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Das schwere Los der Russlanddeutschen

Als das Imperium UdSSR zerfiel, da machten sich hunderttausende auf den Weg nach Westen, den Weg nach Deutschland - in das Land ihrer Vorfahren. Doch nicht wenige sind bis heute nicht angekommen in der neuen - alten - Heimat. "Zuhause fremd. Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland," so der viel versprechende Titel einer Neuerscheinung.

Von Ulla Lachauer | 20.11.2006
    Mitten im Trubel der großen Wende in Europa, um das Jahr 1989 herum, tauchten sie plötzlich auf: die Frauen mit Rosenkopftüchern und grell geschminkte junge Mädchen, Männer mit verarbeiteten Händen, Gesichter, vom asiatischen Steppenwind gegerbt. 100.000 im Jahr, dann 200.000, niemand war darauf vorbereitet. Während die aus Moskau kommenden Flugzeuge über Frankfurt kreisten, wurden in Turnhallen, Kasernen, Lagerräumen in Windeseile neue Massenunterkünfte eingerichtet. "Das sind Deutsche" hieß es, sie kehren in ihre "Urheimat" zurück. Die deutschen Gesetze waren auf ihrer Seite und die Deutschen, euphorisch wie sie damals waren, überwiegend auch. Doch keiner wusste Genaueres über sie, kein Politiker, kein Bürger, kein Wissenschaftler - allgemeine Hilflosigkeit, eine Riesenherausforderung und kaum Zeit zum Denken; schließlich das große Erwachen: Die sind ja ganz anders! Was sollen wir mit diesen Fremdlingen? - Inzwischen sind es etwa drei Millionen.

    "Zuhause fremd. Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland", herausgegeben von Sabine Ipsen-Peitzmeier und Markus Kaiser, ist eine Art Zwischenbilanz. Ein Tagungsband, der den schwierigen Erkenntnisprozess unserer Gesellschaft widerspiegelt, diesen zugleich vorantreiben will. 17 Soziologen und Volkskundler stellen darin ihre Forschungsergebnisse vor, darunter einige russische. Das Projekt wird von den Universitäten Bielefeld und St. Petersburg gemeinsam getragen.

    Russlanddeutsche stehen zwischen zwei Welten, identifizieren sich aber mit keiner von ihnen in vollem Umfang. Ihre Identität wird durch das Negativpronomen 'kein' bestimmt: Sie waren 'keine Russen' in Russland, und sie sind jetzt 'keine Deutschen' in Deutschland.

    schreibt Maria Savoskul von der Universität Moskau. Und fasst damit zusammen, was auch in der deutschen Öffentlichkeit heute weitgehend Konsens ist. In Perspektive und Vokabular des Bandes zeigt sich der Paradigmenwechsel der letzten Jahre: Weg von einer historisch spezifischen deutschen Frage zur internationalen Migrationssoziologie. Russlanddeutsche werden als Migranten gesehen, mit Migranten typischen Schwierigkeiten: Sprache, Kultur, Religion, mangelnde Demokratieerfahrung etc. Man sollte die Zuwanderer aus der Sowjetunion weniger als Deutsche, denn als "Hybriden" betrachten, so Ulrich Reitemeier, Universität Bielefeld.

    Deutscher zu sein, konnte im Herkunftsland ein kollektives Merkmal sein, das neben anderen Gültigkeit besaß. Angesichts der Tatsache, dass das Leben in einer Gesellschaftsordnung mit vielzähligen ethnischen Gruppierungen und einer überformenden Zugehörigkeitskonzeption zum sowjetischen Staatsvolk die Herausbildung hybrider Identitätsorientierungen begünstigt bzw. abverlangt hat, lässt sich bei den Aussiedlern auch von mitgebrachter Hybridität sprechen.

