herausforderer Wladimir Kramnik seien "gleich stark" und hoch motiviert. Es handele sich bei den beiden um "die besten Spieler der Welt", so Pfleger.

Helmut Pfleger im Gespräch mit Jochen Spengler | 14.10.2008
    Jochen Spengler: Es ist ein erfreulicher Termin für den Bundesfinanzminister, der so viele unerfreuliche Termine in den letzten Wochen hatte. Heute Nachmittag Punkt 15 Uhr ist Peer Steinbrück am Zug - wortwörtlich. Er eröffnet nämlich als Schirmherr mit dem symbolischen ersten Zug die erste Schachweltmeisterschaft seit 74 Jahren auf deutschem Boden. In der einen Ecke der Bonner Bundeskunsthalle der Titelverteidiger Viswanathan Anand, 38 Jahre alt, in seiner Heimat Indien ein Volksheld, der "Tiger von Madras"; in der anderen Ecke der Herausforderer Wladimir Kramnik, 33 Jahre jung, also fünf Jahre jünger. 2000 gewann er gegen Kasparow den WM-Titel und behielt ihn bis letztes Jahr. Zwölf Partien sind angesetzt in der Bundeskunsthalle bis zum 31. Oktober. Sieger ist, wer zuerst 6,5 Punkte erzielt. Ich freue mich sehr, dass ein deutscher Schachgroßmeister zu uns ins Studio gekommen ist: der Mediziner, Schachkolumnist, Schachfernsehkommentator Helmut Pfleger. Herzlich willkommen und guten Morgen, Herr Pfleger.

    Helmut Pfleger: Guten Morgen!

    Spengler: Herr Pfleger, was ist eigentlich ein Schachgroßmeister?

    Pfleger: Das ist ein Titel, der auf den Zaren zurückgeht. Und zwar war das bei einem Turnier in St. Petersburg 1914 und da war wirklich die Weltelite versammelt. Da hat der Zar erstmals diesen besonderen Koryphäen des Schachs dann den Titel Großmeister verliehen. Seitdem gibt es also diesen Titel und das ist, glaube ich, auch sehr geschickt, denn irgendwo macht er was her. Man kann durchaus auch schon etwas älter werden und nicht mehr so gut spielen, ich will nicht sagen verblöden und vergreisen, und trotzdem immer noch den Titel behalten.

    Spengler: Sie bleiben Großmeister?

    Pfleger: Man bleibt Großmeister wie ein Kardinal bleibt Kardinal oder ich weiß nicht was.

    Spengler: Haben Sie denn einen Favoriten heute in diesem Duell? Es heißt in der Presse oft "ein Duell auf Biegen und Brechen".

    Pfleger: Es ist ganz sicherlich ein Duell auf Biegen und Brechen.

    Spengler: Was meinen Sie denn damit?

    Pfleger: Beide sind natürlich hoch motiviert. Für Anand ist es ganz sicherlich das wichtigste Match seines Lebens und für Kramnik vielleicht vergleichbar mit dem gegen Kasparow, was Sie gerade erwähnt haben, im Jahr 2000, als er den damals schier unbesiegbaren Kasparow ganz klar überwand, ohne jede Verlustpartie. Beide sind, kann man wirklich sagen, gleich stark. Das ist ihre persönliche Bilanz, das ist all das. Seit vielen, vielen Jahren dominieren sie die Schachwelt.

    Spengler: Sind es die besten Spieler der Welt?

    Pfleger: Es sind ganz sicherlich die besten Spieler der Welt, ganz sicherlich. Da mag schon der eine mal punktuell herausragen und vielleicht mal den einen oder anderen überwinden, aber letztendlich sind sie ganz klar die besten der Welt.

    Spengler: Was sind denn die Stärken jedes einzelnen? Was ist die Stärke des Inders Anand?

    Pfleger: Er spielt sehr gerne auf Angriff und ist unerbittlich dann, wenn er mal einen Vorteil hat, vor allem im taktischen Bereich. Da sieht er so schnell, so blitzschnell. Diese Spitznamen, die er hat, "Speedy Gonzales" zum Beispiel oder "Lucky Luke", "er zieht schneller als sein Schatten", die kommen nicht von Ungefähr. In seiner Jugendzeit hat er oft für eine Partie, wo man vielleicht zwei, drei Stunden überlegen konnte, die Gegner kamen schon in Zeitnot, eine Viertelstunde oder 20 Minuten gebraucht. Es ist unglaublich, wie schnell er zieht. Das ist sicherlich Anands Stärke. Er ist auch unangefochten der beste Schnellschachspieler der Welt.

