Donnerstag, 25. April 2024

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Das schnelle Orakel des Neptun

Ozeanologie. – Im pazifischen Ozean sind gewaltige Wellen, so genannte Tsunamis, durchaus keine Seltenheit. Zwar richten die meisten Tsunamis, die sich beim Erreichen der Küste zu haushohen Wellenbergen auftürmen können, keinen Schaden an, doch nicht immer bleiben bewohnte Küsten verschont. So kosteten die zerstörerischen Wassermassen seit 1990 in elf Fällen Tausende an Menschenleben und verursachten Schäden in Milliardenhöhe. Um die Bevölkerung rechtzeitig warnen zu können, richteten die Pazifik-Anrainer bereits auf Hawaii ein internationales Frühwarnzentrum ein. Um aber noch genauer arbeiten zu können, soll ein spezifisch funktionierendes System die bestehenden Zentren erweitern und noch in diesem Jahr seinen Betrieb aufnehmen.

05.08.2003
    Tsunamis entstehen immer dann, wenn am Meeresgrund große Erdverschiebungen eintreten und dabei große Fluten verdrängen. Daher alarmieren die Tsunami-Warnzentren die Anrainerstaaten immer dann, wenn sich unter dem Pazifik ein Erdbeben ereignet. Doch dabei kommt es naturgemäß auch zu Fehlalarmen, berichtet Vasily Titov vom Pacific Marine Environmental Laboratory in Seattle: "Die Zentren nutzen ein seismisches Netzwerk sowie eines zur Beobachtung von Meeresspiegelschwankungen und geben dann einen generellen Alarm für den gesamten Pazifik. Aber sie treffen keine Aussage zum Risiko und das ist das Problem." Die Forscher in den Tsunami-Alarmstationen prognostizieren bislang nicht, ob und wo die Riesenwelle gefährlich hoch sein wird. Somit sind die Warnungen in rund 75 Prozent der Fälle unbegründet und die Bevölkerung wird unnötigerweise verängstigt und evakuiert. Damit setzt überdies eine Gewöhnung der Gefährdeten ein, die bald überhaupt nicht mehr auf die Alarme reagieren. Also, so schließt Titov, müsse besser zwischen gefährdeten und sicheren Orten unterschieden und gewarnt werden.

    "Wir können heute bereits recht gut simulieren, wie sich Tsunamis entwickeln. Diese Modelle sind gut erprobt, doch werden sie von den Warnzentren nicht eingesetzt. Das wollen wir ändern", so der Ozeanologe. Kritischer Punkt dabei ist der Zeitfaktor, denn die mathematischen Modelle sagen zwar die Riesenwellenentwicklung über den gesamten Pazifik sehr genau vorher, doch dazu benötigen sie auch erhebliche Rechenzeit. "Diese Zeit ist der Knackpunkt, wenn ein Tsunami mit der Geschwindigkeit eines Passagierflugzeuges durch das Meer rauscht. Dann bleibt oft keine Zeit mehr für Warnungen." Derzeit benötigen Supercomputer rund eine Stunde allein für die mathematische Sisyphus-Aufgabe, die Ausbreitung des Tsunamis zu ermitteln. Doch bereits nach fünf Stunden erreichen die realen Wellen eines Bebens bei den Aleuten die Strände von Hawaii und dabei kann die Entfernung zwischen Epizentrum und Küstenregionen noch sehr viel kürzer sein. Mit Fleiß wollen die Ozeanologen das Dilemma beseitigen: "Wir wollen alle Tsunami-Szenarien für alle möglichen Beben vorausberechnen und in einer Datenbank festhalten. Damit sparen wir dann Zeit für die Berechnung der aktuellen Wellenhöhen." Die nötige Flexibilität, um die Informationen der Datenbank einem realen Beben anzupassen, wollen Vasily Titov und seine Kollegen dadurch erreichen, dass die Datenbank in einzelne Bausteine gegliedert wird, die dann im Bedarfsfall kombiniert und modifiziert werden können.

    Weil die Tsunami-Ausbreitung im offenen Meer simpel verläuft, ist das Baukastenmodell für diesen Teil problemlos. Nach einem Beben sucht der Rechner die passenden Szenarien aus der Datenbank und beginnt mit der Katastrophenmodellierung für die wahrscheinlichen Zielorte. Dabei betrachtet das Programm nur die Küsten und verringert so Datenvolumen und Rechenzeit. "Die Küstenform und das Relief des Meeresbodens in Küstennähe sind die wichtigsten Faktoren, weil ein Tsunami sich entsprechend der Meerestiefe entwickelt. Diese Parameter bestimmen auch darüber, wie sich eine Riesenwelle in einer bestimmten Region auswirkt", so Titov. Dass die Methode hinreichend funktioniert, zeigen Simulationen von etwa jener Riesenwelle, die vor zehn Jahren Hokkaido traf – die Übereinstimmung von Berechnung und tatsächlichem Ablauf waren verblüffend. Um die Reaktionszeit noch weiter zu verbessern, versenkte das Pacific Marine Environmental Laboratory neue Tiefseemessbojen an einschlägigen Störungszonen, die für zukünftige Beben prädestiniert sind. Diese abgelegenen Fühler registrieren jede verdächtige Wellenbewegung unter Wasser und geben sie an die Tsunami-Alarmzentren weiter, die dann die Elektronenhirne in Bewegung setzen können.

    [Quelle: Dagmar Röhrlich]