    "Hybride" - in der Pflanzenzucht versteht man darunter ein Lebewesen, das durch Kreuzung von Eltern verschiedener Zuchtlinien, Rassen oder Arten hervorgegangen ist. Im Zeitalter der Globalisierung ist der Begriff in die Soziologie eingewandert. Zu deutsch würde man sagen: "Mischling", "Bastard". Oder etwas liebenswürdiger: "bunter Hund". Heutzutage steigt die Zahl der "Hybriden", weil der Mensch immer seltener sesshaft ist, auf seiner Lebensreise durchquert er Regionen, Länder, sogar Kontinente. Russlanddeutsche, so Markus Kaiser, sind Teil eines allgemeinen Trends: zur "Etablierung eines transnationalen Raumes".

    Transmigranten bewegen sich sowohl zwischen zwei begrenzten und voneinander getrennten Welten als auch in einem translokalen Raum. Sie selbst und ihre Wertvorstellungen und ihre Kultur sind nicht mehr ausschließlich an nur einen geografischen Ort gebunden, ihre Vergesellschaftung vollzieht sich im transnationalen oder globalen Rahmen neu.

    Russlanddeutsche als Prototypen einer neuen Spezies? Diese Sicht hat ihre Vorzüge. Ist Argumentationshilfe für eine Integrationspolitik, die zur Zweisprachigkeit ermuntert, aus dem Dilemma wird so eine Stärke. Russlanddeutsche könnten "Vermittler im interkulturellen Dialog" sein, wie Olga Kourilo in ihrem Beitrag darlegt. Mit der Neuverortung des Themas allein kommt man den Russlanddeutschen jedoch nicht näher, neue Thesen bringen die empirische Forschung nicht immer glücklich voran.

    Migranten sind im Zuzugsland vielfältigen Verunsicherungen ausgesetzt. Die Akkulturation führt zu starkem Lern- und Anpassungsdruck. ... In ethnischen Siedlungskonzentrationen können Entfremdungs- und Minderwertigkeitsgefühle aufgefangen werden. Als 'Dekompressionskammern' oder 'Pufferzonen' wird in ihnen eine allmähliche Anpassung ermöglicht.

    Wissenschaftssprache. Der Vortragstil der Tagung wurde beibehalten, heißt es in einer Fußnote. Irgendwann machen Aufsätze, die nur wissenschaftsintern kommunizieren, auch die neugierigste Leserin müde. Das größte Manko des Bandes ist allerdings ein Inhaltliches: Dieser Soziologie fehlt der historische Horizont.
    Warum blendet ein Großteil der sozialwissenschaftlichen Debatten über die Russlanddeutschen den Lebenszusammenhang ihrer Herkunft einfach aus?

    Fragt Herausgeber Markus Kaiser. Doch er selbst tut es, alle tun es mehr oder weniger. Sie offenbaren das - in Deutschland wie Russland - fortdauernde Defizit in Sachen russischer und sowjetischer Geschichte. Nicht ein historisches Standardwerk wird in dem Band zitiert, keine der Literaturlisten nennt das Buch von Gerd Stricker über Deutsche in Russland.

    Man kann das religiöse Leben einer russlanddeutschen Mennonitengemeinde nicht begreifen, geschweige denn würdigen, ohne sich mit den Untergrundkirchen der Sowjetzeit zu beschäftigen? Der Befund aus Berlin, wie verschieden dort lebende russische Deutsche und russische Juden sind und warum sie so schlecht übereinander reden, schreit nach einem historischen Exkurs. Eine Formulierung wie "die kasachische Stadt Karaganda" verrät, dass diese, einer der wichtigsten Herkunftsorte, für den Soziologen ein weißer Fleck ist. Geografisch liegt Karaganda in Kasachstan, besiedelt wurde es hauptsächlich von Europäern. Sie wurden dorthin verschleppt, eine von Stalins gewaltsamen Stadtgründungen - ohne dies und die Vorgeschichte der tüchtigen Siedler an der Wolga, in der Ukraine, den historischen Kontext überhaupt bleibt das Sprechen über unsere russlanddeutschen Landsleute an der Oberfläche.

    Sabine Ipsen-Peitzmeier/ Markus Kaiser (Hrsg.): Zuhause fremd. Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland
    transcript, Bielefeld 2006
    430 S., Euro 27,80
    ISBN 3-89942-308-9