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Das Reformkartell

Sandra Pfister: "Wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten - dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit." George Orwell hat diesen Satz geschrieben in "1984". Sein Held Winston erkennt, wie Wörter manipulieren können, so dass am Ende alle dasselbe glauben. Der Ökonom Albrecht Müller hat den Satz als Leitfaden gewählt für sein Buch "Die Reformlüge". Denn er behauptet, grob vereinfacht: Ein Meinungskartell aus Unternehmern, Politikern und Journalisten bete den Deutschen so lange die immer gleiche Phrase vor, bis sie sie schließlich glaubten: Ohne Einschnitte ins soziale Netz geht es nicht. Damit stößt Müller eine ökonomische Grundsatzdebatte an, die in Deutschland weitgehend erlahmt ist. In seiner Streitschrift wendet sich der Autor vehement gegen - wie er schreibt - "40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren". Als Leiter der Planungsabteilung von Willy Brandt und Helmut Schmidt kennt er die sozialdemokratischen Regierungen von innen - und geht darum umso härter mit der aktuellen ins Gericht. Denn: deren Politik entlaste nur die Unternehmen. Die Rettung liegt seiner Ansicht nach aber bei den Verbrauchern: Die müssten Vertrauen in die Politik und mehr im Geldbeutel haben, damit sie konsumieren. Das ist, kurz gesagt, Keynesianismus - und zu dem bekennt sich auch Oskar Lafontaine.

Sandra Pfisterim Gespräch mit Albrecht Müller |
    Herr Müller, "Oskar der Zweite", hat Sie eine deutsche Zeitung vor wenigen Tagen genannt - in Anspielung auf Oskar Lafontaine. Was stimmt daran?

    Albrecht Müller: Daran stimmt nur, dass Oskar Lafontaine zur Belebung unserer Wirtschaft ähnliche Akzente setzt wie ich, und dass er die Priorität darin sieht, heute die Konjunktur zu stimulieren und auf Wachstum zu setzen und dafür zu sorgen, dass die Menschen in unserem Land wieder etwas zu tun haben, dass die Unternehmer Aufträge haben, dass es in den Innenstädten nicht immer leerer wird, weil die Menschen nicht mehr konsumieren und auch keinen Mut mehr haben zu investieren.

    Pfister: Nun behauptet die Opposition und auch die Regierung, dass sie das ja eigentlich auch nur will: den Konsum stimulieren und den Unternehmen helfen. Sie wagen es jetzt, den Keynesianismus wieder aus der Versenkung zu holen, wie es auch Lafontaine getan hat.

    Müller: Nein. Ich bin von meiner ganzen Ausbildung her ein sehr pragmatischer Mensch und habe auch als Ökonom immer dafür gesorgt und dafür geworben, dass man alle Instrumente der Wirtschaftspolitik einsetzt, sowohl die keynesianischen als auch die Angebots-ökonomischen. Nur heute sind wir am Rande einer schlimmen Rezession. Dann ist die Priorität - so wie es die Amerikaner oder die Briten gemacht haben oder die Franzosen vor fünf Jahren - jetzt ist die Priorität die, auf Wachstum, auf Expansion zu setzen. Es würde Sinn machen, die Wirtschaft anzukurbeln.

    Pfister: Die Wirtschaft ankurbeln - warum ist denn dieses Nachfrage-orientierte Konzept in den letzten Jahren so diskreditiert worden?

    Müller: Da kann ich nur zitieren, was der Chefökonom einer großen Investment-Bank, Goldmann-Sachs, gesagt hat: Die Wissenschaft der Ökonomie hier in Deutschland ist total dogmatisch, und er verstehe die Welt nicht mehr, wenn er mit seinen deutschen Kollegen redet, wie borniert sie an die Probleme dieses Landes herangehen und wie wenig pragmatisch.

