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Das ruhige Land hinter der Front

"Hinterland" ist ein Episodenroman, der in sieben Geschichten aufgeteilt ist. Den rote Faden scheint die Geschichte von Ferda und Anneschka zu bilden, die sich lieben und doch wieder verlieren, die sich finden in sieben Städten: in Prag - denn Anneschka ist Pragerin -, in Budapest, in Krakau, in Istanbul und Ankara, in Berlin und auf der Insel Föhr - und die sich an all diesen Orten auch wieder verlieren.

Von Walter van Rossum | 09.02.2010
    Diese Inhaltsangabe klingt nach einer linearen Geschichte, der Geschichte zweier liebender Protagonisten, die die Wirren der Liebe und der Sehnsucht in sieben Städten durchleben. Die Geschichten um Ferda und Anneschka spielt zwar in jedem Kapitel eine Rolle, doch in Wahrheit sind auch die beiden nur Gäste dieses Romans, wiederkehrende Partikel in einem Kosmos aus vielen, ganz unterschiedlichen Menschen, denen wir meist nur flüchtig begegnen, ums sie dann wieder aus den Augen verlieren.

    Auch Ferda und Anneschka lernen wir nie kennen wie zum Beispiel einen Hans Castorp in Thomas Manns "Zauberberg". Den wahren Helden dieses Buches nennt der Titel: "Hinterland" – eine Lebenssphäre, ein existenzielles Milieu wie Feridun Zaimoglu erklärt:

    "Hinterland meint vor allem im Englischen, denn die Engländer haben das deutsche Wort übernommen, meint das ruhige Land hinter der Front. Also – das ist die große Illusion – dort leben die Zivilisten, dort gibt es nicht Krieg und Frieden, sondern nur Frieden, dort ist alles beruhigt. Und man könnte sagen: Hinterland ist in diesem Sinne jetzt nicht ein bestimmter Ort, sondern eine Landschaft. Diese sieben Geschichten als Kapitel eines Romans angelegt, verdichten sich zu einer einzigen Landschaft, nämlich zum Hinterland, zur Landschaft der Träume dieser sonderbaren Männer und Frauen. Man könnte auch sagen: Hinterland ist die Landschaft all der Empfindsamkeiten. Heute wird uns ja weiß gemacht, dass der Himmel leer ist und nicht bewohnt, dass alles um uns hohl ist, und dass wir uns angeblich an Straßenschildern orientieren sollen. Alles andere sei Blödsinn. Insofern ist das Hinterland als Chiffre zu verstehen, aber auch als Zeichen. Dieses Buch ist eine Fabel über die Sonderbaren, die Sonderlinge, die Empfindsamen."

    Und es ist ein sonderbares Buch, in dem so viel und auch nichts passiert, nichts jedenfalls, was sich einen Zusammenhang bildete. So spielt das zweite Kapitel in Berlin, und wir erleben wie Franz, ein Einbrecher, der gerade aus dem Knast entlassen wurde, durch die Stadt irrt und den Verräter sucht, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Doch diese Suche findet nichts, sie vermehrt die Rätsel. Und so möchte man den Roman als eine Exerzitie der Auflösung begreifen: Das Reale verliert seine Konturen und es stehen - manchmal gestochen scharf – Einzelheiten oder Episoden im schwebenden Erzählraum. Zeile für Zeile haben wir es dabei mit einer hinreißend magischen Prosa zu tun.
    Ismael dachte nach, und wie immer, wenn er glaubte, ein Rätsel lösen zu müssen, saß er im Schneidersitz auf dem Fußboden. Er dachte nach über das Theater der Verwesung, als das ihm dies Leben von seiner seligen Mutter erklärt wurde, harte Worte aus dem Munde einer Frau, der Zierlichkeit über alles ging, und der kummervolle Ismael Sobolewski stand wieder auf, schnürte sein Bündel, betrat den Ausstellungsraum für Engel und nachdenkliche Propheten mit Dornenkrone, er starrte kurz auf den stummen Diener, das war ein hagerer langbeiniger Apfelpflücker, einen Weidenkorb trug er am Rücken, der Heiligenschein bestand aus einem Drahtkranz, an dem glasperlegestickte Vögel hingen, er nahm sein Geld in Empfang, wünschte Cyprian viele freudebringende Geschäfte, versprach ihm auch für die Zukunft viele bunte keusche Flügelfrauen und verließ den Laden.