    Spengler: Und Kramnik?

    Pfleger: Kramnik ist wirklich das langfristige strategische Konzept. Er hat wirklich eine solche Tiefe in seinen Konzepten, wo zum Beispiel auch die Computer nicht mithalten können. Da will er ganz sicherlich versuchen, von Vornherein die Partie so anzulegen, dass sein Gegner gar keine Chance hat zu irgendwelchen taktischen Schlägen.

    Spengler: Herr Pfleger, trotzdem die Frage. Welcher ist Ihr Favorit?

    Pfleger: Ich weiß es wirklich nicht. Bei so gleichwertigen Spielern entscheidet letztlich immer die Psychologie, oder eben auch die Gesundheit. Wenn einer natürlich irgendeine Grippe bekommt oder sonst was, oder wie Anand vor vier Jahren, als er seinen Titel gegen Leko verteidigte, da war er wirklich schlecht beieinander. Es ging ihm überhaupt nicht gut. Er hatte eine rheumatische Erkrankung, Morbus Bechterew oder Spondylitis Ankylosans, und da kann jederzeit ein Schub wiederkommen. Im Moment fühlt er sich Gott sei Dank wirklich pudelwohl und es wird wahrscheinlich sein Spiel nicht beeinträchtigen. Aber als er das hatte, da war er teilweise nur noch ein Schatten seiner selbst. Ansonsten, das psychologische Moment ist wirklich ganz entscheidend.

    Spengler: Das ist ja im Schach immer entscheidend. Es wird ein Psychoduell, es wird aber nicht unfair werden, wie wir das ja auch schon in früheren Weltmeisterschaften erlebt haben. Spasski gegen Bobby Fisher war ja wirklich nicht nur ein Psychoduell. Da ging es auch mit unfairen Mitteln zur Sache. Das ist nicht zu erwarten?

    Pfleger: Das ging also nicht nur so bei Spasski gegen Fisher. Es war auch dann bei Karpow gegen Korchnoi, bei Karpow gegen Kasparow oder zuletzt, als Kramnik gegen Topalow, gegen den Bulgaren, seinen Titel verteidigte. Das war teilweise unappetitlich mit einer Toiletten-Affäre. Kramnik ist dann nicht mehr angetreten mit seinem Ehrgefühl und hat eine Partie kampflos verloren. Nein, das ist wirklich undenkbar. Beide sind Gentleman, sind also durch und durch integere Menschen.

    Spengler: Mögen sie sich?

    Pfleger: Sie mögen sich, sind humorvoll. Es ist undenkbar, dass solche Dinge passieren. Natürlich gibt es eine Rivalität. Man spürt vielleicht sogar irgendwo Aggressionen gegen den Gegner. Das ist unvermeidlich. Aber ganz sicher wird es zu keinen üblen Machenschaften jenseits des Brettes kommen.

    Spengler: Beide haben sich ja monatelang vorbereitet. Wie macht man so etwas?

    Pfleger: Indem man vor allem die Partien des Gegners analysiert. Man versucht, in den Gegner hineinzukriechen, die größten Feinheiten in seinem Spiel ausfindig zu machen, sich wirklich in jeder Beziehung in den Gegner hineinzuversetzen. Wenn wie damals bei Kasparow gegen Karpow die immer wieder WM-Kämpfe gegeneinander spielen, die kennen sich dann oft besser als manches Ehepaar sich gegenseitig kennt. Ihre Gedanken und all das, ihr Sinnen und Trachten gilt mehr dem Gegner als irgendetwas anderes. Beide, Kramnik und Anand, sind ganz nebenbei sehr gut verheiratet und haben sehr nette Frauen. Aber jetzt in diesen letzten Monaten war ganz sicherlich dominierend, was kann der vielleicht ausgeheckt haben und wie kann ich ihn wieder überraschen, und das dann täglich viele Stunden, acht bis zehn Stunden in all den letzten Monaten.

    Spengler: Ich habe irgendwo gelesen, Kramnik solle mehrere Tausend Partien seines Gegners im Kopf haben. Geht das?

    Pfleger: Das geht, ja, denn zum einen sind die Schachkönner per Excellence. Dann haben sie ein hervorragendes Gedächtnis.

    Spengler: Ich muss Sie mal was fragen: Sind Schachspieler noch normal?