    Pfister: Sie widersprechen fast allem, was in der politischen Diskussion derzeit als Allgemeingut gilt: Die demographische Entwicklung ist nicht gefährlich, wir brauchen keine private Altersabsicherung, der Arbeitsmarkt ist nicht verkrustet und - last but not least - die Lohnnebenkosten sind nicht zu hoch. Bleiben wir kurz bei dem Letzten. Die Lohnebenkosten sind in den 16 Jahren der Regierung Kohl um 8 Prozent gestiegen und landeten am Ende bei 42 Prozent. Ist das nicht zu hoch?

    Müller: Ich sage nicht, die Lohnnebenkosten sind nicht zu hoch, sondern ich sage, die Vorstellung, dass die Wirtschaft sich belebe, wenn man die Lohnnebenkosten senkt, ist naiv. Weil die Entscheidung von Unternehmen zu produzieren oder zu investieren von vielen Faktoren abhängt. Und dann spielen die Löhne eine wichtige Rolle und die Lohnnebenkosten auch, aber es ist ein Faktor. Wenn Sie sich aber die öffentliche Debatte anhören, dann erzählen die immer, wir müssen die Lohnnebenkosten senken, und dann geht's aufwärts. Dagegen wende ich mich, gegen diese Vereinfachung, gegen diese Nachplapperei! Wir haben eine Nachplapper-Gesellschaft, statt eine Nachdenk-Gesellschaft!

    Pfister: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass alle das glauben, dass die demographische Entwicklung gefährlich ist, dass die Lohnnebenkosten zu hoch sind: das sei das Verdienst einer guten PR. Und dahinter steckten unter anderem Banken und Versicherungen. Können Sie das belegen?

    Müller: Das ist ja wirklich sehr einfach zu erklären, und weil das immer gleich kommt - das hat nichts mit Verschwörungstheorien zu tun. Wenn ich Planer des Gesamtverbandes der deutschen Versicherungswirtschaft wäre, dann würde ich auch auf die Idee kommen, dass ich sage, wir haben ein Riesen demographisches Problem. Immer mehr Ältere müssen von den Arbeitenden versorgt werden. Und dann würde ich behaupten, dass die bisherige gesetzliche Rentenversicherung dies jetzt nicht mehr zu leisten vermag, und dass man deshalb eine Privatvorsorge braucht. Das würde ich genauso planen. Ich kritisiere die Politik, dass sie auf dieses hereinfällt, und ich kritisiere die Medien, dass sie nicht kritisch hinterfragen. Sie müssten zum Beispiel hinterfragen, ist die demographische Entwicklung wirklich so dramatisch. Wenn man sich die Alterung anschaut, die Alterung im Vergleich auch zu dem, wie sich unsere Wirtschaft entwickeln kann, dann findet man, dass die Produktivitätsentwicklung unseres Landes, selbst wenn sie minimal ist, nämlich 1,5 Prozent pro Jahr, dass diese Produktivitätsentwicklung ausreicht, um alle Gruppen, die Alten, die Arbeitenden und die Kindergeneration, auf Jahrzehnte hin gleich- bzw. besser zu stellen. Das Interessante in der öffentlichen Debatte ist bis hin zu Büchern wie dem von Schirrmacher, dass die Bevölkerungsentwicklung auch durch Fälschung hochdramatisch dargestellt wird, und das andere, dass die entlastenden Faktoren, etwa die Produktivitätsentwicklung, überhaupt nicht berücksichtigt werden. Und dann kommt man zu so schrecklichen Ergebnissen, dass das soziale Sicherungssystem durch die Altersvorsorge umgebaut werden muss. Wir müssen endlich einmal die Stärken unseres Landes und die guten Möglichkeiten betonen, damit wir aus dieser Konjunkturflaute wieder herauskommen, und was alles damit zusammenhängt.

    Pfister: Das heißt, wir neigen zur Schwarzmalerei?

    Müller: Wir neigen total zur Schwarzmalerei. Ich will mal den Chef von Porsche zitieren. Der ist gefragt worden, warum investieren denn eigentlich die japanischen und die koreanischen Automobilunternehmen nicht hier in Deutschland sondern in Frankreich und England. Dann hat er gesagt: das ist überhaupt kein Wunder. Hier bei uns haben viel zu viele viel zu lange den Standort schlecht geredet.

