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Das Rad der Geschichte

Samstagmittag, 14 Uhr, auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Rund um die historische 20er-Jahre-Verkehrsampel vor dem Eingang zur U-Bahn sammeln sich immer mehr Radfahrer. Einige mit Rennmaschine und enganliegendem Sportler-Dress, andere mit Hollandrad und Sommerklamotten. Sie alle wollen am heutigen Mauerstreifzug teilnehmen, einer Radtour entlang der ehemaligen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin.

Von Martin Koch |
    So unterschiedlich wie das Outfit sind auch die Erwartungen:

    " Ein bisschen von der Stadtgeschichte, ein paar Ecken, die ich noch nicht kenne, denn ich muss sagen, ich scheue mich ein bisschen durch die Mitte zu fahren, ich bin mehr so ein Stadtrand-Radler, das Wetter spielt mit. "

    " Das ist jedes Jahr wieder interessant, man vergisst ja auch manches, man trifft ja auch nette Leute, das kommt noch dazu und die Erinnerung wach halten an das, was Gott sei Dank vorbei ist, das ist das Wichtigste. "

    " Wir kommen beide ganz frisch aus der Abschlussphase des Studiums und wollten uns mal was Gutes tun und was Lernen noch obendrauf aufs Studium. "

    Mittendrin, im grünen T-Shirt mit Fahrradmotiv und verwaschener hellblauer Jeans, der Organisator und Gründer der "Mauerstreifzüge", Michael Cramer.

    " Hallo, Micha, da bist du ja! Schön, dass du hier bist! - Hallo, mein Junge, sei gegrüßt. Hab schon gehört, dass du hier bist. - Ich hab dir einen guten Freund mitgebracht. "

    Von einigen Teilnehmern wird der Grünen-Politiker und EU-Abgeordnete besonders herzlich begrüßt. Im Laufe der vergangenen acht Jahre hat sich geradezu ein Fanclub gebildet, der bei jeder Tour größer wird.

    " Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, bei diesem schönen Wetter starten wir in die Mauerstreifzüge in diesem Jahr 2008. Ich freu mich, dass Sie alle wieder dabei sind. "

    Dann weist Michael Cramer noch auf die Doppelreihe Kopfsteinpflaster hin, die sich quer über den Potsdamer Platz zieht: Sie zeigt den Verlauf der Mauer an, und dieser Markierung wird die Tour heute folgen.

    " So, wir fahren jetzt los, wie gehabt, ich freu mich, dass Sie alle dabei sind und wünsche uns gute Fahrt. "

    Der 59-Jährige schwingt sich auf sein Trekkingrad und setzt sich an die Spitze des Trosses: 130 Radler folgen ihm vom Potsdamer Platz über die Stresemannstraße bis zum ersten Stopp in der Niederkirchnerstraße. Hier befindet sich der längste Mauerabschnitt, der noch am Originalstandort steht. 1990 wurde er unter Denkmalschutz gestellt. Michael Cramer erklärt die verschiedenen historischen Ebenen, die hier aufeinandertreffen:

    " Da ist gegenüber der Preußische Landtag, auf der anderen Seite war die Topographie des Terrors, wo die Gestapo-Häftlinge gefoltert wurden. Ein bisschen weiter ist das Haus der Ministerien, das Göring gebaut hat als Haus der Flieger, da hatte Ulbricht '61 am 3. Juni noch gesagt "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten", und von daher passt es genau an diese Stelle. "

    Nur wenige Hundert Meter weiter der nächste Halt. In der Zimmerstraße erinnert eine Stele an den Tod von Peter Fechter: Der 18-jährige Maurergeselle wurde bei seinem Fluchtversuch im August '62 von DDR-Soldaten niederschossen und schwer verletzt. Er verblutete, weil weder von der Ost- noch von der Westseite Hilfe kam.

    " Große Bestürzung. Ich kenne diese Bilder aus Dokumentationen und habe großes Unverständnis, wie sich beide Seiten nicht verantwortlich gefühlt haben für diesen Mann. "

    Die 27-jährige Geschichtswissenschaftlerin Frauke erlebt diesen Stopp sehr intensiv, obwohl die Geschehnisse lange vor ihrer Zeit passiert sind. Sehr direkt hat die gebürtige Hamburgerin dagegen die öffentliche Diskussion um den nächsten Streckenabschnitt mitverfolgt:

    " Wir sind jetzt in der ehemaligen Kochstraße, die jetzt Rudi-Dutschke-Straße heißt, und es gab einen Diskurs in Berlin über die Umbenennung und ich find das gut, weil ich auch den Sohn von Rudi Dutschke kenne und das ist für mich hochinteressant. "

    Am Springer-Hochhaus vorbei zuckelt die Karawane durch die Kommandantenstraße und biegt auf den sogenannten Kolonnenweg, auf dem früher DDR-Soldaten zwischen der Vorderland- und der Hinterlandmauer Patrouille gefahren sind.