    Pfleger: Schauen Sie sich die beiden an. Das sind Gott sei Dank wirklich beides ausgesprochene Beispiele von Normalität, die also auch jenseits des Schachbretts humorvoll sind, für viele andere Dinge Interessen haben. Bei Kramnik zum Beispiel ist das ganze künstlerische Element sehr stark. Die sind normal. Es gibt natürlich auch bei den Schachspielern leider andere Beispiele, aber das finden Sie überall. Das finden Sie unter Ärzten, das finden Sie vielleicht sogar unter Rundfunkjournalisten hier und da.

    Spengler: Nein, nein!

    Pfleger: Okay, dann dort nicht.

    Spengler: Kann es überhaupt in so einem Spiel noch etwas Überraschendes geben, eine überraschende Eröffnung, oder sind eigentlich schon alle Eröffnungen, die man sich denken kann, gemacht worden?

    Pfleger: Prinzipiell sind die Eröffnungen schon alle irgendwo gemacht. Aber - das zeigt die Geschichte dieser Weltmeisterschaften - es gibt doch immer wieder Überraschungen. Und ganz sicher wird auch der eine oder der andere den Gegner mit irgendetwas überraschen, womit der eben nicht gerechnet hat. Jeder legt es natürlich auch darauf an.

    Spengler: Sie hoffen auf schöne Spiele. Was sind schöne Schachspiele?

    Pfleger: Schöne Spiele sind für mich vor allem, es kann entweder ein tiefer strategischer Plan sein - das ist zum Beispiel Marke Kramnik -, oder eine wunderschöne Kombination mit vielen Opfern, wie etwa bei Anand. Ein kleines Beispiel: Es war im Frühjahr. Da gab es ein Schnellschachturnier in Nizza. Dort hat Anand Kramnik mit einem ganz herrlichen Damenopfer überrascht. Es war wirklich so schön und kein Mensch konnte sich das irgendwie vorstellen, dass das gehen würde. Der Anandsche König stand mitten im freien Feld, nackt und so weiter, und trotzdem konnte ihm nichts angehabt werden. Umgekehrt hat er den scheinbar sicheren König von Kramnik unweigerlich matt gesetzt.

    Spengler: Bis Ende Oktober haben wir erfahren wird dieses Match dauern. Wer als erster 6,5 Punkte hat, wird gewonnen haben. Sie haben mal die These vertreten, man braucht sehr viel Kondition als Schachspieler. Das verstehe ich nicht. Man sitzt doch die ganze Zeit nur am Brett.

    Pfleger: Ja. Man sitzt die ganze Zeit und scheinbar tut man überhaupt nichts.

    Spengler: Man denkt!

    Pfleger: Man denkt, ja. Aber es ist nicht nur das Denken. Es geht auch mit der Uhr. Es ist deswegen auch schon dieses sportliche Element. Wenn Sie jetzt zum Beispiel eine einfache Rechnung machen, 6 mal 7 mal 3, okay. Wenn Sie das aber gegen einen Gegner mit Zeitbeschränkung machen, dann wird es sehr anstrengend und dann tut sich sehr viel im Körper. Ich habe selbst Schachspieler bei einem Turnier, etwa auch Spasski, Hübner, Karpow, medizinisch untersucht, was da alles so im Körper passiert, und da passiert sehr, sehr viel. Es ist sportlich! Kramnik war zum Beispiel sehr chaotisch. Der hat die Nacht zum Tage gemacht, hat geraucht, hat getrunken und sonst was, und damals hat Anand schon gesagt, wenn Wladimir nicht mehr trinkt, dann ist er unschlagbar. Vor dem Match mit Kasparow hat er seinen ganzen Lebenswandel völlig umgestellt und heute lebt er sehr vernünftig und gesund, Anand sowieso schon immer. Es ist wichtig: Beide müssen auch sonst Sport treiben, wirklich ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.

    Spengler: Helmut Pfleger, eine ganz kurze Frage mit einer ganz kurzen Antwort zum Schluss. Wenn man noch nicht Schach gespielt hat, wie lernt man es am besten, mit dem Großvater, im Verein oder mit einem Buch?

    Pfleger: Prinzipiell würde ich sagen lieber mit einem Menschen. Anand hat es zum Beispiel von seiner Mutter gelernt und Kramnik von seinem Vater. Aber natürlich sollten dann irgendwann auch Bücher dazutreten.

    Spengler: Danke schön! - Das war der deutsche Schachgroßmeister Helmut Pfleger aus Anlass der heutigen Eröffnung der Schachweltmeisterschaft in Bonn.