    Pfister: Ihr eigentlicher Vorwurf geht an die Politik, weil die nicht durchschaut, was die Lobbyisten der Wirtschaft ihnen vorsetzen. Liegt es daran, dass die Zusammenhänge zu komplex sind?

    Müller: Ja, es liegt aber auch daran, dass wir heute in der Politik kaum mehr Ökonomen haben, die gesamtwirtschaftlich zu denken vermögen. Schauen Sie, die entscheidenden Leute: Frau Merkel ist Physikerin, Herr Merz ist Jurist, Herr Schröder ist Jurist, Herr Eichel ist Lehrer, Herr Clement ist Jurist. Ich sage ja nichts dagegen, dass auch solche Berufe in die Spitzenpositionen kommen sollen. Das Interessante ist doch, dass sie sich offenbar nicht von Leuten beraten lassen, die diese gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge durchschauen. Und deshalb ist die Hauptbotschaft des Buches: Liebe Leute, lernt endlich wieder kritisch zu fragen, lernt endlich wieder zu zweifeln gegenüber dem, was euch vorgestanzt, vorgesagt wird.

    Pfister: Helmut Schmidt beispielsweise war Ökonom. Sie prangern die Reformwut an und Sie plädieren, wenn ich Sie richtig interpretiere, auch für eine Rückkehr zur Politik der 70er Jahre. Was war daran denn besser?

    Müller: Das ist ein Klischee. Ich nehme doch von den 70er Jahren nur das heraus, was nachmachbar ist, was auch heute anwendbar wäre. Wenn wir in einer Konjunkturdelle sitzen, und wenn die Gefahr besteht, dass, wenn morgen der Dollar im Wert absinkt, dann der Export als Lokomotive wegfällt, dann sind wir ganz dick in einer richtigen Krise. Davor müssen wir uns schon vorher hüten. Deshalb müssen wir jetzt die Binnenkonjunktur anschieben, und zwar so wie in den 70er Jahren. Warum sollen wir das nicht machen? In den Niederlanden macht man es jetzt, die sind nämlich trotz Reformen in den Keller gegangen. Was machen sie jetzt? Keynesianische Politik!

    Pfister: Nur der letzte große Keynesianer, der das wirklich in seinem Land komplett durchgezogen hat, das war Mitterand. Und bei dem hat das nicht so funktioniert.

    Müller: Das behauptet Peter Glotz und andere. Das ist ja nicht richtig. Bei Mitterand war das so, dass das auch abgebrochen worden ist. Dasselbe haben die Franzosen später noch mal mit Jospin gemacht, und sie haben sehr viel besser abgeschnitten als wir.

    Pfister: Das heißt konkret, Sie empfehlen Konjunkturprogramme, Beschäftigungsprogramme.

    Müller: Ich empfehle Beschäftigungsprogramme in dieser Situation. Ich würde gleichzeitig Reformen machen, allerdings würde ich diese großen Strukturreformen, die jetzt gemacht werden, auslaufen lassen. Ich würde kleinere Dinge machen, wie etwa dafür zu sorgen, dass Eltern, Vater und Mutter, die Möglichkeit haben, Beruf und Familie gut miteinander zu verbinden. Ich würde da auch nicht die großen Dinge machen, aber diese kleinen Veränderungen sind unheimlich wichtig. Das ist auch demokratiegemäß. Dafür plädiere ich. Ich bin nicht gegen Reformen. Ich habe nur etwas dagegen, dass man Reformen nach rückwärts macht, wie das heute geschieht, ins 19. Jahrhundert manchmal.

    Pfister: Ein Plädoyer also für kleine Veränderungen, die die Nachfrage stärken und ein Plädoyer für mehr Optimismus.

    Albrecht Müller war das. Er war Redenschreiber des "Superministers" Karl Schiller und leitete unter Willy Brandt und Helmut Schmidt die Planungsabteilung des Kanzleramtes. Er hat das Buch geschrieben: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. Es ist erschienen bei Droemer/Knaur in München, hat 240 Seiten und kostet 19,90 Euro.