    Jürgen Lange aus Falkensee ist bei fast jeder Tour dabei und radelt manchmal auch auf eigene Faust entlang der ehemaligen Grenze.

    " Schön ist es, dass man diese Pflasterung sieht, wo die Mauer früher stand, ansonsten wüsste man überhaupt nicht mehr, wo die Mauer gewesen ist. Die Zeit ist ja so schnell vergangen, dass selbst Alteingesessene nicht mehr wissen, wo die Mauer war. Und das hilft dann natürlich sehr, vor allem, wo sie wie hier im Zickzack verläuft. Und da vorne wird's dann ganz extrem. "

    Dass wenigstens ein Rest der Erinnerung erhalten bleibt, dafür hat Michael Cramer viel Zeit und Energie aufgewendet. Der gebürtige Ennepetaler lebt seit mehr als 35 Jahren in Berlin, von 1989 bis 2004 saß er für die Grünen im Abgeordnetenhaus. Mehrmals radelte er allein die gesamte Westberliner Seite der Mauer ab. Nach der Wende musste er dann seine, wie er es nennt, westfälische Dickschädeligkeit und viele gute Argumente aufbringen, um die Pläne für den Mauerradweg gegen alle Widerstände durchzusetzen. Zehn Millionen Euro hat das Projekt gekostet. Je fünf Millionen kamen aus Wiederaufbau-Ost-Mitteln und aus dem Topf für Ausgleichsmaßnahmen für den Bau der Autobahn 113 nach Schönefeld. Der zuständige Stadtplaner Heribert Guggenthaler fährt immer mal wieder eine Etappe auf dem Mauerradweg mit, um sich über den Fortschritt der Arbeiten zu informieren. Sein Fazit:

    " Es gibt immer was zu tun, wobei der Mauerweg das Problem hat, dass wir nicht alle historischen Fundamente beseitigen wollen, und er von daher nicht eine durchgehende Qualität hat, die man sonst von Fernradwanderwegen gewöhnt ist, zum Beispiel Betonschwellen, die nicht alle ausgebessert sind, die man früher von der DDR-Autobahn kennt, die gibt's auch beim Mauerradweg und wenn es die Verkehrssicherungspflicht erlaubt, dann wollen wir diese historischen Erinnerungen auch nicht beseitigen und die muss der Radfahrer dann in Kauf nehmen. "

    Eine Kolonne von 130 Radfahrerinnen und Radfahrern ist im Berliner Straßenverkehr ein ungewohntes Bild. So manche rote Ampel ignoriert der Verband, einem Lindwurm gleich. Die meisten Autofahrer nehmen es gelassen, nur selten hupt mal einer, der es eilig hat - oder dem nach ein paar Minuten dann doch die Geduld schwindet.

    Nach einem Zickzack-Kurs durch beschauliche Wohngebiete biegen die Mauerstreifzügler auf die vierspurige Mühlenstraße entlang der East Side Gallery. Hier stehen mehrere Hundert Meter Mauer, bemalt von Künstlern aus aller Welt. Zu sehen sind Werke von 1961 bis heute. Der Berliner Wolfgang Poner ist fasziniert von dem Projekt:

    " Ich find das hoch spannend, weil es Künstler aus aller Welt sind, die hier ihre Werke an die Wand angebracht haben und es setzt noch mal einen ganz anderen Akzent: Die Mauer ist nicht nur Denkmal, das allein wäre ja schon Grund genug, sie stehenzulassen, sondern sie hat auch eine ganz aktuelle heutige Funktion, das gefällt mir sehr gut, ja. "

    Mit dem Fahrrad erscheint Berlins Mitte plötzlich klein und überschaubar, Entfernungen schrumpfen zusammen: Kurz nach der East Side Gallery hält die Gruppe an der Oberbaumbrücke. Die rote Konstruktion aus Beton, Stahl und Mauerwerk lässt Autos, S-Bahnen und Fußgänger auf zwei Ebenen die Spree überqueren. Sie ist eines der bekanntesten Bauwerke Berlins. Hier übergibt Michael Cramer das Wort an eine prominente Mit-Radlerin: Marianne Birthler ist gleich um die Ecke in der Warschauer Straße groß geworden. Sie erzählt von der Zeit vor dem Mauerbau, als sie noch über die Oberbaumbrücke wischen dem Ost- und dem Westteil hin- und hergehen konnte. Sie ist zum ersten Mal bei einem Mauerstreifzug dabei und ihr geht es wie vielen Berlinern, die mit dem Drahtesel die Stadt erkunden:

    " An manchen Stellen fällt es mir richtig schwer das zu realisieren, wie das früher ausgesehen hat. An manchen Stellen ist es sehr deutlich erkennbar und an manchen wiederum kostet es Mühe, sich das vorzustellen, dass da eine Grenze war, vor allem, wenn rechts und links Cafés sind und die Tische draußen stehen und die Stühle, dann braucht es schon eine Menge Fantasie sich vorzustellen, dass da die Mauer durchging. "

    Kurz danach kehrt der Tross im Biergarten "Heinz Minki" in Kreuzberg ein: Eine Pause unter schattigen Bäumen gehört zu jeder Mauerradweg-Etappe. Hier können die Teilnehmer verschnaufen, neue Kontakte knüpfen und das bislang Gehörte ein wenig sacken lassen.