    Ich versuche gerade, mir vorzustellen, wie es Ihnen geht, wenn Sie solche Sätze im Radio hören, umstellt von der Ordnung des Realen, den alltäglichen Zweck-Mittel-Verweisen, dem Reich abschätzbarer Gründe, sei es, dass Sie gerade am Steuer eines Autos sitzen, das Bügeleisen schwingen oder einfach nur lauschen. Entweder solche Sätze irritieren einen bloß oder aber sie entfalten die Wirkung eines Sirenengesangs: Wir folgen einer betörenden Stimme. Unterwegs ins Hinterland. In ein Schattenreich schemenhafter Bedeutungen.

    "Ich bin ja Maler, ich bin ja Maler gewesen – noch der alten Schule verpflichtet, nämlich Öl auf Leinwand oder Acryl auf Hartfaserplatte und ich habe immer wieder gesagt, dass ich eigentlich Bilder in Worte übersetzen. Und ich hatte Lust darauf so ein Buch zu schreiben, weil ich eben das Dramatische, das Ereignisvolle, das was uns sozusagen passiert, daraus wollte ich mich zurückziehen und eigentlich übersetzen, alle diese Farben zu rühren und Gemälde zu malen. Gemälde von Männern und Frauen in den Momenten ihrer Entrückung, den Momenten ihrer Entzückung und in den Momenten, wo sie erschüttert sind. Es geht ja schließlich um die Frage, was bleibt von uns übrig, wenn die Hauptsache in unserem Leben verschwindet. Werden wir dann auch verschwinden oder wollen wir verschwinden? Verkümmern wir? Verelenden wir? Und was tritt in unser Leben ein? Man sieht eine Lücke, man sieht eine Kluft, man sieht einen Krater und so ist das Buch auch angelegt. Was passiert mit diesen Menschen? Sie verkümmern nicht, sie verelenden nicht. Sie sehen vielleicht viel mehr, da sie sensibilisiert sind - vielmehr als in den Zeiten, da sie sich glücklich wähnten."

    Ehrlich gesagt, wir werden nie erfahren, was mit diesen Menschen passiert. Wir begegnen ihnen und wir verlieren sie wieder aus den Augen. Sie fügen sich zu keinem Sinn und lassen uns stumm zurück. Wir sehen Entrückte in ihrer Trance, und uns bleibt nichts als die Aufforderung, in ihnen zu lesen. Doch wir können nichts entziffern. Ratlos folgen wir einer Skizze nach der anderen. Wenn man seinen Vergleich mit einem Gemälde aufgreift, dann hat Feridun Zaimoglu nicht ein Gemälde schreibend gemalt, sondern einen riesigen Zyklus mit den verschiedensten Skizzen aus dem Hinterland. Das Problem ist nur, man muss bereits im Hinterland umherwandern, man muss ein Eingeweihter sein, um der Mysterien des Hinterlands teilhaftig zu werden, wo Elfen und Wichte und Ritterähnliche und erwarten.

    "Ich habe immer gesagt, ich bin ein Geschichtenerzähler, ich habe immer gesagt, dass ich keine Lust darauf habe, eigentlich immer nur Depressionen und depressive Menschen ohne Hoffnung auf Sündenerlass – in Anführungszeichen – zu beschreiben oder zu skizzieren. Wenn ich dann ein Buch schreibe, in dem ich gewissermaßen einsame Menschen ihr gewohntes Milieu entdecken lasse, so war klar, dass ich einen Rückgriff auf die Figuren, die Sagengestalten der Vergangenheit wagen werde. Es ist von Wichtelmännchen die Rede, wenn man dann auch noch weiß, dass ich an die 180 Terracotta-Wichtelmännchen zu Hause stehen habe, so musste ich sie ja nur angucken und ich dachte: Ja, ich kann loslegen."

    Man möchte Feridun Zaimoglu, dem wunderbaren Schriftsteller, Wort für Wort glauben. Er mag den Schattenzeichen und Sirenenstimmen weit ins Hinterland gefolgt sein. Sein Reisebericht ist ein intimer und gelegentlich betörender Text geworden. Allein, der Leser bleibt auf der Schwelle zurück, vergeblich lauschend den dunklen Rufen und glänzenden Gesten und leckend die Wunden der Derealisierung.

    Feridun Zaimoglu: "Hinterland". Roman. Kiepenheuer & Witsch Verlag. 443 Seiten, 19,95 Euro