    Nach einer halben Stunde geht's dann gemütlich und erholt weiter, ein kurzes Stück über die Schlesische Straße Richtung Süden bis zum nächsten Stopp. Auf einer Wiese zwischen Treptow und Neukölln lässt Michael Cramer die Truppe in der prallen Sonne an einem ehemaligen Wachturm halten, neugierig beobachtet von picknickenden Großfamilien, sonnengebräunten Teenagern und Hunde ausführenden Senioren:

    " Hier kann man wirklich sagen, aus dem Todesstreifen wurde ein Lebensraum, nicht nur für Flora und Fauna, sondern auch für die Menschen. Dieser Parkstreifen war der Todesstreifen, dann da am Wasser stand die Mauer und da drüben stand die Hinterlandmauer. "

    Eine Künstlerinitiative nutzt den Turm heute als Galerie für Ausstellungen, die in irgendeiner Form mit der Grenze zu tun haben. Von den ursprünglich 303 dieser Wachstationen rund um Westberlin sind nur noch fünf erhalten, drei in Berlin und zwei in Brandenburg. Symbole der Unüberwindbarkeit der Mauer.

    Viele haben es trotzdem versucht - und sind gescheitert. So wie Chris Gueffroy, der nur wenige Monate vor dem Ende der DDR bei seinem Fluchtversuch über den Britzer Verbindungskanal erschossen wurde. An sein Schicksal erinnert eine rotbraune Stele direkt am Kanal. Auch hier legt Michael Cramer einen Stopp ein. Der sonst so quirlige Politiker wird nachdenklich, die fröhlich-ausgelassene Ausflugsstimmung verfliegt. Denn inmitten der Radler, die er vor sich sieht, steht auch die Mutter des Erschossenen, Karin Gueffroy. Michael Cramer:

    " Das fällt mir dann auch schwer, die richtigen Worte zu finden, das ist die schwierigste Sache, aber das erleg ich mir auf und das muss sein. Sie fährt ja auch fast immer mit, das ist auch für sie eine Form der Verarbeitung. Das bedeutet mir viel und ich glaub, dass wir da helfen könnten. "

    Trotz der vielen traurigen Erinnerungen: Für Michael Cramer sollen die Mauerstreifzüge vor allem ein positives Bild vom heutigen Berlin und seiner jüngeren Geschichte vermitteln:

    " 28 Jahre Mauer, jahrzehntelange Spaltung der Stadt ist natürlich furchtbar, aber dass das ohne Blutvergießen überwunden wurde und dass ich das noch erleben darf, das hätte ich nicht gedacht, und das find ich auch toll. Und deshalb will ich auch an beides erinnern. Nicht nur die Flüchtlinge, die erschossen wurden, sondern viele haben es auch geschafft. "

    Der heutige Mauerstreifzug neigt sich seinem Ende entgegen. Nach knapp zwei Kilometern auf dem breiten und nagelneuen Rad- und Wanderweg parallel zur Autobahn 113 geht es noch ein Stück durch Adlershof. Die selbsternannte Wissenschaftsstadt wirkt mit ihren grauen Zweckbauten ein bisschen wie ein verlassenes Industriegebiet, kein Wunder an einem Samstagnachmittag. Aber nach gut zwanzig Kilometern Radtour durch den Sonnenschein haben die meisten der Mitfahrer dafür keinen rechten Blick mehr, so kurz vor dem Ziel. Das erreichen sie wenige Hundert Meter weiter: Vor der Baustelle am S-Bahnhof versammelt Michael Cramer die Gruppe noch einmal um sich herum und verabschiedet sich:

    " Also ich wollte mich noch mal bedanken, wir haben tolles Glück mit dem Wetter gehabt, ich wünsch Ihnen ein schönes Wochenende, hab mich gefreut. "


    Info
    In diesem Jahr wird es noch drei Mauerstreifzüge geben: am kommenden Sonntag, dem 16. August, geht es vom Bahnhof Hennigsdorf zum S-Bahnhof Hermsdorf. Alle weiteren Informationen finden Sie auch im Internet auf der Seite von Michael Cramer unter www.michael-cramer.eu